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Barcelonas Ousmane Dembelé: Der Unkalkulierbare

kicker & DAZN - die Story

Der Unkalkulierbare

Immer für eine Überraschung gut: Ousmane Dembelé.

Immer für eine Überraschung gut: Ousmane Dembelé. imago images

Es ist schon ein paar Jahre her, dass Andres Iniesta mal auf die Wankelmütigkeit von Ousmane Dembelé angesprochen wurde. Im Barça-Premierenjahr des Franzosen waren die beiden Teamkollegen, ehe Iniesta nach Japan weiterzog. Iniesta, der stets zurückhaltende Charakter, findet für sein Wesen eher untypische, ja sogar martialische Worte: "Man sollte Dembelé nur dann töten, wenn keine Arznei mehr hilft", sagt er.

Totgesagt wurde Dembelé schon einige Male beim FC Barcelona. Über Rennes streikt er sich 2016 erst zu Dortmund, ein Jahr später dann zu den Katalanen. 20 Jahre alt, 105 Millionen Euro schwer, einen Fünfjahresvertrag in der Tasche und scheinbar bereit, Barcelona als Neymar-Nachfolger mit seinen unberechenbaren Haken zu verzücken.

Doch es sollte sich erst noch herausstellen, wie häufig Dembelé tatsächlich Ärzte und Arzneien braucht - selbst wenn es gar nicht nötig ist.

Bei fünf langwierigen Oberschenkelverletzungen und drei Muskelbündelrissen in seiner Zeit bei Barça hätte eigentlich Mitleid dem Verdruss weichen müssen. Die Anteilnahme hielt sich allerdings in Grenzen: Längst hatten Berichte über durchzechte Nächte, schlechte Ernährung, exzessives Zocken auf der Playstation und Disziplinlosigkeiten wie Trainingsverspätungen die Runde gemacht. Einem Kumpel soll Dembelé monatlich 15.000 Euro für dessen Gesellschaft beim Konsolen-Zocken gezahlt haben. Als er einmal unentschuldigt beim Training fehlt, gibt er als Grund Magenschmerzen an, Barça schickt einen Arzt zu ihm nach Hause. Doch der entdeckt statt einer Gastroenteritis nur Gäste, die bei heruntergelassenen Jalousien in der Casa Dembelé dösen.

Piqués Empfehlung: Nicht erwischen lassen

champions League, 5. Spieltag

Kein Wunder, dass Klub und Mitspieler allmählich die Geduld verlieren. 200.000 Euro Geldstrafe und viele mahnende Worte ändern aber zunächst herzlich wenig. "Dembelé muss endlich professioneller leben", fordert ein entnervter Luis Suarez. Gerard Piqué versucht es mit einem Schuss Humor. "Wir alle waren einmal jung und haben Fehler gemacht. Manchmal geht es nicht nur darum, seriös zu leben - sondern darum, so zu tun als ob."

2018 steht die WM in Russland vor der Tür. Didier Deschamps nimmt ihn mit und macht Dembelé damit zum Weltmeister, doch auch dem Frankreich-Coach geht das Savoir-vivre und Laissez-faire Dembelés auf den Senkel: "Seine Ausreden, wenn er zu spät kommt, sind mir schon bekannt. Zu seiner Verteidigung wird er sagen: 'Ich bin nicht der Einzige.'" 

Dembelés Bequemlichkeit spiegelt sich auch in der Sprachbarriere wider. Als er im Oktober 2019 wegen Schiedsrichterbeleidigung vom Platz fliegt, sagt Lionel Messi zum Unparteiischen: "Der kann doch gar kein Spanisch sprechen!" "Sehr lang kann der Satz nicht gewesen sein", spottet auch der damalige Trainer Ernesto Valverde. Für "Du bist sehr schlecht" reichten dann aber auch Dembelés Sprachkenntnisse offenbar noch.

Ousmane Dembelé und Lionel Messi

Mit den Nerven am Ende: Ousmane Dembelé mit Lionel Messi nach seiner Verletzung gegen Dortmund. imago images/Kirchner-Media

Einen Monat später, beim Champions-League-Spiel gegen Ex-Klub Dortmund (3:1), sitzt Dembelé in der 26. Minute auf dem Rasen des Camp Nou, hat seine Schuhe ausgezogen und kämpft mit den Tränen. Wieder eine schwere Verletzung, Mitspieler, ja selbst BVB-Profis trösten ihn noch auf dem Platz. Der Tiefpunkt, er ist so ziemlich erreicht. 

Doch Barcelona behält Dembelé. Weil er sich trotz aller Eskapaden innerhalb der Mannschaft durchaus großer Beliebtheit erfreut. Weil seine Klasse unbestritten ist. Und weil er sich ändert.

Extraeinheiten für den "häuslichen Jungen"

Viele trauen ihren Augen kaum, als der Franzose im April 2021 sogar an freien Tagen am Trainingszentrum gesichtet wird. Plötzlich ist da von einem eigenen Fitnesscoach, einem persönlichen Physiotherapeuten und einem privaten Ernährungsberater die Rede, der "L'Equipe" erzählt: "Er ist ein sehr häuslicher und ruhiger Junge, zu Hause gibt es nie irgendwelche Partys." Endlich wird Dembelé auf statt neben dem Platz unberechenbar.

Denn das ist Dembelé häufig genug, im positiven Sinne. Das Wort Uhrzeigersinn hat für ihn auf dem Rasen eigentlich keine Bedeutung. Er dreht und wendet sich in alle Richtungen, kann sowohl auf dem linken als auch auf dem rechten Flügel eingesetzt werden. Die Frage nach seinem stärkeren Fuß kann er selbst nicht beantworten, kein anderer Spieler in der Fußballwelt glänzt mit einer derart beeindruckenden Beidfüßigkeit. An guten Tagen lädt er seine Gegenspieler bei Dribblings zu einer Art Shuffle-Dance-Workshop mit gratis Zickzackkurs in alle verfügbaren Himmelsrichtungen ein. "Mir kommen die Tränen, wenn ich sehe, was der alles am Ball kann", sagte mal sein ehemaliger Barça-Coach Quique Setien über ihn.

Dembelés Titel im Überblick

  • DFB-Pokalsieger 2017 mit Borussia Dortmund
  • Spanischer Meister 2018 und 2019 mit dem FC Barcelona
  • Spanischer Pokalsieger 2018 und 2021 mit dem FC Barcelona
  • Weltmeister 2018 mit Frankreich

Doch erst unter Ronald Koeman wird Dembelé endlich eine feste Größe, auch Nachfolger Xavi baut auf ihn. Mitte September 2021 heißt es, Dembelé werde seinen Vertrag zeitnah verlängern. In Barcelona reibt man sich allmählich die Hände. Würde sich die Investition doch noch auszahlen? Würde endlich Ruhe einkehren in der Personalie?

Ganz und gar nicht.

Denn Dembelé lässt den Klub zappeln, ist offenbar nicht zu Gehaltskürzungen wegen der Corona-Krise bereit. Noch schlimmer aber für das klamme Barcelona: Dembelé will im Januar 2022 - für die Katalanen die letzte Hoffnung auf eine Millionenablöse - auch nicht gehen. "Ich bin sehr überrascht, dass er einen Vorschlag von einem englischen Verein nicht angenommen hat. Er wollte nicht", erklärt Präsident Joan Laporta nach dem geplatzten Deal mit Chelsea. "Dembelé bleibt zum Leidwesen des Vorstands, der Führungskräfte und von Xavi bei Barcelona", schreibt die "Marca".

Dembelé äußert sich daraufhin in einem längeren Statement. Die letzten vier Jahre habe er Gerüchte über sich ergehen und andere Menschen für sich sprechen lassen, damit sei nun Schluss. "Ab dem heutigen Tag werde ich mit der Wahrheit antworten, ohne irgendeiner Art von Erpressung nachzugeben", so der sonst sehr zurückhaltende Ex-Dortmunder.

Raus aus dem Kader, rein in den Kader

Von Xavi wird er im Januar 2022 zunächst aus dem Kader gestrichen, kurz nach Schließung des Transferfensters jedoch rehabilitiert. Man wolle sich ja "nicht in den eigenen Fuß schießen", erklärt der Coach die 180-Grad-Wende. Der Flügelflitzer präsentiert sich daraufhin wieder von seiner besten Seite und gewinnt auch die Herzen der Fans, die ihn zwischenzeitlich auspfiffen, zurück. Ein Abschied mit Anstand steht also bevor, und Dembelé die Fußballwelt im Sommer offen. Doch wie war das nochmal mit der Unkalkulierbarkeit?

Im Juli unterschreibt Dembelé jedenfalls bei Barcelona. Schon wieder. Diesmal für zwei Jahre, dem Vernehmen nach zu den ursprünglich angebotenen Vertragsverlängerungs-Konditionen. Dembelé habe sich an das Gehaltsbudget angepasst, erklärt Laporta und spricht von einem "großen Tag für Barça", das hochverschuldet Spieler um Spieler verpflichtet.

Dembelé hat auch einige Schwächen

Wozu Dembelé in der Lage ist, hat man erst am Sonntag gesehen. Ein Tor und drei Vorlagen beim 4:0 gegen Athletic Bilbao, die Basken nahm er quasi im Alleingang auseinander. Kommt der Franzose ins Rollen, ist er kaum zu stoppen. Doch es gibt eben auch die andere Seite Dembelés. Nimmt man ihm die Lust, gibt er schnell auf.

Auch deswegen hat er den erhofften Nachweis von Konstanz trotz längerer Verletzungsfreiheit nie erbracht. Die Einstellung ist nicht seine einzige Schwäche: Auf dem Platz gilt er als zu egoistisch, ist defensiv kein Überflieger und auch kein Kopfballmonster. Wie beim "neuen" Barcelona generell läuft es auch für Dembelé gegen namhafte Gegner meist durchwachsen bis gar nicht, siehe der jüngste Clasico im Bernabeu. Beim 0:2 in München in der Champions League kassierte er die kicker-Note 4,5, kein Barça-Feldspieler wurde schlechter bewertet. An diesem Mittwoch (21 Uhr, LIVE! bei kicker) statten die Bayern nun den Katalanen einen Besuch ab. Ob Dembelé dann in der Startelf steht, ist offen.

"Er kann auf seiner Position der beste Spieler der Welt sein", sagte Xavi mal über seinen ja immer noch erst 25 Jahre alten Schützling. Aber wird er es auch? Es ist wahrlich nicht leicht, Prognosen über einen Unkalkulierbaren abzugeben.

Christoph Laskowski