Bundesliga

Streichs stilvoller Wunsch-Abschied - und die große Lücke

Würdigung

Streichs stilvoller Wunsch-Abschied - und die große Lücke

Freiburgs Christian Streich wird der Bundesliga fehlen - als Trainer und als Persönlichkeit.

Freiburgs Christian Streich wird der Bundesliga fehlen - als Trainer und als Persönlichkeit. IMAGO/Steinsiek.ch

Vor knapp acht Jahren sieht die Lage noch ganz anders aus. Streich ist zwar schon damals, nach viereinhalb Jahren Amtszeit, ein unverwechselbares Original im deutschen Profifußball. Dieser vor seiner Beförderung zum Chefcoach weitgehend unbekannte Fußballlehrer ist anders, das wird direkt klar. Im alemannischen Dialekt erhebt er von Anfang an fundiert und streitbar auch zu gesellschaftspolitischen Themen seine Stimme und fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit im sonst oft mit Statussymbolen überladenen Profizirkus. Streich setzt allerdings auch sportlich auf Anhieb Duftmarken.

Ein Auf und Ab und die beeindruckende Antwort auf den Abstieg

In aussichtslos erscheinender Lage - mit nur 13 Zählern steht der SC auf Platz 18 - übernimmt der langjährige A-Jugendtrainer in der Winterpause 2011/12 die Verantwortung für die Profis seines Herzensklubs. Durch umfangreiche Korrekturmaßnahmen und eine beeindruckende Rückrundenausbeute von 27 Punkten führt Streich den SC zum in dieser Form sensationellen Ligaverbleib - und startet in der folgenden Saison auf Platz fünf durch.

Die Teilnahme an der Europa League, kombiniert mit dem Abschied mehrerer Leistungsträger, kostet den SC jedoch gehörig Substanz und Streich viel Kraft und Nerven. 2014 vermeiden Streich und Freiburg den damals stets eingeplanten Abstieg noch knapp, stürzen dann aber ein Jahr später in einem dramatischen Schlussakt ins Unterhaus.

Christian Streich

Das Ende einer Ära: Streichs emotionale Abschiedsworte im Video

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Bemerkenswert, wie der Trainer trotz dieses Misserfolgs in keiner Weise zur Debatte steht und auch selbst trotz großer Enttäuschung den Schaden direkt wieder reparieren möchte. Das gelingt, erneut auf eindrucksvolle Weise. Freiburg klettert als Meister auf Anhieb wieder in die Bundesliga - vor dem finanziell wuchtig ausgestatteten Emporkömmling RB Leipzig.

Streichs Wunsch von 2016

Dennoch: Formell ist Streich im Mai 2016 noch ein Zweitligatrainer, als er im kicker-Interview über seinen Wunsch-Abschied philosophiert. "Ich lebe hier, es ist meine Heimat geworden. Daher würde ich mir wünschen, dass ich irgendwann Danke sagen kann und die anderen auch sagen: Wir fanden es nicht so schlecht. Wenn man diesen Moment finden könnte, wäre es ein Traum. Fast genauso ein großer wie der Aufstieg jetzt. Das wäre auch toll für den Klub, eine Bewahrung von Kultur und Identität."

Warum der Abschiedsmoment passend ist

Einen solchen Moment haben Streich und der SC jetzt, Mitte März 2024, gefunden. Warum jetzt, fragen sich manche. Sportlich sind tatsächlich keine Gründe für ein Ende dieser Ära und auch keine Abnutzungserscheinungen im Wirken des Trainers erkennbar, der sich stets als Teil eines eingespielten Stabs versteht. Mit seinen Assistenten sowie den Sportchefs Jochen Saier und Klemens Hartenbach hat Streich den SC vom natürlichen Abstiegskandidaten zum etablierten Mitglied der oberen Bundesliga-Hälfte entwickelt. Gerade auch deshalb ist der Moment passend.

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Streich wird zwar vermutlich nicht auf dem für Abschiede oft als ideal angesehenen Höhepunkt abtreten. Aber kurz danach, und er wird ein bestelltes Feld hinterlassen. Im Vergleich zu den beiden Top-Saisons 2021/22 (Liga-Sechster, Pokalfinale) und 2022/23 (Fünfter, Pokal-Halbfinale und Europa-League-Achtelfinale) wird der SC diese Saison höchstwahrscheinlich schlechter abschneiden.

Doch Streich und Co. können, am ehesten über das mögliche Ticket für den Siebten, den Europacup-Hattrick noch schaffen und haben sich erneut in die Top-16-Runde der Europa League vorgearbeitet. Vor allem mit Blick auf die größeren Verletzungsprobleme in dieser Saison ist das ein riesiger Erfolg. Viel wichtiger aber ist: Der Kader mit einem weiterhin eingespielten, erfahrenen Gerüst sowie mehreren Talenten mit erheblichen Spielanteilen und großem Entwicklungspotenzial besitzt eine aussichtsreiche Perspektive.

Streich kam dem Aufhören schon öfter nah

Streichs Abschied überrascht ohnehin nur auf den ersten Blick. In den vergangenen Jahren hat er immer wieder auch öffentlich die für ihn entscheidende Frage thematisiert: Hat er noch genügend Energie für seinen intensiven Traumjob? Es gab seit Amtsbeginn schon mehrere Momente, in denen der 58-Jährige den Grenzen seiner Kraft nahegekommen war oder sie gar kurzzeitig überschritten hatte, ans Aufhören dachte.

Besonders der bis 2019 regelmäßig bis zum Saisonende zugespitzte Abstiegskampf zehrte an Streichs Nerven und Energiereserven. Ein Ende seiner Amtszeit war für die SC-Entscheider um Sportvorstand Saier intern schon oft ein realistisches Szenario, auf das sie sich seit Jahren mit parallelem Trainer-Scouting - über das Streich explizit Bescheid wusste - professionell vorbereitet haben.

Keine Koketterie, keine Show, sondern Garant für Kontinuität

Die jährlichen Zukunftsgespräche zuletzt mit Saier und Co., die bisher jeweils zu einer Vertragsverlängerung von Streich geführt hatten, waren weder Koketterie noch Show. Vielmehr hat sich diese kurzfristige (Selbst-) Überprüfung als Garant für die beeindruckende Kontinuität erwiesen. Eine mehrjährige Bindung an seinen Herzensverein, für den er auch ohne Vertragspapier eine äußerst hohe Verantwortung durch sein Amt spürt, hätte Streich als Last empfunden.

"Spielsch'! Übsch'!" Christian Streich in 25 Sprüchen

Der im Dreiländereck mit der Schweiz und Frankreich rund um die eigene Familienmetzgerei aufgewachsene Streich brauchte diese Art von Freiheit für seine bestmögliche Leistung - und nutzte sie jetzt, um stilvoll und selbstbestimmt seinen Abschied zum Saisonende anzukündigen.

Welche Lücke Streich hinterlässt - beim SC und in der Liga

Dieser charismatische Erfolgstrainer wird eine große Lücke hinterlassen - natürlich auch als Mensch. Vor allem beim SC Freiburg, den er wie kein anderer nach außen als Gesicht des Vereins vertritt. Wo er den Alltag nicht als Arbeit, sondern als konstruktives, respektvolles Zusammenleben begreift, mit allen Höhen und Tiefen, die das Leben eben mit sich bringt. Und dem Wirbel, den er intern immer mal wieder durch seine emotional-impulsive Art entfacht. Wo er trotz seines ausgeprägten Mitteilungsbedürfnisses anderen zuhören kann, deren Meinungen und Expertisen schätzt, um seine Defizite weiß und sich an entsprechenden Stellen zurücknimmt. Wo er gemeinsam mit seinem Trainerstab für fachlich hochwertige Spielerentwicklung und empathische Menschenführung steht. Und wo er stets öffentlich für die dafür notwendige Ruhe in und rund um seinen Verein kämpft.

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Ohne Streich, den Trainer des Jahres 2022 und Träger vieler weiterer Auszeichnungen, wird auch in der Bundesliga eine Lücke entstehen. Seine Pressekonferenzen werden fehlen, in denen er auf fast jede, manchmal auch noch so blöde Frage, eine Antwort gibt. Meist ausführlich, tiefgründig und fundiert, mal emotional, mal nachdenklich, mal anekdotenreich, mal überraschend, oft bereichernd und unterhaltsam. Auch wenn er mal aneckt, genießt der SC-Coach bundesweite Sympathien.

Streich spricht gerne in allen Facetten über seine große Passion, den Fußball. Aber eben auch über andere Themen, die er als wichtig erachtet. Ungefragt verteidigte er immer mal wieder Trainerkollegen gegen öffentlich Kritik oder prangerte Fehlentwicklungen im globalen Fußballgeschäft an. Genauso wie Missstände in der Gesellschaft. "Wir müssen den Hetzern rigoros die Stirn bieten", bezog Streich etwa Ende 2023 im kicker-Doppelinterview mit Frank Schmidt klar Stellung gegen den gegenwärtigen Rechtsruck in Deutschland und der Welt.

"Das Gewissen der Bundesliga" hatte manchmal selbst ein schlechtes Gewissen

Der heutige Mainzer Sportdirektor und frühere Cheftrainer Martin Schmidt nannte Streich einmal "das Gewissen der Bundesliga". Manchmal hatte dieses Gewissen auch selbst ein schlechtes Gewissen. Weil natürlich auch Streich Fehler machte. Auch wenn er über die Jahre deutlich ruhiger geworden ist, war er im Coaching an der Seitenlinie immer mal wieder kein Vorbild, polarisierte, wenn die Emotionen mit ihm durchgingen. Wenn er etwa wegen eines aus seiner Sicht falschen Einwurfs in Richtung der Schiedsrichter tobte, wenn er die gegnerische Bank mit wutverzerrtem Gesicht anpöbelte. Allgemein, wenn er aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit heraus mit seinem Verhalten übers Ziel hinausschoss.

Streich hinter Werder-Duo: Trainer mit den meisten Spielen für einen Klub

Einige Zeit vor dem Anpfiff eines Wettkampfspiels bis einige Minuten nach Abpfiff ist Streich gleichsam wesensverändert. Bald danach ist er aber wieder einigermaßen in der Balance und bereit, andere Perspektiven zu hören, seine Urteile zu verändern, eigene Fehler einzuräumen und sich entschuldigen zu können. Das wiederum ist eine von mehreren großen Stärken dieses Mannes, der in einem speziellen Moment instinktsicher auf sein gutes Recht auf Empörung verzichtete.

Der Umgang mit dem Abraham-Rempler zeigt Streichs Instinkt

Als ihn Frankfurts Profi David Abraham im November 2019 an der Seitenlinie zu Boden rempelte, blieb Streich in dieser brenzligen Situation mit großer Rudelbildung ruhig und besonnen. Streng genommen relativierte er Abrahams inakzeptablen Übergriff auf einen gegnerischen Trainer in der Pressekonferenz sogar zu sehr. Damit trug er aber wesentlich zur schnellen Befriedung der Lage bei, die sich auch zu einem größeren Konflikt zwischen den Klubs oder gar der Fanlager hätte ausweiten können.

Als Abraham Streich in der Coaching-Zone umcheckte

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Zu Abrahams Karriereende schickte Streich eine nette, kurze Videobotschaft. Jetzt wandte sich Streich, nachdem er erst kürzlich diesen Kommunikationsweg bei Jürgen Klopps Abschiedsbotschaft gelobt hatte, auch selbst per Video an die Öffentlichkeit und vor allem die SC-Gemeinschaft. Auch wenn der 58-Jährige mit voller Energie in seinen acht abschließenden Bundesligaspielen noch versuchen wird, das Maximale zu erreichen, hat er sich bereits jetzt seinen Wunsch vom Mai 2016 erfüllt.

Erstes Ausprobieren seit 1995

Ab Sommer hat er dann mehr Zeit für Familie, Freunde, Kunst, Kultur und Reisen. All das, was ihm bisher gefehlt hat. Wie sehr ihm dann der Fußball fehlen wird und ob er tatsächlich, wie erhofft, eine Betätigung außerhalb seiner großen Passion findet, die ihn "glücklich macht", kann er erstmals seit 1995 ausprobieren. Damals hatte der gelernte Industriekaufmann und Absolvent eines Lehramtsstudiums der Fächer Germanistik, Sport und Geschichte seine Trainerkarriere im SC-Nachwuchs gestartet. Eine außergewöhnliche, erfolgreiche Laufbahn, die am 18. Mai 2024 endet. Zumindest vorerst.