Bundesliga

Schmidt und Streich im Interview: "Wir müssen den Hetzern rigoros die Stirn bieten"

Über ihre Gegenwart und Zukunft, die DFB-Elf und das gesellschaftliche Klima

Schmidt und Streich im Interview: "Wir müssen den Hetzern rigoros die Stirn bieten"

Beim kicker im Doppelinterview: Heidenheim-Trainer Frank Schmidt (li.) und Freiburg-Coach Christian Streich (re.).

Beim kicker im Doppelinterview: Heidenheim-Trainer Frank Schmidt (li.) und Freiburg-Coach Christian Streich (re.). imago images (2)

Leben ist das, was passiert, wenn du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen. Von John Lennon stammt dieser Satz, Frank Schmidt und Christian Streich können ein Lied davon singen. Kaum waren der Ort und das Datum für das Interview vereinbart, musste der Termin gekippt werden - aus gutem Grund: Der Trainer des SC Freiburg durfte überraschend nach Berlin reisen, um den Julius-Hirsch-Preis in Empfang zu nehmen. Die Verabredung mit dem kicker fand daher digital statt.

Herr Streich, was haben Sie gedacht, als Frank Schmidt Mitte September den 16-jährigen Amtszeit-Rekord im Profifußball von Volker Finke aus dem Jahr 2007 geknackt hat?

Christian Streich (lacht): Wir kümmern uns ja meistens um andere Sachen als Rekorde oder irgendwelche Daten. Ich habe gedacht: Super, er löst den Volker ab, und das ist kein Wunder. Ich weiß ja, wie lange Frank in Heidenheim Trainer ist, und ich kenne die Geschichte von außen. Wer soll es sonst sein, außer er? Es bringt es halt mit sich, wenn du so viele Jahre so kontinuierlich in einem Verein gearbeitet hast und mit deinen Kollegen so erfolgreich warst. Und der, den der Frank abgelöst hat, ist einer aus Freiburg. Das ist auch kein Zufall.

Erkennen Sie beide eine Verwandtschaft zwischen den Vereinen oder eine Art Seelenverwandtschaft als Trainertypen?

Frank Schmidt: Für uns in Heidenheim ist der SC Freiburg schon immer Vorbild gewesen - wegen der handelnden Personen. Die 16 Jahre sind eigentlich völlig uninteressant, wobei ich mich doch darüber freue, weil wir so lange mit dem gleichen Team zusammenarbeiten. Unser Vorstandsvorsitzender Holger Sanwald hat mir immer gesagt, schau nach Freiburg, wie sie es machen mit der Fußballschule, wie sie Spieler ausbilden, wie die Trainer zusammenarbeiten, mit Klemens Hartenbach als Sportdirektor und Jochen Saier als Sportvorstand. Für uns ist Freiburg auch immer noch ein Vorbild, weil sie uns natürlich viele Jahre voraus sind. Ich habe in der Oberliga angefangen, das war auch nicht einfach, aber anders. Christian macht es bis auf ein Jahr in der 2. Liga, das auch sehr anstrengend war, immer in der Bundesliga. Das aus der Ferne zu sehen ist unglaublich. Ich habe nun ein bisschen einen Einblick, wie unheimlich viel Energie das kostet. Dann noch über viele Jahre erfolgreich zu sein, das macht Christian, den ich erfreulicherweise bei mehreren Trainerfortbildungen besser kennenlernen durfte, und den SC so speziell.

Wie hört sich das an, Herr Streich?

Streich: Wenn der Frank das sagt, dann ist es so. Da braucht man nicht zu zweifeln, das ist angenehm. Es gibt gar nicht mehr allzu viele Gesprächspartner, die genau das meinen, was sie sagen. In Heidenheim waren sie über Jahre immer oben dran in der 2. Liga. Ich war überzeugt, dass sie es irgendwann schaffen. Das habe ich ihm vor gar nicht allzu langer Zeit auch mal gesagt: wegen ihrer Kontinuität und der Qualität, die sie erzeugen. Ich habe pro Saison fünf, sechs Zweitligaspiele von Heidenheim über 90 Minuten gesehen, ohne Ablenkung, weil ich sehen wollte, wie sie spielen und wie sie es machen. Es ist beeindruckend, wie sie kicken, wie sie Tore schießen und Rückstände drehen können und was für eine Energie sie auf den Platz bringen. Wenn sie stabil sind, das schaffen sie nicht immer, aber nicht so selten, können sie Torgefahr über Abläufe erzeugen, auch über brutal gefährliche Standards. Da sind auch gute Spieler, aber die haben sich dahin entwickelt in Heidenheim, sind dort richtig gut geworden und nicht für 20 Millionen von irgendwoher gekauft worden. Es ist eine fast unglaubliche Leistung, es mit einem Trainer und ein paar weiteren handelnden Personen von der Oberliga in die Bundesliga zu schaffen.

Für uns in Heidenheim ist der SC Freiburg schon immer Vorbild gewesen.

Frank Schmidt

Haben Sie Jonas Föhrenbach und Tim Kleindienst mit einem besonders guten Gefühl nach Heidenheim geholt, weil beide die Freiburger Schule unter Streich hinter sich haben, Herr Schmidt?

Schmidt: Nicht nur die zwei, auch mein Co-Trainer Dieter Jarosch, den der Christian in der Jugend trainiert hat, schwärmt von seiner Freiburger Zeit. Die haben da sehr viel Gutes mitbekommen. Freiburg ist schon noch anders als wir.

Was meinen Sie?

Schmidt: Die Freiburger Fußballschule, das haben wir so nicht. Wir schaffen es noch nicht so häufig, Jungs aus dem eigenen Nachwuchs so auszubilden, dass sie bei mir in der ersten Mannschaft Fuß fassen können. Christian hat jahrelang die Spieler in der U 19 ausgebildet und vorbereitet, seine Nachfolger im NLZ machen da weiter. Wir in Heidenheim sind Weiterbilder. Als etwa Jonas Föhrenbach 2019 mit 23 Jahren zu uns kam, hatte er sein Rüstzeug schon, dann ging es darum, wie wir die Dinge in Heidenheim angehen und spielen wollen. Freiburg ist seit Jahren auch stark bei Standards, kann auch mal ein 2:0 gegen Augsburg defensiv nach Hause bringen, das Spiel habe ich live gesehen. Mir imponiert aber etwas anderes.

Nämlich?

Schmidt: Der fußballerische Ansatz. Das bekommt man nicht in einem Jahr hin, sondern über mehrere Jahre in der Ausbildung, im Übergangsbereich und oft noch in der zweiten Mannschaft, die es in Freiburg gibt und in Heidenheim nicht. Das ist das Besondere beim SC, da haben wir im Vergleich noch einen klaren Rückstand. Da kommen regelmäßig Eigengewächse bei den Profis an oder sind für andere Stationen bereit. Wie eben Jonas Föhrenbach. Davon profitieren wir in Heidenheim.

Ist am Standort Heidenheim langfristig eine Entwicklung wie in Freiburg denkbar, Herr Streich?

Streich: Es gibt Unterschiede beim Einzugsgebiet, unsere Stadt ist größer. Aber ich kann es nicht richtig beurteilen, ich weiß zu wenig von Heidenheim und der Umgebung. Sicherlich haben sie eine Chance, sich zu etablieren, aufgrund ihrer gewachsenen Struktur und ihrer personellen Kontinuität. Die Jugend von Heidenheim entwickelt sich auch, das sehe ich an den Ergebnissen in der B- und A-Jugend. Aber es ist bemerkenswert, es als Heidenheim in die Bundesliga geschafft zu haben. Wenn sie ein wenig Glück haben und in der Liga bleiben, kommen gewisse Gelder rein und du kannst weiter investieren. Und das nicht immer in neue Spieler. Zu Volker Finkes Zeiten hieß es beim SC immer, in Steine statt Beine investieren, die Fußballschule war echt teuer. Dann kann es zwar sein, dass du mal absteigst und die Leute fragen: Warum habt ihr nicht noch zwei gute Spieler geholt? Langfristig lohnt es sich aber, die Strukturen zu verbessern. Finke hat damals auch ein gutes Ziel formuliert.

Christian Streich, Frank Schmidt

Schätzen sich auf und abseits des Platzes: Christian Streich und Frank Schmidt. IMAGO/Jöran Steinsiek

Welches?

Streich: Dass es für den SC super wäre, wenn er unter den 25 besten Klubs in Deutschland ist. Das beinhaltet zwar, dass du mal absteigst und zwischendurch mal Achter oder Neunter bist in der 2. Liga. Wenn du dort am Ende dann Vierter oder Fünfter wirst, ist es aber kein Misserfolg. So kann man sich realistische Ziele setzen, die einen nicht überfordern und bei denen durch die Formulierung nicht zu viel erwartet wird. Es gab viele Vereine, die gesagt haben, jetzt wollen wir in den Europapokal, jetzt sind wir bereit dafür, und zwei Jahre später waren sie in der 2. Liga.

Ist Heidenheim am absoluten Limit, Herr Schmidt?

Schmidt: Das ist schwierig zu sagen, wir wissen es noch nicht, sind gerade das erste Halbjahr in der Bundesliga. Wir waren jetzt neun Jahre in der 2. Liga, da gab es immer sechs, sieben große Traditionsvereine, wo es hieß, die müssen zurück in die Bundesliga. Trotzdem hat es jetzt zum zweiten Mal Darmstadt geschafft, zuletzt auch Fürth oder wir. Ich sehe auch die Chance für uns, wir dürfen aber nicht stehen bleiben, gerade bei der Infrastruktur.

Die ist ausbaufähig, nicht nur mit Blick auf das kleine Stadion mit nur 15 000 Zuschauern.

Schmidt: Genau, wir haben nur einen Trainingsplatz für die Profis am höchstgelegenen Stadion im deutschen Profifußball. Wir haben öfter mal Schnee, können besonders im Winter auf keinen anderen Platz ausweichen. Höchstens auf den, auf dem die U 17 und die U 19 spielen sollen, die haben ja aber auch ihre Berechtigung und Wichtigkeit. Durch unsere Arbeit mit den Spielern können wir besser werden, dafür brauchen wir aber auch gute Bedingungen. Wir müssen intensiv schauen, wie wir diese verbessern können, denn auch in solchen Punkten wird sich entscheiden, ob wir eine Zukunft haben. Wichtig ist, dass wir jeden Tag mit unseren Möglichkeiten, unserer Identität und unserem Herz alles dafür tun, unseren Traum weiterzuleben. Wir dürfen uns im Kopf nicht beschränken, müssen aber auch die Demut haben, dass es nicht normal ist bei all den Klubs in der 2. und 3. Liga, dass Heidenheim in der Bundesliga ist. So schön es sein mag, zu den besten 25 zu gehören, will ich trotzdem nicht die 17 oder die 18 sein, sondern mindestens die 16, am besten die 15. Wir sind jetzt in der Bundesliga und wollen nicht gleich wieder zurück. Das ist mein großer Antrieb.

Mitleid im Trainerjob ist nicht angebracht. Wir dürfen im Prinzip keine Schwäche nach außen zulassen.

Frank Schmidt

Viele Ihrer Kollegen können sich gar keine Gedanken über die Infrastruktur machen, weil sie ihr Amt schnell wieder los sind. Welche Trainer-Entlassung hat Sie zuletzt besonders bewegt?

Streich: Ich bin relativ abgestumpft in der Zwischenzeit.

Weil es so oft passiert?

Streich: Ja und wenn ich jedes Mal emotional reingehe, rege ich mich ja alle paar Tage auf. Mich regen ja sonst schon viele andere Sachen auf, das geht nicht. Bei Urs Fischer wurde es zuletzt gut kommuniziert, alles okay. Urs selbst hat super kommuniziert. Am Ende kannst du nicht die ganze Mannschaft wegschicken, sondern schickst ein, zwei weg. Ob das richtig ist oder nicht. Ich hatte das Glück, dass es bei uns noch nicht passiert ist, seit ich das Amt habe. Der Frank auch, er hatte halt wahnsinnig viel Erfolg. Wir sind ja abgestiegen, da hätte es passieren können, dass sie mich wegschicken. Andererseits sind wir auch nur einmal in zwölf Jahren abgestiegen, haben uns viermal für den Europacup qualifiziert. Es war nicht nur Misserfolg. Wichtiger war aber unsere Definition, dass wir uns selber finanzieren über die Fußballschule und den Stadionneubau als gemeinsames Projekt. Das hat ganz gut funktioniert. Jede Trainerentlassung empfinde ich auch als Niederlage für den Klub, der den Trainer entlassen muss.

Herr Schmidt, wie geht es Ihnen?

Schmidt: Zunächst muss man mal festhalten: Das, was der Christian und ich machen, ist außer der Reihe. Daher ist es für uns ein bisschen schwierig, das zu verstehen. Ich bin schon noch verwundert, weil es bei Trainerverpflichtungen ja meistens heißt, mit diesem Trainer gehen wir einen neuen Weg, der auf viele Jahre ausgerichtet ist, das passt super. Das amüsiert mich inzwischen, weil im ersten Moment, wenn der Wind sich dreht, oft jeder versucht, seine eigene Haut zu retten. Wenn das, was oft erst Monate zuvor behauptet wird, schon vergessen ist - das kann ich nicht wirklich verstehen. Andererseits weiß ich, dass es in anderen Klubs auch mehr Einflüsse von außen, von Fans, Gremien oder Medien gibt als in Heidenheim oder Freiburg. Deshalb muss man es so hinnehmen, und Mitleid im Trainerjob ist auch nicht angebracht.

Warum?

Schmidt: Wir müssen stark sein, dürfen im Prinzip ja gar keine Schwäche nach außen zulassen. Auch wenn es die Momente gibt, in denen ich mich frage, wer denkt eigentlich gerade an mich? Was der Trainer gerade wieder machen muss. Aber ich möchte dann trotzdem kein Mitleid. Früher hat man gesagt, mit dem neuen Vertrag unterschreibt man gleichzeitig die Entlassungspapiere. Es ist Teil des Trainerjobs und des Geschäfts, nur in Heidenheim und Freiburg funktionieren die Mechanismen zum Glück anders.

Ich würde es dem Frank total gönnen, bald mal im Europapokal zu spielen.

Christian Streich

Bei Fischer hatte Union allerdings einen längeren Atem. Am Ende waren es 13 Niederlagen und ein Unentschieden in 14 Spielen. So eine krasse Negativserie hatten Sie trotz des Abstiegs noch nie, Herr Streich. War es also gar nicht so schlecht, dass Freiburg zugunsten von Union knapp die Champions League verpasst hat?

Streich: Es hätte niemand lieber Champions League gespielt als ich. Zum Beispiel bei Real Madrid gegen Carlo Ancelotti, gegen den wir in der Bundesliga schon mal spielen durften. Aber es kommt darauf an, was machst du mit dem Kader, willst du den oder den Spieler kaufen, wie sieht’s mit dem Geld aus. Union Berlin musste sich für gewisse Dinge entscheiden. Es sind große Aufgaben vor dir. Wir spielen gerade Europa League und haben zu viele verletzte Spieler. Letztes Jahr hatten wir Glück, dieses Jahr auch Pech mit den großen Verletzungsproblemen. Ich bin ganz zufrieden mit der Europa League, die Anforderungen sind ganz schön hoch. Für Heidenheim, Freiburg und noch ganz viele andere Mannschaften ist aber etwas anderes das Maß aller Dinge - die Bundesliga.

Christian Streich und Frank Schmidt auf der Pressekonferenz nach dem Spiel zwischen Freiburg und Heidenheim.

Christian Streich und Frank Schmidt auf der Pressekonferenz nach dem Spiel zwischen dem SC Freiburg und dem 1. FC Heidenheim. picture alliance / Eibner-Pressefoto

Ist es der Fluch der guten Tat, wenn man in einem zwar schönen, aber zusätzlich sehr fordernden Wettbewerb dabei ist? Gerade für Nationalspieler? Thomas Tuchel hat ja zuletzt angemahnt, dass die Belastung für seine Bayern-Stars zu viel wird …

Streich: Wenn du dir einen großen Kader von 35 Spielern kaufen kannst, dann geht’s. Andererseits ist es für uns als Sportler sensationell, wenn wir am Wochenende Bundesliga, unter der Woche in Serbien, dann wieder Bundesliga und dann gegen Olympiakos Piräus spielen dürfen. Sensationell! Du musst mit den Rahmenbedingungen umgehen und nicht viel Theater drum herum haben. Sonst wird’s schwierig mit dem täglichen Brot in der Bundesliga. Aber Europapokal zu spielen ist für mich und uns kein Alltag, sondern großartig, etwas ganz Besonderes.

Kann Heidenheim mit nur einem Neu-Nationalspieler wiederum von der hohen Belastung der anderen profitieren, wenn man in der Liga auf einen arg strapazierten Gegner trifft?

Schmidt: Am liebsten würde ich gar nicht darüber sprechen (Streich lacht laut). Wir haben es in München gesehen. Wir waren zu Recht 0:2 hinten, Bayern hatte noch eine große Chance, wir machen durch unsere Energie auf dem Platz aber das 2:2. Wenn das 3:2 für Bayern nicht direkt danach fällt, hätten wir Nutznießer sein können. Das haben wir ja auch schon beim 2:2 in Dortmund gezeigt. Wenn ein Spiel nicht vorher durch Qualität gegen uns entschieden worden ist, haben wir als regelmäßig ausgeruhte Mannschaft hintenraus die Chance, es auf unsere Seite zu ziehen oder zu drehen.

Streich: Ich würde es dem Frank total gönnen, bald mal im Europapokal zu spielen. Das ist toll. Aber die ganze Woche trainieren und Abläufe üben zu können ist auch gut und gerade für Vereine wie Heidenheim und auch uns sehr wichtig. Denn auch wir haben nur ein paar fertige Spieler, wollen und müssen die anderen über gemeinsame Arbeit weiterentwickeln. Gerade führen wir wieder viele junge Spieler an, einige aus unserer Fußballschule: Noah Atubolu, Noah Weißhaupt, Kiliann Sildillia, Kenneth Schmidt, Jordy Makengo oder Max Rosenfelder. Merlin Röhl haben wir mit 20 aus Ingolstadt dazugeholt.

Schmidt: Für die Arbeit auf dem Platz ist es für uns ein klarer Vorteil. Man kann es aber auch von der anderen Seite sehen. Christian kann jedem Spieler Einsatzminuten geben. Hätten wir ein paar Spiele mehr, hätten wir vielleicht ein, zwei Prozentpunkte mehr Zufriedenheit im Kader. Andererseits stehen wir in Heidenheim auch dafür: Es liegt ja nicht an mir, wer spielt, sondern an den Spielern.

Der Trainerberuf hat mich auch ein Stück weit deformiert.

Christian Streich

Frank Schmidt sagte im Sommer, er will nicht bis ins Rentenalter Trainer sein, sondern irgendwann eine Tapas-Bar eröffnen. Wie sieht Ihre Planung aus, Herr Streich?

Streich: Ich weiß es nicht so ganz genau. Trainer ist ein toller, aber enorm energieintensiver Job. Das habe ich schon oft gesagt. Man muss einigermaßen mit den Spannungen und dem Auf und Ab umgehen. Fußball ist das, was ich am meisten gemacht habe in meinem Leben, und das wahnsinnig gerne. Ich liebe Fußball, wir alle lieben Fußball. Dieses Spiel und diese Kommunikation mit Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Und dann kickt man einfach zusammen, und jeder sieht, wer ein Stück besser ist als der andere.

Aber es gibt auch andere Sachen im Leben.

Streich: Genau. Spannend wäre auch, wie man damit umgeht, wenn man mal nicht mehr Trainer wäre, und was dann mit einem passiert. Denn der Trainerberuf hat mich auch ein Stück weit deformiert. Nicht, dass er mich vollständig verbogen hätte, aber manchmal merke ich schon, dass es etwas mit mir gemacht hat. Das noch zehn Jahre zu machen, das geht gar nicht, das schaffe und will ich auch nicht. Dann schaue ich, was ich noch Sinnvolles tun kann.

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Würde Ihnen das Wegfallen des Trubels und der emotionalen Ausschläge leichtfallen, Herr Schmidt?

Schmidt: Ich hatte das ja schon mal. Ich bin ja gelernter Bankkaufmann und habe nach meiner Profikarriere und vor meiner Zeit als Cheftrainer beim FCH vier Jahre ganz normal gearbeitet. Auch wenn man es nicht sieht, bin ich noch einige Jahre jünger als Christian …

Streich: … doch, das sieht man.

Schmidt: Ich kann mir nicht vorstellen, wie etwa Jupp Heynckes bis ins Rentenalter Trainer zu sein und diese Energie so lange aufzubringen, sosehr ich meinen Job liebe, hat das Leben auch noch anderes zu bieten. Ich möchte auch noch mal was anderes machen. Ich höre immer wieder in meinem Umfeld, was schwätzt du da für einen Scheiß, es gibt doch nur 18 Stellen in der Bundesliga. Aber ich bin halt ich und weiß, was es mit einem macht. Deshalb die Idee, eine Café- und Tapas-Bar aufzumachen, in der uns Christian vielleicht mal besucht

Streich: Hundertprozentig.

Schmidt: Und eingeladen ist er auch, auch wenn ich Schwabe bin (grinst).

Streich (lacht): Es kann sogar sein, ich bleibe noch sitzen, auch wenn du schon abgeschlossen hast.

Schmidt: Ich lasse den Schlüssel da, kein Problem (beide lachen).

Im Gegensatz zu Frank Schmidt haben Sie im Grunde ausgeschlossen, noch einen anderen Klub zu übernehmen, Herr Streich. Wäre denn Nationaltrainer - wo auch immer - eine Option?

Streich: Als ich das gesagt habe, habe ich den Moment schon bereut und mir gesagt, du Idiot. So etwas sollte man nicht sagen. Weil ich es gar nicht beurteilen kann und mir gar nicht sicher bin.

Also keine ultimativen Aussagen mehr?

Streich: Genau. Das war eine ultimative Aussage, die ich gar nicht treffen kann, weil es gar nicht meinem Wesen entspricht. Ich denke aktuell überhaupt nicht daran und gehe fest davon aus, dass ich es nicht mehr mache, wenn ich hier aufhöre. Deshalb habe ich trotzdem die Wahrheit gesagt.

Das gilt auch für eine Nationalmannschaft?

Streich: Das ist da eingeschlossen. Aber wenn ich außerhalb des Fußballs noch eine Betätigung finden könnte, wäre ich sehr glücklich.

Der einzige Weg ist, dass sie sich eine kleine Burg bauen und sagen: Ihr könnt uns alle mal.

Christian Streich zur Lage der Nationalmannschaft

Apropos Nationalelf, wie sehr haben Sie beide denn beim letzten Länderspiel in Österreich mitgelitten?

Schmidt: Ich schon, die Nationalelf ist für mich noch immer die größte Mannschaft, die wir in Deutschland haben. Ich habe tolle Erinnerungen und war bei der WM in Italien dabei, durfte als 16-Jähriger etwa das Achtelfinale gegen die Niederlande sehen. Und wenn man sieht, was eine WM im eigenen Land mit den Menschen gemacht hat. Wir brauchen doch mehr denn je Zusammenhalt. Und Freude, dass es wieder so ein Ereignis gibt, aber das vermisse ich. Wenn man sieht, wie draufgehauen wird nach so einem Spiel wie in Österreich, dann leidet man mit. Natürlich ist es nicht unser Anspruch, was zuletzt passiert ist. Aber man wünscht sich doch, dass die Nationalelf erfolgreicher ist.

Sehen Sie einen Weg zurück zum Erfolg?

Schmidt: Natürlich gibt es Aufgaben, die es zu lösen gibt, aber ich bin kein Pessimist. Ich weiß, was im Sommer passiert, wenn die EM im eigenen Land ist. Wir haben nach wie vor hervorragende Einzelspieler und großes Potenzial. Wenn ich den Menschen da draußen einen Tipp geben kann: Begrabt die Nationalmannschaft nicht zu früh. Vielleicht muss man gerade jetzt das tun, was jeder auch in seinem Umfeld einfordert, mehr Unterstützung zu haben.

Wie kann man das erzeugen?

Schmidt: Wir in Heidenheim haben das entwickelt, indem wir immer in Vorleistung gegangen sind, und unsere Fans haben uns nie enttäuscht und sind mitgegangen. Sie spüren, wenn die Mannschaft auch mal Unterstützung benötigt. Das habe ich schon als Spieler in Aachen auf dem alten Tivoli kennen- und schätzen gelernt. Du bist schlecht drauf, aber die Zuschauer geben dir Energie. Vielleicht müssen wir die der Nationalelf auch geben, bei all den Problemen, die wir in unserem Land haben und obwohl die Welt aus den Fugen ist. Vielleicht können die Zuschauer - von mir aus mit der Faust in der Tasche - in Vorleistung gehen und daran glauben und wir uns alle zusammen von unserer besten Seite zeigen. Das ist mein Wunsch und mein Appell, und daran glaube ich.

Christian Streich

Will nicht noch zehn Jahre an der Seitenlinie stehen: Christian Streich. picture alliance / Pressefoto Rudel

Streich: Die Jungs müssen sich jetzt echt zusammenraufen. Sie müssen ständig Interviews geben, und alles wird hinterfragt. Dinge werden falsch dargestellt. Das hört sich jetzt vielleicht romantisch an, aber es muss scheißegal sein, ob ich von Anfang an spiele oder der andere. Wenn sie auf den Platz gehen, muss jeder für sich seine Aufgabe annehmen und nicht auf den anderen schauen. Der einzige Weg ist, dass sie sich eine kleine Burg bauen und sagen: Ihr könnt uns alle mal. Und die Experten und das ganze Geschwätz ausblenden.

Scheuklappen runter und durch?

Streich: Das ist die Möglichkeit. Sie sind individuell so gut, aber da muss jeder für sich auch sagen: Ich renne um mein Leben. Und zwar, wenn wir den Ball nicht haben. Das haben die Österreicher gemacht. Und es muss wieder schwer sein, gegen Deutschland zu spielen, extrem schwer. Dann kommt alles andere, weil sie so gut kicken können. Handys weg, alles weg und sagen: Wir sind die deutsche Nationalmannschaft, und jetzt zeigen wir es denen. Raus und malochen.

Schmidt: Das mit der Burg hast du genau richtig gesagt. Es geht darum, dass sich keiner wichtiger nimmt, als er ist, und jeder seine Qualität zu hundert Prozent zur Verfügung stellt. Auch um das Team herum. Da sitze ich nicht wie im Liegestuhl auf der Auswechselbank, sondern zeige, dass ich hundertprozentig dabei bin. Das möchte ich sehen. Dass jeder die maximale Qualität und Intensität einbringt. Und alles, was von außen kommt, ausblendet. Es ist immer einfacher, von außen mit dem Finger drauf zu zeigen, als tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. Was mich jetzt schon stört, ist, dass dann alle im Erfolg wieder sagen, wir haben es doch gewusst, dass es bei der EM doch wieder was wird.

Diese Gleichgültigkeit oder sogar Schadenfreude - gibt es das in anderen Nationen nicht so? Viele Deutsche tun sich aufgrund der Historie verständlicherweise mit Nationalstolz schwerer.

Streich: Es ist nicht immer falsch, wenn man gewisse Dinge distanzierter sieht aufgrund unserer Historie. So bin ich erzogen worden, das hat mir auch gutgetan. Aber sie müssen mal in Schweizer Zeitungen schauen, wenn deren Nationalelf mehrmals verloren hat. Das sind auch keine schönen Berichte, das kann ich Ihnen sagen, da geht es ab. Schadenfreude gibt es überall. Aber ich verstehe diese Missgunst nicht gegenüber einem Team, dessen Erfolg man sich eigentlich wünscht. Da ist man doch eher traurig. Sonst steht man nicht zu dieser Mannschaft. Aber das gibt es nicht nur in Deutschland.

Wer sagt, Sport ist nicht politisch, der weiß es nicht besser.

Christian Streich

Themenwechsel. Haben Sie schon mal ein Spiel in der saudi-arabischen Liga gesehen?

Schmidt: Wir haben in der Sommer-Vorbereitung gegen Al-Ahli gespielt, das hat mir gereicht. Als ich gesehen habe, wie die ihre Kabine nach dem Spiel verlassen haben, da war für mich alles erzählt.

Die WM 2034 findet höchstwahrscheinlich in Saudi-Arabien statt. Erneut eine Autokratie mit ganz anderen als den freiheitlich-demokratischen Werten, wie wir sie in Mitteleuropa grundsätzlich kennen. Ist man diesen sportpolitischen Machenschaften einfach hilflos ausgeliefert, oder muss die Fußballbasis irgendwann aufstehen und protestieren?

Streich: Sport ist grundsätzlich politisch. Funktionäre entscheiden, sie werden gewählt, das sind politische Prozesse, und Sport ist wahnsinnig wichtig in der Politik. Das wissen wir doch. Für Identitäten, für Länder, für Institutionen. Dass Turniere auch in andere Länder gehen als Deutschland, Frankreich oder Amerika ist auch okay. Und man muss leider sagen, Weltmeisterschaften in Diktaturen hat es auch schon immer gegeben. 1978 in Argentinien haben sie Menschen aus Flugzeugen geworfen, während das Halbfinale lief. Jetzt ist wieder einer dran in Argentinien, der fand das wohl gar nicht so schlimm. Das ist die Wahrheit. Wer sagt, Sport ist nicht politisch, der weiß es nicht besser.

Thematisieren Sie das mit den Spielern?

Frank Schmidt

Will nach seiner Trainerkarriere eine Café- und Tappas-Bar eröffnen: Frank Schmidt. picture alliance/dpa/Kessler-Sportfotografie

Streich: Ich thematisiere es nicht. Aber schauen Sie doch nur, welche Investoren in England zugange sind und woher das Geld kommt … dann sage ich nichts mehr. Ist jetzt Saudi-Arabien der Böse? Sind wir sauber im Westen?

Schmidt: Darauf will ich hinaus. Wir diskutieren das auch nicht, aber unsere Spieler sehr wohl, denn die kennen ja auch Spieler, die nach Saudi-Arabien wechseln, und hören auch die Summen, die dort gezahlt werden. Aber die kriegen auch mit, welche Probleme da schon entstehen. Ich kann nur für mich sprechen. Identifikation und Werte spielen für mich in meinem Leben eine große Rolle, das ist mit keinem Geld der Welt für mich aufzuwiegen. Aber man sollte niemanden deswegen verurteilen, ich gönne jedem das Geld, das er dort verdient, auch wenn es aberwitzige Summen sind. So viel Geld braucht kein Mensch, ich schon gar nicht.

Trotzdem hat der Fußball weiter eine verbindende Kraft. Wie kann man die zielführender einsetzen?

Streich: Das Spiel verbindet immer, aber die Einflussfaktoren auf das Spiel sind natürlich immens. Aber Sie könnten jetzt einfach nach Marokko oder sonst wohin gehen, einen Ball in die Mitte werfen, und dann kicken die Leute mit Ihnen. Sie sprechen kein Wort Arabisch, die Menschen dort kein Wort Deutsch. Das Spiel an sich ist groß und verbindet. Aber der Einfluss von außen ist enorm, weil gewisse Leute genau wissen, was sie über den Fußball bewirken können. Weil wir im Neokapitalismus reinster Form leben, wird das ganz gezielt eingesetzt von Regierungen, von riesigen Firmen. Aber ganz am Ende ist dieses Spiel immer noch rein. Das ist der einzige Grund, warum ich das überhaupt noch mache.

Ich gönne jedem das Geld, das er dort verdient, auch wenn es aberwitzige Summen sind.

Frank Schmidt

Aber ist nicht die Menschenrechtsfrage ein entscheidender Faktor? Wenn mit unserer Werteskala betrachtet etwa in WM-Gastgeberländern nicht angemessen mit Menschen umgegangen wird, muss man das doch thematisieren und kritisieren, dass sich im besten Fall daran was zum Positiven verändert.

Schmidt: Natürlich ist das wichtig, aber ich bin Fußballtrainer und muss aufpassen, nicht mit zu viel Halbwissen in so eine Diskussion zu gehen. Klar muss man aufstehen und das Wort erheben. Ich war neulich eingeladen bei einem Vortrag von Eva Erben, Zeitzeugin des Holocaust. Da waren 1200 Schüler, aber eine Stunde lang klingelte kein Handy. Alle haben zugehört. Sie sagte: Sprecht über die Wahrheit, lasst euch nicht beeinflussen von Falschinformationen und Gruppen, die versuchen, in eine bestimmte Richtung zu gehen, findet selber die Wahrheit heraus und sprecht darüber. Jeder kann in seinem Umfeld das Richtige tun. Aber gewisse Entwicklungen brauchen auch Zeit.

Was genau meinen Sie?

Schmidt: Wir haben mit Athletikcoach Said Lakhal jemanden in Trainerteam, der in Marokko aufgewachsen ist und ganz anderes erlebt hat. Du kannst den Menschen nicht einfach sagen, so, ab morgen herrscht Demokratie, das muss sich entwickeln. Man muss den Menschen auch die Chance geben zu verstehen, was Demokratie bedeutet. Das habe ich als Botschaft mitgenommen und das lebe ich auch so: Füge keinem Menschen etwas zu, was dir selbst nicht zugefügt werden soll. Das ist für mich Menschlichkeit. Da spielt es keine Rolle, woher du kommst oder welche Religion oder Hautfarbe du hast. Über diese Dinge muss man reden.

Streich: Das ist echt wichtig, was Frank sagt. Da hören alle zu, weil es wahrhaftig ist. Aber was ich sagen will: Schauen Sie mal, wie womöglich in unserem eigenen Kopf über gewisse Dinge gedacht wurde, über gleichgeschlechtliche Liebe, über andere sexuelle Orientierungen vor 20 oder 30 Jahren. Wie das thematisiert wurde. Wenn jemand lesbisch war oder schwul, über divers brauchen wir gar nicht reden, da hat man gar nicht gewusst, was das ist. Und dann kommen wir mit der Menschenrechtslage daher? Oder wie hat man damals über Veganer gedacht? Da wussten die meisten nicht, was das ist. Wenn man es ihnen erklärte, sagten viele: Der ist nicht ganz dicht. Es ist so, wie es Frank geschildert hat, du brauchst Zeit. In manchen Themen stellen wir uns über die Dinge, als hätten wir die Weisheit mit Löffeln gefressen, dabei war einiges vor nicht langer Zeit bei uns ähnlich. Da muss man ehrlich sein. Und zum Glück haben wir in Deutschland eine funktionierende Demokratie, bis jetzt.

Haben Sie Bedenken?

Streich: Ich hoffe, noch sehr lange, aber abwarten, es geht gerade nicht in die richtige Richtung. Man muss auch Zivilcourage zeigen, jeder so wie er kann. Wenn jemand im Stadion gegen einen Menschen hetzt wegen einer anderen sexuellen Orientierung oder einer anderen Hautfarbe. Und die Hetzer benennen in diesem Land. Mehr als 30 Prozent hat die AfD in manchen Regionen, aber 70 Prozent nicht. Wir müssen denen die Stirn bieten. Und zwar rigoros. Denn es geht überall auf der Welt in eine bedrohliche Richtung. Wir müssen zuerst im eigenen Land schauen. Ein Problem ist, wenn aus der sogenannten politischen Mitte Geschichten erzählt werden, dass Menschen, die auf der Flucht sind, denen es schrecklich geht, unsere Zahnärzte überlasten. Diese Leute, die so was aussprechen, die sollen sich schämen. Die argumentieren wider besseres Wissen, das ist hochgefährlich.

Schmidt: Aufzustehen gegen jegliche Form von Diskriminierung, Rassismus oder Antisemitismus ist ganz wichtig. Unsere demokratischen Parteien müssen aufwachen und die guten Sachen herausstreichen und sich nicht drehen wie das Fähnchen im Wind. Die demokratischen Werte muss man immer einfordern und authentisch bleiben. Da sind diese 70 bis 80 Prozent gefragt, um zu zeigen: Wir sind einfach mehr.

Interview: Michael Pfeifer, Carsten Schröter-Lorenz

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