Bundesliga

Labbadia: Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Eine Analyse der Hertha-Krise

Labbadia: Teil der Lösung oder Teil des Problems?

"Wir stehen zu Recht auf Platz 14", findet Herthas Trainer Bruno Labbadia.

"Wir stehen zu Recht auf Platz 14", findet Herthas Trainer Bruno Labbadia. Getty Images

Nach der verstörend harmlosen Darbietung gegen Mainz (0:0) am Dienstag hatte sich Bruno Labbadia noch hinter seine Mannschaft gestellt - wie bislang nach jeder Enttäuschung in dieser an Enttäuschungen nicht gerade armen Saison. Am Sonntag, nach dem 1:4 beim SC Freiburg, schaltete Labbadia in den Attacke-Modus. "Wie wir uns in der ersten Halbzeit verhalten haben, ist ein No-Go", tadelte der wütend-konsternierte Fußballlehrer.

"Wenn wir rumlaufen, wie wir wollen, funktioniert's nicht"

"Wir haben uns da null an den Plan gehalten, den wir vorhatten. Wir haben ein Gesicht gezeigt, das nicht funktioniert. Der eine oder andere meint, dass er sein Spiel allein durchziehen kann." Torhüter Alexander Schwolow, neben dem zur Halbzeit eingewechselten Javairo Dilrosun bester Berliner, bilanzierte an alter Wirkungsstätte maximal enttäuscht: "Die erste Halbzeit war für mich unbegreiflich. Das war fast ein Komplettausfall. Da hat gar nichts funktioniert von dem, was wir uns vorgenommen hatten. Wenn wir rumlaufen, wie wir wollen, funktioniert's nicht."

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Zu besichtigen war vor der Pause keine Mannschaft, sondern eine Ansammlung von Einzelspielern - ohne Kompass, ohne Struktur, ohne Widerstandskraft. 13 Punkte nach 13 Spielen - "die Situation", sagt Labbadia, "ist, wie sie ist". Besorgniserregend. Hertha BSC wähnte sich zuletzt mit vier Spielen ohne Niederlage im Aufwärtstrend. Der ist jetzt jäh beendet worden. Und der Klub, in dem die Gemengelage ohnehin kompliziert ist, steht vor ungemütlichen Weihnachten. Es stellt sich die Frage nach ...

... der Balance: Entweder stand Hertha hinten stabil und nach vorn ging wenig - oder Hertha wirbelte im Spiel nach vorn und zeigte sich in der Defensive extrem anfällig. Dass Hertha in den Spielen vor dem Freiburg-Desaster an Stabilität zulegte, ging klar auf Kosten der Offensive. Die Balance stimmte in dieser Saison nur in ganz wenigen Spielen (beim 4:1 in Bremen, beim 3:0 in Augsburg, mit Abstrichen beim 1:1 in Mönchengladbach).

Die Saison begann mit einem Wirkungstreffer, und so ging 2020 jetzt auch zu Ende

24 Gegentore nach 13 Spielen - nur Mainz (26) und Schalke (36) sind anfälliger. Individuelle Aussetzer - wie in Freiburg von Jordan Torunarigha vor dem 1:2 und 1:3 und von Deyovaisio Zeefuik vor dem 1:4 - ziehen sich wie ein roter Faden durch die Saison. Gefühlt patzt jede Woche ein anderer. "Wir dürfen nicht so einfache Tore bekommen", sagte Maximilian Mittelstädt. Bekommen sie aber, immer und immer wieder.

... der Entwicklung: Die Saison begann mit einem Wirkungstreffer (4:5 im DFB-Pokal bei Zweitliga-Aufsteiger Braunschweig) - und mit einem Wirkungstreffer geht Hertha jetzt auch in die kurze Weihnachtspause. "Die Niederlage", gestand der Ex-Freiburger Schwolow, "tut sehr, sehr weh." Es war seit Juli Labbadias Mantra: "Wir sind in einer Entwicklung."

Meistens ergänzte er die Formulierung aus dem Stehsatz noch und sagte: "Wir sind in einer guten Entwicklung." Die desillusionierenden 180 Minuten gegen Mainz und in Freiburg haben gezeigt: Das war - zumindest in weiten Teilen - eine Fehleinschätzung.

... der Mentalität: Fast jedes Gegentor bringt diese nach dem selbst erzwungenen Radikal-Umbruch im Sommer noch immer labile Mannschaft ins Wanken. Zu viele sind mit sich beschäftigt, zu wenige nehmen den Nebenmann oder - besser noch - das ganze Team mit. Matteo Guendouzi, erst Anfang Oktober vom FC Arsenal geholt, taugt zum Anführer. Aber er allein kann das Konstrukt - zumal mit 21 Jahren - nicht tragen. Matheus Cunha, in Freiburg nicht zum ersten Mal als Ich-AG unterwegs und zur Pause ausgewechselt, bekommt einzig aus dem Trainerteam Ansagen, nicht aus dem zu braven Kollegenkreis.

Die Freiburger waren wie die Tiger auf den zweiten Bällen - kein Vergleich zu uns.

Keeper Alexander Schwolow

"Wir haben zu wenige auf dem Platz, die es ihm auch mal sagen", erklärte Labbadia. Schwolow ist im Tor eine verlässliche Größe, Kapitän Dedryck Boyata hat sich in der Innenverteidigung gefangen. Aber von einer funktionierenden Achse ist Hertha im Dezember immer noch ein gutes Stück entfernt. "Die Freiburger", sagte Keeper Schwolow, "waren wie die Tiger auf den zweiten Bällen - kein Vergleich zu uns in der ersten Halbzeit." Die Berliner haben zwar (Eduard) Löwen im Kader, aber sie sind öfter Kätzchen als Tiger.

... der Qualität: Investor Lars Windhorst und seine Gefolgsleute geben Europa als Zieldestination aus, auch der Klub selbst peilt(e) die internationalen Startplätze zumindest hinter vorgehaltener Hand an. Die Qualität erachtete man trotz des schwierigen Transfersommers als ausreichend, um sich ans obere Liga-Drittel zumindest heranzuschieben.

Die teuren Neuen haben Hertha keinen Zentimeter vorangebracht

Die Realität sieht anders aus: Die teuren Neuzugänge Lucas Tousart (25 Mio. Euro), Krzysztof Piatek (23 Mio.), Santiago Ascacibar (11 Mio.) und Deyovaisio Zeefuik (4 Mio.) haben Hertha bislang keinen Zentimeter vorangebracht, Dodi Lukebakio (20 Mio.) ist auch nach eineinhalb Jahren in Berlin noch immer ein wandelndes Fragezeichen. Der Belgier setzt immer wieder Akzente, aber ist viel zu oft mit der Tarnkappe unterwegs. Der von Michael Preetz und Arne Friedrich zusammengestellte Kader wirkt unrund: Auf den Außenbahnen, defensiv wie offensiv, fehlt es an Qualität, im zentralen Mittelfeld an Kreativität. Ebenfalls eklatant: der Mangel an Führungsspielern und Lautstärke.

Freiburg wie Bayern und drei Premieren: Die kicker-Elf des 13. Spieltags

... dem System: Ein 4-3-3 mit großer Variabilität und vielen Freiheiten für das Trio in vorderster Linie - das war zuletzt Labbadias bevorzugtes System. Doch neben dem unentschlossenen, nicht perfekt abgestimmten Anlaufen zeigte sich gegen Mainz und in Freiburg auch in Ballbesitz ein markantes Problem: Hertha will zu oft durch die Mitte - und lässt die Flügel verwaisen. Schon nach dem Mainz-Spiel sagte Labbadia über die zweite Halbzeit: "Es ging fast kreuz und quer. Zu viele Spieler sind in die Mitte gezogen. Zu wenige waren bereit, die Positionen auf den Außen zu übernehmen."

Am Sonntagabend, nach der Demontage in Freiburg, klang er ähnlich: "Wenn da (auf außen, d. Red.) gar keiner ist und die Spieler nur im Mittelkreis, dann lacht sich jede Mannschaft kaputt." Wenn ein System allerdings wiederholt nicht funktioniert, könnte es auch am System liegen - und daran, dass es womöglich nicht optimal zum Kader passt. Vor allem der von Labbadia bevorzugt links postierte Matheus Cunha ist ein Spieler, der immer wieder in die Mitte zieht - und nominell im Zentrum womöglich ohnehin wirkungsvoller aufgehoben wäre. Unterm Strich bleibt: Labbadia, der als Retter in der Vorsaison mit einem 4-2-3-1 die Mannschaft schnell auf Linie und in die Balance brachte, hat in dieser Saison taktisch sehr viel probiert. Womöglich hat er damit manchen seiner ohnehin verunsicherten Profis überfrachtet.

Mit seiner Körpersprache zieht er sich und die Mannschaft runter.

Labbadia über Matheus Cunha

... Matheus Cunha: Er ist nominell Herthas Bester - und war in Freiburg Herthas Schlechtester. Der Mann, der sonst neben Guendouzi für Leidenschaft und Energie steht, spielte, als habe ihm jemand den Stecker gezogen. Das 0:1 verschuldete er mit einem schludrigen Ballverlust, zur Halbzeit war Feierabend. "Schwer zu erklären" fand Labbadia den Auftritt des Brasilianers: "Wir haben viele Gespräche geführt. Mit seiner Körpersprache zieht er sich und die Mannschaft runter. Er war für mich in der ersten Halbzeit unterirdisch. Er ist noch ein junger Mensch mit 21, aber er muss es schleunigst lernen."

Die Schärfe der öffentlichen Attacke überraschte viele - aber sie wird erklärbarer, wenn man weiß, dass Labbadia und seine Co-Trainer in den vergangenen Wochen dieses Thema mit dem Temperamentsbündel intern immer wieder und offenbar erfolglos besprochen haben. Genie und Wahnsinn liegen bei Herthas Top-Scorer eng beieinander. Klar ist aber auch: Will Hertha wieder in die Spur kommen, braucht man Matheus Cunha - willig und in Top-Form. Immerhin schlug der von seinem Vorgesetzten so harsch angegangene Freigeist am Sonntagabend via Twitter versöhnliche Töne an und schickte an die Fans und den Klub eine Grußadresse, die nach Lernbereitschaft klang: "Ich werde mich verbessern und dir CUNHA zurückgeben."

Hertha hat sich zu lange blenden lassen

... der Selbsteinschätzung: Hertha hat sich zu lange blenden lassen von den überwiegend passablen Auftritten gegen die Großen der Liga. In München (3:4) und Leipzig (1:2 in Unterzahl) gut mitgehalten, gegen Wolfsburg (1:1) dominiert, gegen Dortmund (2:5 am Ende) eine gute erste Halbzeit abgeliefert, in Leverkusen (0:0) und Mönchengladbach (1:1) Pünktchen gesammelt - das führte dazu, dass Trainer und Team dachten, man sei weiter, als man tatsächlich ist.

Dabei waren bereits die erste Halbzeit im Derby gegen Union (0:1, 3:1 am Ende), die zweite Halbzeit gegen Dortmund (fünf Gegentore) und die Heimdarbietungen gegen Frankfurt (1:3) und Stuttgart (0:2) Alarmzeichen. Jetzt - mit der Nullnummer gegen Mainz und der Pleite in Freiburg - ist Hertha auf dem Boden der Realität gelandet. "Wir haben uns mehr ausgerechnet. Wir müssen knallhart anschauen, was wir falsch gemacht haben", forderte Schwolow.

Auch das Wirken von Labbadia wird hinterfragt

... dem Trainer: Labbadia, an Ostern als Nachfolger von Alexander Nouri installiert, brachte Hertha mit ruhiger Hand, empathischer Ansprache und einer klaren Idee am Ende einer maximal turbulenten Vorsaison in den sicheren Hafen und auf Platz 10. In dieser Saison sollte tabellarisch und fußballerisch der nächste Schritt gelingen - davon ist nichts zu sehen. Dass die Sommer-Transferperiode nicht nach den Wünschen Labbadias lief - weder inhaltlich noch vom Timing -, ist klar. Dass er mit einigen der teuren Winter-Zugänge eher wenig anfangen kann, ist längst ein offenes Geheimnis. Aber dass der aktuelle Kader - der teuerste, den der Klub je unterhielt - mehr hergibt als Platz 14, ist ebenso unbestritten.

"Wir stehen jetzt zu Recht da", sagte Labbadia. Abstiegskampf, eine chronisch launische, unbeständige Mannschaft, die zu oft in ihre Einzelteile zerfällt, ein öffentlich angezählter Top-Scorer, mit sich und dem Ganzen unzufriedene Neuzugänge, dazu das ständige Knistern zwischen dem Klub und Investor Lars Windhorst - Hertha wirkt, mal wieder, wie eine Großbaustelle. Der vormalige Sky-Frontmann Carsten Schmidt, seit 1. Dezember als neuer Vorsitzender der Geschäftsführung im Amt, dreht in diesen Wochen jeden Stein um. Auch das Wirken von Labbadia, dessen Punkteschnitt schon vor einiger Zeit hinter den von Jürgen Klinsmann zurückgefallen ist, wird hinterfragt. Ist Labbadia noch Teil der Lösung oder inzwischen Teil des Problems? Diese Schlüsselfrage müssen die Bosse beantworten.

Steffen Rohr

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