Bundesliga

Elfmeter und neue Trainer: Sechs Fußball-Mythen im Check

Gefühlte Wahrheiten und was die Fakten sagen

Elfmeter, neue Trainer, Konzessionsentscheidungen: Sechs Fußball-Mythen im Check

Mythen und Fakten: Die gefühlten Wahrheiten im Realitäts-Check und Bastian Schweinsteiger in Schockstarre.

Mythen und Fakten: Die gefühlten Wahrheiten im Realitäts-Check und Bastian Schweinsteiger in Schockstarre. IMAGO/ingimage

Nicht nur im Psychothriller "Fake/Fakt" von Arno Strobel stellen sich diese Fragen: Was stimmt, was ist erfunden, was ist nur scheinbar richtig? Im Alltag ebenso, im digitalen Zeitalter erst recht. Und im Fußball? Der Sportwissenschaftler Professor Doktor Daniel Memmert und seine Mitstreiter Bernd Strauss und Daniel Theweleit haben sich in ihrem Buch "Mind Match Fußball" die Mühe gemacht, viele "gefühlte Wahrheiten", Mythen dieses Sports, einem Faktencheck zu unterziehen.

Wir haben uns sechs Thesen rausgepickt - für Teams, Spieler, Trainer/Klubs, Fans, aber auch für Freunde der Sportwette und Schiedsrichter.

Es ist ein Vorteil, wenn man im Europapokal zuerst auswärts antreten darf

Die Spieler auf dem Platz können das am besten nachempfinden - Bayerns Thomas Müller zum Beispiel schickte in bester Mia-san-mia-Manier nach der Champions-League-Auslosung erst mal Grüße in Richtung Manchester City und war "sehr froh, dass das Rückspiel in München ist". Ist das durch die Statistik gedeckt? Jein. Memmert und Co. beschreiben in ihrem Buch eine Studie, die 152 Achtel-, Viertel- und Halb- finalduelle in der Königsklasse untersucht.

Schon die Weiterkommen-Quote von 56 Prozent ist nicht so eindeutig zugunsten der Heimteams im Rückspiel. Rechnet man nun noch die Achtelfinals raus, weil dort die Gruppensieger, also in der Regel die ohnehin qualitativ Besseren, zuerst reisen dürfen, sinkt die Quote auf 50 Prozent. Der Spielort des Hinspiels ist also - zumindest rein statistisch - Trikot wie Hose. Zumal, und dies floss nicht mal in den Zeitraum der Untersuchung ein, die Auswärtstorregelung ja abgeschafft wurde.

Ich bin sehr froh, dass das Rückspiel in München ist.

Thomas Müller

Der Gefoulte sollte nie selbst einen Elfmeter schießen

Auch hier ein virtueller Blick in die Praxis: Wen bestimmt ein Trainer, wenn in der letzten Minute der möglicherweise spielentscheidende Strafstoß verhängt worden ist, als Schützen? Seinen sichersten, obwohl dieser gerade selbst gefoult worden ist? Oder doch lieber einen anderen? Setzen wir mal voraus, dass jener Elfmeterkönig nicht so schwer getroffen wurde, dass er ernsthaft verletzt ist, kann sein Coach ihn - rein datentechnisch - durchaus schießen lassen. Denn: In der Regel werden - egal ob in den Spielen oder im Elf- meterschießen - rund 75 Prozent aller Versuche verwandelt.

Knapp drei Viertel, um genau zu sein, 74 Prozent sind es über Jahrzehnte im Schnitt in der Bundesliga. Und wenn nun der Gefoulte antrat? Dann ändert sich: nichts. Also fast nichts. 72 Prozent beträgt dann die Trefferquote, die zwei Prozentpunkte Abweichung dürfen laut Memmert sogar vernachlässigt werden, da es sich um sogenannte "zufällige Abweichungen" handelt.

Der Gefoulte schießt nicht? Zehn wankende Bundesliga-Mythen

Trainerwechsel: Neue Besen kehren gut

Fred Everiss hatte es gut. Er konnte gewinnen, verlieren, ganz egal. Unglaubliche 46 Jahre lang war er Trainer des englischen Klubs West Bromwich Albion, zwischen 1902 und 1948. Mittlerweile ist die Verweildauer der Coaches deutlich kürzer, oft werden die Trainer gefeuert. Ist das sinnvoll? Kehren neue Besen wirklich gut, gar besser? Memmert und seine Co- Autoren verweisen in dem Fall unter anderem auf eine umfangreiche Studie des Professors Andreas Heuer: Untersucht wurden 154 Trainer- wechsel (ohne Interimslösungen) zwischen 1963 und 2009, jeweils zwischen dem 10. und 24. Spieltag, um Vorgeschichte und Nachwirkungen mit einzubeziehen. Jeweils zehn Partien vor und nach der Entlassung gingen in die Analyse ein.

Das Ergebnis: Egal, ob wenig erfolgreiche Klubs ihren Chefcoach wechselten oder nicht - es gab nur selten signifikante Unterschiede. Dort, wo gewechselt wurde, kann der psychologische Schub durchaus eine Rolle spielen, es stellten sich aber höchstens Kurzzeiteffekte ein. Doch unterm Strich ist alles eine Frage der Qualität: vor allem der Mannschaft. Auch der Trainer, klar, doch die spielen eben nicht mit und können nicht zaubern. Apropos Besen: Es war noch nie so, dass Topteams von einem "Besenstiel" trainiert werden können, wie Max Merkel dies mal mit Blick auf die Bayern der 60er und 70er Jahre sagte, doch eine gute Mannschaft wird mit (fast) jedem Trainer Erfolg haben, eine schwächere - langfristig - mit (fast) jedem eben nicht. Was nicht heißt, dass zwischenmenschliche Belange - oder auch sportliche wie eine Niederlagenserie - nicht auch gute Gründe für einen Tausch auf der Position des wichtigsten, im Wortsinn "leitenden" Angestellten liefern.

Thema
Tuchel statt Nagelsmann

Trainerwechsel beim FC Bayern

zum Thema
  • Vor den beiden wegweisenden Duellen gegen Dortmund und Manchester City trennt sich der FC Bayern von Trainer Julian Nagelsmann.
  • Zeitgleich präsentieren die Münchner den Nachfolger: Thomas Tuchel.

Einen "Lauf" haben

Wenn’s läuft, läuft’s. Nennen wir es also "Lauf", "Momentum" oder "Flow". Aber gibt es so ein Phänomen wirklich, nachweisbar? Memmert und seine Kollegen schreiben dazu: "Wissenschaftlicher ausgedrückt, klingt die These ungefähr so: Wenn es eine Serie von positiven Ergebnissen gab, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, ein weiteres positives Ergebnis zu erzielen, so jedenfalls die Hypothese." Konfrontiert man diese jedoch mit der Realität, ist sie nicht haltbar.

Wer wetten möchte, dass ein Spieler x trifft, kann das tun. Sollte dies aber nie daraus ableiten, dass er auch in den vergangenen drei oder vier Matches eingenetzt hat. Denn diese Serie liefert 0,0 Garantie, nicht mal eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass er wieder ein Tor schießt. "Ein Lauf", so Memmert und Kollegen, "ist eine Illusion, eine Wahrnehmungsverzerrung." Das bezieht sich ebenso auf Teams: Vier Siege in Serie bedingen nicht Nummer fünf. Ergo: Positives genießen, Selbstvertrauen schöpfen, aber nicht glauben, es läuft schon. Also von allein.

Die eigenen Fans im Rücken zu haben, ist immer ein Vorteil

Gefühlt mag auch das stimmen, schließlich gibt es immer noch mehr Heim- als Auswärtssiege. Doch wirklich signifikant, das zeigte sich auch in leeren Corona-Stadien, ist es nicht mehr. Punktuell kann sich sogar das vermeintliche Plus ins Gegenteil verkehren, zum Beispiel, wenn Elfmeter von Auswärts- in den ersten 50 Jahren Bundesliga sogar etwas häufiger verwandelt wurden als von Heimteams (75,9:73,6 Prozent). Auch hier wieder: alles im Dreiviertelbereich. Drucksituationen und übersteigerte Erwartungshaltungen haben nicht selten zum Misserfolg geführt, erinnert sei an das bayerische Desaster dahoam 2012 oder Brasiliens 1:7-Albtraum gegen Deutschland 2014.

SPIELE MIT MYTHOS-FAKTOR

Konzessionsentscheidungen von Schiris? Gibt’s nicht!

Hm. Ganz schwieriges Thema, da ist Sensibilität gefragt. Aber solange es dabei bleibt, dass keine KI , sondern weiter Menschen die Spiele pfeifen, werden auch bei Schiedsrichtern Empfindungen immer eine Rolle spielen - ohne irgendeine böse Absicht. In Mind Match Fußball liest sich das so: Untersuchungen zum Phänomen der Konzessionsentscheidung im Fußball weisen ebenfalls darauf hin, dass es den Schiedsrichtern keineswegs gelingt, alle Situationen unabhängig von ihrer Vorgeschichte zu bewerten.

Heißt also: Unparteiische treffen ihre Entscheidungen sehr wohl im Kontext des Spiels. So zeigen Studien, dass vergleichbare Foul- szenen im Strafraum völlig unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem, ob derselben Mannschaft bereits ein Strafstoß zugesprochen wurde oder nicht. Hat ein Team bereits einen erhalten, wird nach einem weiteren Foul im Sechzehner nur noch selten ein zweiter Elfmeter gepfiffen (siehe neulich in Leverkusen, als erst der VAR berechtigterweise eingriff). Wurde der gegnerischen Mannschaft hingegen bereits ein Elfmeter zugesprochen, steigt die Häufigkeit zuerkannter Strafstöße an.

Dr. Daniel Memmert

Überprüfte sechs gängige Fußball-Mythen: Dr. Daniel Memmert Benjamin Lau

Bei all diesen Erhebungen ist eines natürlich das Wichtigste: Es geht um Individuen, um menschliches Verhalten. Da bleibt Platz für Gefühle, Spontaneität und - Fehler. Und somit ist nicht jedes Gegenteil von einem Fakt gleich ein Fake. Erst recht nicht im Fußball.

Dieser Text erschien erstmals in der kicker-Ausgabe vom 27. März. Hier können Sie sich den kicker als eMagazine im Flex-Abo sichern.

Thomas Böker