Bundesliga

Lasst den Kaiser lächeln: Ein Nachruf auf Franz Beckenbauer

Zum Tod von Franz Beckenbauer

Lasst den Kaiser lächeln

Ein Leben für den Fußball: Franz Beckenbauer. 

Ein Leben für den Fußball: Franz Beckenbauer.  imago images (3)

Die kollektive Erinnerung an große Persönlichkeiten manifestiert sich oft in ikonischen Bildern. Vor dem geistigen Auge taucht da der knapp 25-jährige Franz Beckenbauer auf, der sich im WM-Halbfinale 1970 in Mexiko die Schulter ausgekugelt hat und das Jahrhundertspiel gegen Italien (3:4 nach Verlängerung) im Aztekenstadion dennoch bis zum Ende durchsteht. Den rechten Arm trägt er dabei so formvollendet elegant in einer Schlinge vor dem Körper, dass seine aufrechte Haltung alle Anstrengung überstrahlt.

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Wo andere sich quälen würden, scheint Beckenbauer fast zu schweben. Selbst unter größten Schmerzen. Dieser Eindruck bestimmte das Bild vom "Kaiser Franz" ganz generell. Jedenfalls in jenen vier Jahrzehnten, in denen Beckenbauer den deutschen Fußball maßgeblich prägte: von seiner ersten WM-Teilnahme 1966 in England, bei der er als bester junger Spieler des Turniers ausgezeichnet wurde, bis zum strahlenden Heimturnier 2006, das er als Bewerbungs- und Organisationschef maßgeblich verantwortete.

"Es gab vorher keinen besseren Fußballspieler als Franz Beckenbauer, und es wird künftig keinen besseren geben", urteilte sein langjähriger Weggefährte Günter Netzer. Viermal wurde Beckenbauer in Deutschland zum Fußballer des Jahres gekürt, zweimal europaweit, schließlich gar zum Fußballer des Jahrhunderts im eigenen Land. Doch war und bleibt er weitaus mehr als der womöglich für alle Zeiten beste Deutsche, der je einen Rasen in kurzen Hosen betreten hat.

Bei der WM 1974 führte er selbst Bundestrainer Schön

Zwei Jahre nach dem Jahrhundertspiel in Mexiko ist er Europameister, als Kapitän der als "Wunderteam" bestaunten DFB-Elf. "Ramba-Zamba", das Wechselspiel des Liberos Beckenbauer mit Mittelfeldregisseur Netzer, wird zum international anerkannten Gütesiegel. 1974 folgt der WM-Titel dank eines 2:1 gegen die Niederlande und den Rivalen Johan Cruyff im "Finale dahoam", das damals niemand so nennt. Beckenbauer im Münchner Olympiastadion, mit dem hochgereckten Weltpokal in beiden Händen, die klassisch grün-weiß gehaltenen "Spielführer"-Binde am linken Arm und dem selig lächelnden Bundespräsidenten Walter Scheel im Hintergrund - auch dieses Bild ist Teil eines kollektiven Gedächtnisses.

Und gibt zumindest eine Ahnung davon, wie unschuldig die Verbindung von Sport und Politik damals noch gewesen sein mag. Intern ist Beckenbauer längst der Leader, der auch Bundestrainer Helmut Schön bei dessen Umgang mit der Mannschaft führt. Diverse Konflikte, etwa rund um die zähen Prämien-Verhandlungen oder die Personalwechsel nach der 0:1-Blamage gegen die DDR, trägt hauptverantwortlich Beckenbauer aus. Auch hinter den Kulissen wird er so zur Schlüsselfigur.

Spaziergang nach dem Triumph von Rom und ein Trugschluss

Der Kaiser in Rom: Franz Beckenbauer beim WM-finale 1990.

Der Kaiser in Rom: Franz Beckenbauer beim WM-finale 1990. imago images/Colorsport

1990 folgt die nächste Krönung. Wie 1974 als Kapitän führt Beckenbauer Deutschland nun als Teamchef zum WM-Titel. Weltmeister als Spieler und als Trainer, das gelang neben ihm bis heute nur dem Brasilianer Mario Zagallo und Frankreichs "General" Didier Deschamps. Unmittelbar nach dem Triumph spaziert Beckenbauer ganz allein über den römischen Rasen, die Goldmedaille um den Hals, Hände in den Hosentaschen und offensichtlich tief in der eigenen Gedankenwelt versunken. Unvergessliche Momente der inneren Einkehr, die vor den Augen der Welt signalisierten: Dieser Mann hat, schon im Alter von damals 44 Jahren, nun alles erreicht. Freilich ein Trugschluss.

Der Gründervater eines neuen, liebenswerten Deutschlands

Denn was er für sich selbst als "größte Leistung und größten Erfolg" definierte, sollte noch folgen. Im Dienst der deutschen Bewerbung um die Ausrichtung der WM 2006 jettet Beckenbauer in den Jahren 1999 und 2000 mehrmals um den Globus, um die Mitgliedsverbände der FIFA zu überzeugen. Natürlich mit Erfolg - zu dem dann auch das Turnier selbst gerät. Nicht zuletzt dank Beckenbauers "Welcome-Tour", in deren Rahmen er 2005/06 sämtlichen 31 Teilnehmerländern seine persönliche Aufwartung gemacht hat.

Auf dieser Strecke von Teheran bis Sydney absolviert er insgesamt 168 Flugstunden. "Das kostete Zeit und Kraft, war aber eine unserer besten Ideen", stellt er hinterher fest, "die Resonanz war überwältigend." Von vielen Beobachtern werden diese viereinhalb Wochen gar als identitätsstiftend definiert für ein neues, liebenswertes Deutschland passend zum Motto "die Welt zu Gast bei Freunden". Beckenbauer, gleichsam der Vater dieser nun so wahrgenommenen Nation, verströmt bei allem Dauerstress weiter die gewohnte Leichtigkeit des Seins. Zu 46 von insgesamt 64 WM-Partien schwebt er per Helikopter ein - noch so eine symbolträchtige Szenerie, die mit ihm verbunden bleibt. Ebenso wie der durchgehend strahlend blaue Himmel während dieser unbeschwerten Wochen. Kaiserwetter zur Vollendung von Beckenbauers Lebenswerk - was auch sonst?!

Zahllose sportliche Triumphe - und die Watsch'n, mit der alles begann

Der 1945 in München als Sohn des Post-Angestellten Franz senior und der Hausfrau Antonie zur Welt Gekommene ist endgültig aufgestiegen zu einem Giganten des Gelingens. Neben den Erfolgen mit der Nationalmannschaft triumphiert er auch als Galionsfigur des FC Bayern auf breiter Front: vier Deutsche Meisterschaften als Spieler in den 70er Jahren - sowie eine fünfte 1982 mit dem HSV nach der Bundesliga-Rückkehr von Cosmos New York, wo er zwischen 1977 und 1980 auch noch drei US-Meisterschaften einheimst. Je vier DFB-Pokal- und Europacupsiege stehen mit dem FCB zu Buche, darunter zwischen 1974 und 1976 der Hattrick im Landesmeister-Cup. Und, als i-Tüpfelchen, der Weltpokal 1976.

Als Trainer holt er 1991 den Titel in Frankreich mit Olympique Marseille, später mit Bayern jeweils in der Funktion als Interimscoach 1994 die Meisterschale sowie 1996 den UEFA-Cup. Hauptsächlich fungiert Beckenbauer zwischen 1991 und 2009 nacheinander als Vizepräsident, Präsident und Aufsichtsratschef des deutschen Branchenprimus. Zu den genannten Trophäen coacht er die Mannschaft nebenbei. Und spitzelt am Abend der Meisterfeier 1994 auch noch einen Ball vom Rand eines Weizenbierglases in die ZDF-Torwand.

Der Franz, der kann's - immer und überall. Dass dies alles so und nicht vielleicht ganz anders kam, ist einer Kuriosität zu verdanken, deren Geschichtsträchtigkeit zunächst keiner absehen kann: Als Spieler des SC 1906 München fängt sich der zwölfjährige Franz bei einem Turnier vom zwei Jahre älteren 1860-Akteur Gerhard König eine Ohrfeige ein. Eigentlich hatte Beckenbauers Wechsel zu den Löwen da schon festgestanden. Nach der inzwischen berühmten "Watsch'n" aber entscheidet er sich dann doch für den FC Bayern …

Ein Menschenfreund mit einer unwiderstehlichen Aura

Es ist eine einzigartige Mischung aus Ehrgeiz und Nonchalance, die Beckenbauer so unwiderstehlich und lange Zeit schier unbesiegbar macht. Selbst seine Fehltritte haben Hand und Fuß. Als neun Monate nach der Vereinsweihnachtsfeier 1999, in deren Nachgang der Klubboss einer Sekretärin nähergekommen ist, Söhnchen Johann das Licht der Welt erblickt, kommentiert der anderweitig verheiratete Beckenbauer legendär-lässig: "Der liebe Gott freut sich über jedes Kind." Das nimmt selbst erzkatholischsten Kritikern allen Wind aus den Segeln.

Langjährige Weggefährten: Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath.

Langjährige Weggefährten: Franz Beckenbauer und Wolfgang Overath. imago/WEREK

Beckenbauer ist eben die Lichtgestalt, der jeder alles verzeiht. Oder wie es Wolfgang Overath, sein Zimmerkollege während der Mexiko-WM 1970, einmal formulierte: "Franz hat eine Aura, die es ihm erlaubt, heute das eine zu sagen und morgen das Gegenteil davon - er hat immer recht." Beckenbauers überwältigender persönlicher Charme speiste sich auch daraus, dass er trotz seiner sagenhaften Erfolge nie als Mensch die Bodenhaftung verlor. Das berichteten nicht nur ehemalige Mitspieler immer wieder voller Hochachtung. Wie verbindlich und zugewandt er bei zufälligen Alltagsbegegnungen mit Wildfremden umging, seien es Hotelangestellte, Hausmeister, Fans oder einfach nur Passanten, zeichnete Beckenbauer als Menschenfreund und wahrhaft großen Charakter aus. Und machte ihn auf ganz authentische Art zu Everybody’s Darling.

Die Sommermärchen-Affäre von 2006 ramponierte den Ruf

Das war die Rolle seines Lebens - aus der er jedoch vorzeitig vertrieben wurde. Tragischerweise ausgerechnet infolge jener Affäre, die sich im Nachhinein wie ein düsterer Schleier auf das Sommermärchen 2006 legte. Vier Jahre vor dem Turnier waren zehn Millionen Schweizer Franken an einen katarischen Funktionär geflossen, zudem gab es einen mysteriösen Vertrag mit einem FIFA-Wahlmann über zehn Millionen Euro und einige Geheimnisse mehr.

Warum, weshalb, wieso? Das blieb großteils ungeklärt, weil Beckenbauer schwieg und die beauftragten Gerichte letztlich nicht weiterkamen. Beckenbauers Ruf indes war - auch vor dem Hintergrund eines sich rasant ändernden deutschen Zeitgeistes - irreparabel ramponiert. Weitaus mehr als angemessen, wie Wohlmeinende beschwören. Andere, etwa der Spiegel, machten den einstigen Liebling der Nation flugs zur "Zwielichtgestalt".

Der schlimmste Schicksalsschlag: Tod des eigenen Sohnes

Das moralische Urteil über Franz Beckenbauer mag letztlich Ansichtssache bleiben. Über alle Zweifel erhebt sich das sportliche Lebenswerk eines Mannes, der nicht nur Titel und Triumphe sammelte, sondern sogar eine neue taktische Figur auf dem Spielfeld erfand und fortan zu deren Inbegriff wurde: Der Libero blieb bis zur Jahrtausendwende und dem Siegeszug der Viererkette eine Königsposition im weltweiten Spitzenfußball. An das Original Beckenbauer reichte aber keine Kopie heran. Der "freie Mann", wie die lateinische Verbform Libero (wörtlich: "ich befreie") gerne übersetzt wird - auch dieses Attribut war Beckenbauer in jeder Beziehung auf den Leib geschneidert.

Ob er am Ende seines Lebens trotzdem auch ein gebrochener Mann war? Das bleibt sein Geheimnis. Klar und nur allzu verständlich, dass ihm die heftigen öffentlichen Vorwürfe rund ums Sommermärchen persönlich zusetzten. Dazu kamen über die Jahre zunehmende gravierende gesundheitliche Probleme. Und, 2015, der mit Abstand schwerste aller Schicksalsschläge: der Tod seines Sohnes Stephan, der im Alter von nur 46 Jahren einem Hirntumor erlag.

Der akribische Workaholic - und "Gelegenheitsarbeiter"

Zeitlebens betonte Franz Beckenbauer gerne, um keine seiner vielfältigen Aufgaben habe er sich je beworben. Das berühmte "Schau’n mer mal" pflegte er nach außen hin als Grundeinstellung zum Leben. Die Ämter seien stets zu ihm gekommen, nicht umgekehrt. Dennoch verschrieb er sich ihnen regelmäßig mit einem bedingungslosen Einsatz, den sein engeres Umfeld durchaus als "anstrengend" empfand, wie Klaus Augenthaler einmal festhielt. "Ihm ist beileibe nicht alles zugeflogen, Franz war sehr akribisch, hartnäckig und ausdauernd. Als sein Co-Trainer bei Bayern verbrachte ich die vermeintliche Mittagspause oft mit ihm. Da haben wir vom nächsten Gegner Videos angeschaut, Videos angeschaut, Videos angeschaut."

Meister mit dem FC Bayern: Franz Beckenbauer und sein Co-Trainer Klaus Augenthaler.

Meister mit dem FC Bayern: Franz Beckenbauer und sein Co-Trainer Klaus Augenthaler. imago images/Fred Joch

Die allermeisten Außenstehenden empfanden diesen Workaholic derweil als einen Franz im Glück, dem ohne große Anstrengung alles in den Schoß fiel. Das Geheimnis liegt vermutlich schlicht darin: Beckenbauer, der sich selbstironisch als "Gelegenheitsarbeiter" bezeichnete, liebte, was er tat. Und verstand, das Schwierige einfach aussehen zu lassen - auch für seine Spieler. "Wir waren extrem akribisch geimpft", erinnert sich Rudi Völler an die Teamsitzungen während der WM 1990, "alles, was die damalige Zeit an Videotechnik hergab, wurde genutzt." Bevor es wirklich ernst wurde, machte Beckenbauer aber klar, was das Wichtigste ist: "Geht’s raus und spielt’s Fußball!"

Weltmeister, Kaiser, Lichtgestalt: Franz Beckenbauer

Ein Pädagoge, der immer mal wieder erfolgreich provozierte

So glänzte Beckenbauer schließlich auch als Pädagoge, der unter seiner Regie andere stark zu machen verstand. Und sei es, indem er sie auf provokante Art schlechtredete. Als "Uwe-Seeler-Traditionself" beschimpfte er als Präsident die Bayern-Profis um Oliver Kahn und Stefan Effenberg im März 2001 nach einer 0:3-Niederlage in der Champions-
League-Zwischenrunde bei Olympique Lyon. Gut zwei Monate nach dieser Bankettrede grüßten die "Altherrenfußballer" mit dem Henkelpott. Und nach dem 1:3 gegen den VfB Stuttgart bei seinem Einstand als Interimscoach 1994 hatte Beckenbauer seine Schützlinge in der Kabine ganz einfühlsam getröstet: "Ihr könnt es halt nicht besser." Die so Geschmähten wurden unter Beckenbauers Ägide prompt Deutscher Meister. "Franz konnte schon auch wütend werden", berichtete der damals beteiligte Mehmet Scholl. "Aber er hat alle Probleme mit einem Lächeln gelöst."

Vielleicht führt das ja auch zu einer Form des Gedenkens, der sich bei allen Kontroversen um Beckenbauers Lebenswerk alle anschließen können. Egal, wie und in welchem Zusammenhang man sich an ihn erinnern mag: Lasst den Kaiser dabei lächeln.

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Zum Tode des Kaisers

Franz Beckenbauer - Kaiser, Fußballer, Mensch

zum Thema
  • Kaum jemand prägte den deutschen Fußball so sehr wie Franz Beckenbauer.
  • Als Spieler, Trainer oder auch als Funktionär - der Kaiser feierte immer wieder große Erfolge und ging als eine Lichtgestalt des Fußballs in die Geschichte ein.
  • Am 7. Januar 2024 verstarb er im Alter von 78 Jahren. Nicht nur die Fußballwelt trauert um eine Legende.