2. Bundesliga

"Der Klub hat dem Abgrund ins Auge geblickt"

Mentalcoach Dr. Gerd Driehorst über Herthas Trauerarbeit und die Zukunft

"Der Klub hat dem Abgrund ins Auge geblickt"

Seit 1997 Mitglied bei der Hertha: Dr. Gerd Driehorst (li.).

Seit 1997 Mitglied bei der Hertha: Dr. Gerd Driehorst (li.). kicker/Rohr, imago images

In der Bundesliga war Dr. Gerd Driehorst Ende der 90er Jahre einer der Vorreiter im Mentalcoaching. Josip Simunic (105 Länderspiele für Kroatien, WM-Teilnehmer 2002 und 2006) war seinerzeit einer seiner Klienten, auch der langjährige Hertha-Profi Michael Hartmann, der seit Sommer 2022 die U17 des FC Bayern trainiert. Heute coacht Driehorst, der seit 1997 Hertha-Mitglied ist, vornehmlich Führungskräfte in den Bereichen Politik und Wirtschaft.

Hertha BSC ist seit dem Tod seines Präsidenten Kay Bernstein vor einer Woche im Ausnahmezustand. Das Spiel gegen Fortuna Düsseldorf (2:2) war eine riesige Trauerfeier, Fußball wurde eher am Rande auch gespielt. Waren Sie überrascht, dass es Herthas Mannschaft trotz der Umstände so fokussiert und vergleichsweise gut hinbekommen hat, Herr Dr. Driehorst?

Das schafft nur eine Mannschaft, die gefestigt ist. Die innere Stärke, also die mentale Stärke einer Mannschaft zeigt sich darin, dass sie es schafft, ihre Leistung unabhängig von den Rahmenbedingungen auf den Platz zu bringen. Die Rahmenbedingungen waren tragisch. Der Tod von Kay Bernstein hat alle bei Hertha und darüber hinaus erschüttert, sein Engagement für den Verein war sensationell. Dass diese Mannschaft dann so aufgetreten ist, spricht für sie - und es zeigt, dass Pal Dardai und der ganze Staff um ihn herum eine fantastische Arbeit gemacht haben. Der Rahmen am Sonntag war würdevoll und angemessen, aber natürlich völlig untypisch für ein Fußballspiel. Die Leistung der Mannschaft vor diesem Hintergrund war ein Mutmacher.

Trainer Pal Dardai sagte rund um das Spiel: "Wir haben mehr miteinander geredet als sonst." Wie gelingt der Spagat aus Trauer und Bewältigung einerseits und der Fokussierung auf den Sport anderseits?

Pal Dardai

Pal Dardai führte seine Hertha trotz großer Trauer zu einem 2:2 gegen Fortuna Düsseldorf. IMAGO/Jan Huebner

Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Es ist wichtig, der Trauer ins Auge zu schauen und ihr Raum zu geben. Man darf sie nicht verdrängen, sondern muss sich mit ihr beschäftigen und darüber reden. Aber dann muss es natürlich auch wieder weitergehen, und da ist der Sport auch eine Ablenkung. Professionelle Sportler sind darauf gepolt, Niederlagen ins Auge zu blicken und Umstände auszublenden. Mit dem plötzlichen Tod des Präsidenten, der in der Woche zuvor im Spanien-Trainingslager noch eng an der Mannschaft und dem Staff dran war, hat der ganze Klub dem Abgrund ins Auge geblickt.

Darüber muss man reden. Ich kenne Pal Dardai ganz gut. Ich bin sicher, dass er das sehr gut hinbekommen hat. Er ist einerseits einfühlsam, andererseits auch sehr klar und entschlossen. Er ist der perfekte Mann, um solche Gespräche zu führen, ohne dass die Emotionen einen völlig wegtreiben. Es muss in dem Moment Führungskräfte geben, die einerseits die Emotionalität und Empathie zeigen und andererseits in dieser Ausnahmesituation auch stehen und vorneweg gehen. Man muss für so viel Normalität wie möglich sorgen.

Dardai selbst musste im Sommer 2002 während eines Hertha-Trainingslagers in Österreich als 26-Jähriger den Tod seinen damals 21-jährigen Bruders Balazs verkraften, der bei einem Fußballspiel in Ungarn unglücklich mit einen Gegner zusammenprallte und seine Zunge verschluckte.

Wenn du einmal so einen Schicksalsschlag verarbeitet und es geschafft hast, wieder nach vorn zu schauen, hilft das, andere später in einer ähnlichen Situation zu unterstützen.

Was ist wahrscheinlicher: dass so eine Zäsur wie Bernsteins überraschender Tod den Klub und die Mannschaft lähmt oder zusammenschweißt?

In dem Fall gehe ich davon aus, dass dieses tragische Ereignis Hertha noch mehr zusammenschweißt. Anfänglich wusste ich mit Bernsteins Wahl als Präsident nicht so viel anzufangen. Ich habe dann aber zunehmend gesehen, was das für ein Glücksfall ist - in der Kombination mit Benjamin Weber als Sportdirektor. Weber als langjähriger Leiter der Jugend-Akademie ist eine ganz entscheidende Figur des von Bernstein ausgerufenen "Berliner Weges". Er hat in der Akademie eine großartige Arbeit geleistet und auch jetzt als Sportdirektor in einem äußerst komplizierten ersten Jahr mit beschränkten finanziellen Mitteln viele kluge, besonnene Entscheidungen getroffen. Herthas Jugendarbeit war immer gut. Sie wurde nur im eigenen Haus nicht immer so anerkannt, wie es nötig und sinnvoll gewesen wäre. Jetzt hat Hertha, natürlich auch in Zeiten wirtschaftlicher Nöte, umgedacht. Das ist ein gutes Konzept, und die handelnden Personen stehen inhaltlich dafür. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass der Rahmen stabil ist.

Wie schwierig wird es, den "Berliner Weg" ohne den bisherigen Vordenker weiterzugehen?

Es wird schwer, aber für mich ist dieser Weg komplett alternativlos. Hertha wollte nach den Sternen greifen und ist brutal abgestürzt. Hertha kann jetzt gar nicht anders, als sich noch stärker als Ausbildungsklub zu begreifen und auf die Berliner Jungs zu setzen. Und jemand wie Benjamin Weber steht mit seiner Vita für diesen Weg, er ist ein großer Hoffnungsträger für die nächsten Jahre.

Wenn sich der Investor an diesem Weg beteiligt, wird es ein guter Weg. Wenn er Träume hat, wie es sie bei Hertha früher gab, [...] ist der Weg zum Scheitern verurteilt

Dr. Gerd Driehorst über den "Berliner Weg"

Bernstein war im Binnenverhältnis zu Investor 777 Partners immer auch eine Art Puffer und jemand, der sich trotz der finanziellen Abhängigkeit von dem US-Private-Equity-Unternehmen in inhaltlichen und personellen Fragen für die Klub-Belange stark gemacht hat. Pal Dardai etwa wird bei 777 Partners kritischer gesehen als im Klub. Befürchten Sie, dass der Einfluss von 777 Partners ohne Bernstein größer wird?

Da bin ich zu weit weg, um eine begründete Aussage zu machen. Was ich sagen kann: Ich hoffe, dass der Investor sieht, dass der Weg, auf die eigenen Talente zu setzen, weiter beschritten werden muss. Sich ehrlich zu machen und ein neues Fundament einzuziehen, wie es gerade geschieht, ist der einzig gangbare Weg. Wenn sich der Investor an diesem Weg beteiligt, wird es ein guter Weg. Wenn er Träume hat, wie es sie bei Hertha früher gab, wenn er glaubt, mit einem anderen, vermeintlich namhaften Trainer den schnellen Erfolg erzwingen zu können, ist der Weg zum Scheitern verurteilt.

Hertha steht immer noch am Abgrund, das darf man nicht vergessen. Es ist den Verantwortlichen um Tom Herrich, Benjamin Weber und Pal Dardai zu verdanken, dass sie im vergangenen Sommer, als es sehr düster aussah, die Ruhe bewahrt haben. Und ich kann alle nur darin bestärken, Pal Dardai zu stärken. Er ist der Garant dafür, dass es nicht weiter nach unten geht. Schnelle, überragende Erfolge wird es bei Hertha nicht geben. Sie werden dieses Jahr nicht aufsteigen, das ist für mich völlig klar. Alles andere ist Wolkenkuckucksheim. Aber man kann im DFB-Pokal (Viertelfinale am 31. Januar gegen den 1. FC Kaiserslautern, d. Red.) eine eigene, wunderschöne Geschichte schreiben - auch im Sinne Bernsteins.

Der bisherige Vize Fabian Drescher wird bis zum Herbst als kommissarischer Präsident amtieren, dann gibt es turnumäßig Wahlen. Sie sind seit fast 27 Jahren Hertha-Mitglied. Sehen Sie im Hertha-Kosmos jemanden, der das Werk Bernsteins, der eine große integrative und visionäre Kraft entwickelt hat, angemessen weiterführen kann?

Schwierig. Man sollte niemanden an Bernstein messen, der diesen Klub auf seine Art und sehr besonders und mit enorm viel Energie und Herzblut geführt und gelebt hat. Und man muss einem Nachfolger auch zugestehen, eigene Akzente zu setzen und einen eigenen Stil zu pflegen, ohne den "Berliner Weg" zu verlassen. Andreas Schmidt wäre aus meiner Sicht jemand, der dafür geeignet wäre und im ganzen Klub - in der Kurve, bei den Mitgliedern, in der Geschäftsstelle - eine große Akzeptanz hat. Er kennt Hertha aus dem Effeff, war als Spieler sehr loyal und mannschaftsdienlich, sitzt seit Jahren im Aufsichtsrat des Klubs und hat durch seine berufliche Tätigkeit (Schmidt ist in der Finanzberatung tätig, d. Red.) einen großen ökonomischen Background. Ich weiß, dass Andreas keiner ist, den es unbedingt in die erste Reihe zieht, aber in dieser für Hertha außergewöhnlichen Situation würde ich es begrüßen, wenn er über seinen Schatten spränge.

Interview: Steffen Rohr

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