Bundesliga

Sven Mislintat spricht über Schmerzgrenzen des VfB Stuttgart

Stuttgarts Sportdirektor im Interview

Mislintat im Interview: "Selbst wenn wir absteigen, bleibt Rino unser Trainer"

Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat schwärmt von Trainer Pellegrino Matarazzo.

Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat schwärmt von Trainer Pellegrino Matarazzo. imago images/Sportfoto Rudel

Anfang der vergangenen Woche komplettierte Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat mit Chris Führich (23) seinen Wunschkader. Am Freitag brach sich der Neuzugang dann das Schlüsselbein und damit wieder ein Baustein heraus. Die Lücke soll nun aus dem Fundus der vielen blutjungen Talente geschlossen werden, von denen der VfB in dieser Saison noch mehr hat als im Vorjahr.

Herr Mislintat, vor einem Jahr stellte der kicker mit Blick auf die sehr junge VfB-Mannschaft die Frage: "Mut oder Übermut?". Eine Saison später ist der Kader nun noch jünger. Gilt wieder "Mut oder Übermut"?

Auf Übermut wäre ich damals wie heute nicht gekommen. Mut gehört aber ganz klar zu uns. Mut müssen und wollen wir auch haben. Wir handeln nach bestem Wissen und Gewissen und im Rahmen wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Der Altersschnitt aller eingesetzten VfB-Spieler 2020/21 lag bei genau 24,52 Jahren. Vor der neuen Saison liegt der des Kaders bei 23,30 - beide Male Platz 1 in der Liga. Jung, jünger, VfB?

Jung und jünger ist keine Zielsetzung. Das ist nur die Konsequenz unseres Handelns, unserer Philosophie, die sich aus den Rahmenbedingungen ergibt, unter denen wir arbeiten. Wir hatten in der Pandemie zwischen März 2020 und Juni 2021 ein Minus von rund 56 Millionen Euro zu verbuchen. Wir können nicht 40 Millionen Euro ausgeben, nur weil wir sie auf dem Transfermarkt eingenommen haben. Es gilt, Defizite mit Transfer- einnahmen zu kompensieren.

Gregor Kobel wechselte für 15 Millionen Euro zum BVB, Nicolas Gonzalez für 23,5 Millionen nach Florenz. Das Transferfenster ist bis Ende August offen …

Wir sind froh, dass wir zwei wirtschaftlich so wertvolle Transfers machen konnten, wissen aber um die klare Konsequenz, dass wir damit erst einmal sportliche Substanz verlieren. Aber wir sind von unserer Gruppe so sehr überzeugt, dass wir selbstbewusst genug sind zu sagen, dass wir unser Ziel, die Klasse zu halten, wieder erreichen werden.

Der VfB Stuttgart schielt also kein bisschen nach oben?

Nein, das kann man auch nicht oft genug wiederholen. Wir sind ein gebranntes Kind, nachdem wir nach dem Aufstieg 2017 und Platz 7 in 2018 ein Jahr später wieder abgestiegen sind. Es gilt, ruhig zu bleiben und nicht Schritt neun oder zehn vor dem zweiten Schritt zu machen. Schritt zwei ist nach dem Klassenerhalt der Klassenerhalt.

Bereitet es Ihnen keine Sorgen, dass jederzeit noch Abgänge, zum Beispiel von Sasa Kalajdzic, drohen?

Es ist nicht jederzeit möglich, sondern nur mit unserer Zustimmung, daher: nein. Sorgen würde mir bereiten, wenn wir nicht schon 38,5 Millionen Euro erwirtschaftet hätten. Das war das Wichtigste, um den Verein wirtschaftlich zu gesunden, und bedeutet: Schutz unserer Mitarbeiter, Schutz der Gehälter unserer Mitarbeiter und Spieler, Erhalt der wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit.

Qualitätsverlust ist eher zweitrangig?

Wir müssen ja nicht mehr verkaufen. Absolut nicht. Wir haben unser Wunschziel so gut wie erreicht - mit zwei Spielern. Damit war nicht unbedingt zu rechnen.

Wir haben alle Möglichkeiten dieser Welt, Nein zu sagen.

Sven Mislintat

Das bedeutet?

Wenn konkrete Angebote kommen, muss man sich diese genau anschauen und genau abwägen. Aber wir haben alle Möglichkeiten dieser Welt, Nein zu sagen.

Gibt es Schmerzgrenzen?

Es gibt sie jedenfalls für Klubs mit limitierten Budgets. Sogar für große Klubs. Nehmen wir Erling Haaland. Bisher heißt es, der BVB verkauft ihn nicht. In manchen Medien, auch im kicker, wird gemeldet, dass es ab nächstem Jahr ein Ausstiegsszenario für 75 oder 80 Millionen gibt. Wenn jetzt ein Klub 175 Millionen hinlegen sollte: Kann man es sich erlauben, für ein Jahr auf 100 Millionen zu verzichten …? Es gibt Schmerzgrenzen, aber wir sind zumindest in der Lage, diese hochzusetzen.

Gibt es auch Fristen?

Die Frist ist der 31. August. Für uns stellen sich bis dahin immer die Fragen: Was haben wir für einen Spieler? Was für einen Wert hat er? Wie schwer können wir ihn ersetzen? Können wir ihn durch das, was uns angeboten wird, ersetzen? Und können wir uns damit als Klub weiterentwickeln? Wenn ziemlich viele Jas dabei herauskommen, können wir darüber nachdenken, zu verkaufen.

Wenn ein Topklub am 30. August 30 Millionen für Kalajdzic bietet …

… dann wären das zwei Neins: Zu einem so späten Zeitpunkt Ersatz zu bekommen, ist sehr schwer bis unmöglich. Und: 30 Millionen würden nicht reichen.

Würde eine sehr hohe Transfersumme zu einem späten Zeitpunkt ein erhöhtes sportliches Risiko rechtfertigen?

Ja. Und die Erklärung ist ganz einfach: In dieser Saison haben wir die Situation, dass erstmals eine Spielzeit nicht schon zu Beginn komplett durchfinanziert sein muss. Wo es früher für eine nicht durchfinanzierte Saison keine Lizenz gegeben hätte, dürfen Klubs diesmal starten. Geht die Rechnung der Klubs nicht auf, gegebenenfalls zu späten Zeitpunkten Spieler zu monetarisieren, drohen schnell Punktabzüge.

Jünger kaufen und entwickeln, das ist der Schlüssel.

Sven Mislintat

Viele Klubs setzen auf junge Spieler. Gibt es eine Grenze nach unten, bis Erfolg sich irgendwann ausschließt?

Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich versuche, immer die beste Qualität zu verpflichten. Ungeachtet des Alters. Mit unserem Budget ist es schwer, zum Beispiel einen 23-Jährigen zu holen, der sicheres Champions-League-Niveau hat. Also suchen wir nach Spielern, von denen wir glauben, dass sie das Potenzial haben, eines Tages Champions League spielen zu können. Jünger kaufen und entwickeln, das ist der Schlüssel.

Ausbilden, um wieder abzugeben, klingt wenig sexy.

Wieso? Es ist Teil eines Prozesses, nicht nur Spieler zu entwickeln, sondern mit dem Profit dann auch den VfB. Nur mit Entwicklungsschritten als Klub schaffen wir es im Idealfall, die Spieler immer länger halten zu können. Vor zwei Jahren wären wir nicht in der Lage gewesen, Leistungsträger wie Orel Mangala oder Wataru Endo zu halten und mit ihnen zu verlängern. Aber der nächste Schritt kommt nicht automatisch.

Was ist denn der nächste Schritt?

Wir müssen immer hungrig bleiben, uns zu verbessern. Dazu müssen wir in unsere Gruppendynamik investieren, diese leben und aufrechterhalten. Das sind die Kernelemente bei uns. Auf jeder Ebene. Wir müssen uns im sportlichen Bereich verbessern und im Marketing in der Lage sein, mehr Einnahmen zu generieren. Was wiederum dabei helfen würde, weniger Einnahmen aus Transfers generieren zu müssen, und es uns deutlich einfacher machen würde, uns im gesicherten Mittelfeld festzusetzen.

Ist Entwicklung tabellarisch ablesbar?

Nein, dazu ist in einer Saison zu viel vom Zufall abhängig. Ich habe letzte Saison gesagt: Wir gehören zum dritten Drittel der Liga. Tabellenplatz 13 ist eigentlich unser Platz 1. Dass wir am Ende "minus Vierter" geworden sind, ist nicht schlecht.

Und bedeutet?

Nichts, denn im Prinzip hängen wir immer noch in der genannten Gruppe. Je weiter oben wir stehen, desto weniger Gefahr laufen wir, Probleme zu bekommen, wenn man mal nicht seine volle Leistung aufgrund von zum Beispiel Verletzungen abrufen kann oder sich gute Leistungen auf dem Platz nicht in einer verdienten Punktausbeute widerspiegeln. Deswegen ist es so wichtig, sich wirtschaftlich wieder ins Mitteldrittel zu verbessern, da eine Unterperformance dann nicht gleich akute Abstiegsgefahr bedeutet. Die Klubs zwischen Tabellenplatz 13 und 18 haben keine Marge für Fehler.

Jungs aus der zweiten Reihe, wie Mateo Klimowicz, Tanguy Coulibaly oder Naouirou Ahamada, sollen sich in vorderster Reihe zeigen. Sind sie so weit?

Ich nehme sie nicht mehr in die Pflicht als andere. Der Eindruck täuscht. Aber das sind so gute Jungs, dass es uns sehr wichtig erschien, ihnen weiteren Raum zu schaffen. Womit wir bei der Entscheidung wären, nicht mit Gonzalo Castro zu verlängern und damit 25 bis 30 Spiele Spielzeit freizugeben. Sie werden noch nicht mit der Konstanz Castros spielen, aber mit ihrem unfassbaren Potenzial sind sie Teil unserer Zukunft.

Zum Saisonstart geht es gegen Aufsteiger Fürth. Ein dankbarer oder ein undankbarer Gegner?

Undankbar. Aufsteiger kommen immer mit einer maximalen Euphorie. Fürth ist hochverdient aufgestiegen. Man kennt sie zwar aus der vergangenen Saison, aber es gibt auch immer Personalwechsel, was es erschwert, die Mannschaft richtig einzuschätzen. Wir haben uns damals gegen Fürth in der 2. Liga außerdem beide Male sehr schwergetan. Dass wir Favorit sind - als Mannschaft, die selbst noch sehr jung ist -, wird es auch nicht gerade einfacher machen.

Dann folgen Leipzig und Freiburg.

… gegen die wir in der Bundesliga aus vier Spielen keinen Punkt geholt haben. Aber wir gehen jedes Spiel so an, dass wir es gewinnen wollen.

Matarazzo wird 100 Prozent Champions-League-Trainer.

Sven Mislintat

Wie sieht das Stuttgarter Erfolgsrezept in dieser Saison aus?

Das absolut Entscheidende ist, dass wir uns treu bleiben und alles tun, um erfolgreich beziehungsweise erfolgreicher sein zu können. Um das bestmögliche Ergebnis zu bekommen, wollen wir tagtäglich daran arbeiten, besser zu werden. Daran lassen wir uns messen. In einer sehr guten Gruppe, einem sehr guten Miteinander. Und das konstant.

Auch wenn es mal eine Krise gibt?

Gerade dann. Denn auch das gehört zur Entwicklung dieses Klubs: Wir brauchen kein einziges Mal in dieser Saison, egal wo wir stehen, über den Trainer zu reden. Pellegrino Matarazzo ist der Beste, den wir haben können. Rino wird hundertprozentig ein Champions-League-Trainer. Er hat alles dafür.

Ein mutiges oder sogar ein übermütiges Bekenntnis?

Eines, welches eine sehr sachliche, objektive Analyse zur Grundlage hat. Egal, wo wir stehen, und selbst wenn wir absteigen, ist und bleibt Rino unser Trainer. Das bedeutet definitiv Entwicklung für den VfB. Hin zu Konstanz und zum Verständnis, dass wir nur als Gemeinschaft eine Krise bewältigen können, wenn es denn eine gäbe. Hin zum Verständnis, dass sich jeder im Klub in die Verantwortung nimmt.

Interview: George Moissidis

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