Bundesliga

Lienen und Siegmann: Erinnerungen an die späte Versöhnung

Vor 35 Jahren: Das bekannteste Foul der Bundesliga-Historie

Lienen und Siegmann: Erinnerungen an die späte Versöhnung

Versöhnung im Jahre 2012: Ewald Lienen (l.) und Norbert Siegmann schütteln sich die Hand.

Versöhnung im Jahre 2012: Ewald Lienen (l.) und Norbert Siegmann schütteln sich die Hand. kicker

Seit dem vom kicker arrangierten Treffen verstehen sich Lienen und Siegmann sehr gut, haben ein völlig entspanntes Verhältnis. Der einstige Übeltäter schaute sogar schon am Millerntor zu einem Heimspiel des FC St. Pauli vorbei, wurde freundlich begrüßt.

Die Versöhnung - vor allem Siegmann, der jahrelang unter dem "Schlitzer"-Ruf litt, fiel damit eine Last von den Schultern. "Dieses Treffen hat definitiv etwas mit mir gemacht", verriet der heute 63-Jährige einst dem Magazin "11 Freunde": "Es hat mich geheilt, könnte man sagen."

Auch fast vier Jahre später ist die Geschichte des ersten Wiedersehens daher immer noch lesenswert: "Die Versöhnung" (erschienen am 15. Oktober 2012 in der kicker-Ausgabe 84/2012):

DIE VERSÖHNUNG

Ewald Lienen ist zunächst skeptisch. "Tausend Sachen" habe er gemacht in seinem Leben. Klar, dass man sich da nicht auf "denjenigen, dem einmal das Bein aufgeschlitzt wurde", reduzieren lässt. Wollte er darüber wirklich noch einmal reden? Ein paar Tage vergehen. Lienen steigt in seinen Keller daheim in Mönchengladbach, zu den Kisten, die mehr als ein Dutzend Umzüge mitgemacht haben und in die er über 20 Jahre nicht geguckt hat. "Ich fand die Ordner. Zeitungsartikel, Genesungswünsche, Anwaltspost. Fast die ganze Nacht blieb ich unten und kam mit einer gefühlten Staublunge wieder nach oben."

Erhöhter Puls ist noch heute bei dem Gedanken an damals nicht selten für Norbert Siegmann (63). Irgendwann vor langer, langer Zeit hatte er Lienen kurz am Telefon. "Da ging es um Unterlagen von ihm für mein Buch, das ich immer schreiben wollte." Begegnet waren sie sich nie richtig. Und nun? War das endlich die Chance für einen Schlussstrich? Siegmann will, dann wieder nicht. "Ich habe keinen Bock mehr auf die Geschichte", hatte er gerade erst wieder jemanden angeraunzt, der ihn angesprochen hatte. "Zweimal habe ich überlegt, das Treffen abzusagen. Dann setzte ich mich ganz ruhig ins Auto."

Bielefeld, SchücoArena, Stadion des DSC Arminia. Schauplatz für ein Rückspiel der ganz besonderen Art. "Eigentlich überfällig" findet Lienen den Termin mit dem kicker, bei dem er nach 31 Jahren erstmals einen sehr speziellen Gegenspieler persönlich wiedersieht. "Eine spektakuläre Sache damals. Unendlich viele erinnern sich noch daran." Der erste Blickkontakt, das erste Händeschütteln der zwei seit jenem Tag, an dem das Schicksal sie in ihrem gemeinsamen Sport untrennbar zusammenführte.

Es passiert am 14. August 1981 im Bremer Weserstadion

Es passiert am 14. August 1981. Freitagabend, Weserstadion, zweiter Spieltag. Werder schlägt Arminia durch Norbert Meiers Tor 1:0. Doch das interessiert am Ende kaum. Nach knapp 20 Minuten kommt es zu einem Zweikampf, der in den Bundesliga-Geschichtsbüchern landen wird. Siegmann, Bremer Verteidiger, attackiert Lienen, Bielefelds Stürmer. Ein Kontakt, ein Aufschrei, Entsetzen. Bilder, die bis heute präsent bleiben. Ein Moment für die Ewigkeit. Lienen erleidet einen tiefen Riss am rechten Oberschenkel, Länge: über 20 Zentimeter.

Erstmals rekonstruieren die zwei nun gemeinsam noch einmal die Szene bis ins Detail. Allein hat sich Siegmann zuvor zigfach gefragt, wie das alles geschehen konnte. "Ich habe schon ein paar Tage länger nachgedacht", erzählt er. Wäre alles vermeidbar gewesen? "Ich will mir heute nichts zurechtlegen. Aber was ich weiß, ist, dass es keine Absicht war. Ich war ein Zerstörer. Doch ich wollte Ewald nicht verletzen."

Ein Ereignis mit schlimmen Folgen, aber auch ein für damalige Verhältnisse normales Foul. Siegmann: "Uns wurde doch gesagt: Entweder du bist bei der Ballannahme dran oder du siehst den Stürmer nur noch mit dem Fernrohr." Zustimmung von Lienen. "Norbert hat recht. So war das System. Die Verteidiger haben nicht lange gefackelt. Er hat einfach Pech gehabt, mich so zu erwischen."

Über Hergang und Umstände, über Werder-Trainer Otto Rehhagel und dessen Zuruf "Pack' ihn dir!", der anschließend Gegenstand von Gerichtsverhandlungen wurde, ist später viel geschrieben worden. Bilder und Videos des Fouls, Lienens Blut, seine drohende Faust gegen Rehhagel – all dies servieren digitale Archive im Handumdrehen. Wie aber ging das Leben der beiden Protagonisten weiter?

Lienen lief schon vier Wochen später wieder auf und wähnt sich heute sogar im Glück. "Hätte er mich weiter unten getroffen, am Knie, wäre es schlimmer ausgegangen. Zehn Zentimeter tiefer - und keiner hätte groß über das Foul gesprochen, aber ich wäre Sportinvalide geworden." So heilte die Wunde schnell, äußerlich. Doch es ging weiter. "Auswärts sangen Fans 'Schlitzt dem Lienen den Oberschenkel auf'. Das gehörte wohl dazu, leider."

Auswärts sangen Fans 'Schlitzt dem Lienen den Oberschenkel auf'. Das gehörte wohl dazu, leider.

Ewald Lienen

Mit "Siegmann, Siegmann"-Rufen wurde er noch Jahre später im Weserstadion begrüßt - Lienen konnte damit leben. Viel mehr beschäftigte ihn ein anderer Punkt. "Es ging mir nicht um Norbert. Norbert war einer von vielen." Einen speziellen, klar per Regel definierten Schutz für flinke Stürmer gab es noch nicht. Dafür reichlich Freiraum für harte Verteidiger. Erinnerungen. "Ich war schnell, bin aber immer auch gesprungen wie ein Hase. Es war wie ein Reflex: Ball klatschen lassen, hochspringen."

Lienen verkämpfte vergeblich für einen Präzedenzfall

Dann dieses "Jahrhundert-Foul", das alle aufschreckte. "Ich wollte einen Präzedenzfall schaffen, dass diese Art von Abwehrverhalten nicht rechtmäßig war", schildert Lienen heute seine Motivation, zunächst die DFB-Gerichtsbarkeit zu bemühen. "Alle sollten daraus lernen, etwas verändern." Der Kläger prallte mit seinem Ansinnen ab. Auch ein Verfahren gegen Rehhagel und der Versuch, zivilrechtlich die Strafbarkeit fahrlässiger Körperverletzung im Fußball festzustellen, blieben ergebnislos.

Die Schreiben der Anwälte und Richter, einen Berg von Berichten und Fotos, selbst den persönlichen Entschuldigungsbrief seines Peinigers - all dies hat Lienen akribisch gesammelt. Siegmann, nach dem Spiel in der Kabine unter Schock, schaut heute hin, lange und geduldig, ehe die Gefühle wieder hochkommen. "Ich merke, das reicht nun."

Werder-Profi Siegmann 1982/83

Werder-Profi Norbert Siegmann (Saison 1982/83) imago

Er war mit 28 noch jung. Groß geworden in einer Zeit, in der es gar keine Gelben Karten gab. "Heute kann ich Ewalds Vorgehen verstehen, es war absolut legitim." Siegmann selbst geriet in der Folge in eine merkwürdig-tragische Rolle zwischen Held wider Willen hier und Opfer, obwohl Täter, da. Ein Dasein im Schatten eines Fehltritts.

"Na, dem Lienen hast du es aber gezeigt", hörte er nicht selten von Sympathisanten. "Rechtsradikale in Bremen warben mit dem blutenden Lienen", erinnert sich Siegmann, "ich wollte dagegen angehen." Andere wiederum machten fast einen Attentäter aus ihm. Sogar die DDR-Medien hätten vom "Anschlag" auf den damals politisch links engagierten Lienen berichtet. Selten blieb es sachlich. Siegmann: "Ich habe schon 1972 für Stuttgart gespielt, doch ich wurde als Vorzeigeobjekt für die Klopper-Generation der 80er hingestellt."

Die DFL titelte auf ihrer Website zur Saison 1981/82 mit "Siegmann, der "Schlitzer". Klischees und ihre Folgen. "Ein Unding", echauffiert sich Lienen. Als "Zettel-Ewald" wurde er zu Trainerzeiten ebenfalls verunglimpft. Dennoch: "Für Norbert hat das alles eine viel größere Dimension erreicht als für mich, was mir wirklich leid tut."

Versöhnliche Worte. Mit Rehhagel, gegen den er prozessierte, schloss Lienen schon früh Frieden. "Wir telefonierten noch in der Saison '81/82, danach traf ich ihn als Trainerkollegen oft bei Spielen und Kongressen." In Griechenland wurden sie einst gleichzeitig gefeiert: Rehhagel mit der Nationalelf als Europameister 2004, Lienen als Coach des Überraschungsteams Panionios Athen.

An das erste sportliche Wiedersehen erinnert sich keiner von beiden

Mit Amateuren und Junioren trainiert auch Siegmann bis heute, in Vereinen und in Fußballschulen wie jener von Rudi Völler auf Mallorca. Die Szene von einst spielte - wie auch bei Lienen - dabei nie eine Rolle. "Man zuckte ja nicht bei jedem Zweikampf. Höchstens mal, wenn ich schwere Fouls sah." Ein einziges Spiel nur bestritt Siegmann noch gegen Lienen. Der war wieder nach Gladbach gewechselt, gewann im Pokal-Halbfinale 1984 mit Borussia gegen Werder - 5:4 nach Verlängerung. Kurios: Keiner der zwei hat noch Einzelheiten des vermeintlich so heiklen ersten sportlichen Aufeinandertreffens nach dem Eklat im Kopf.

Erinnert haben ihn zumeist andere, wie Siegmann schildert. "Einer aus der Menge erkennt dich und ruft: 'Ey, du Schlitzer!' Manchmal ging ich hin, schaute demjenigen in die Augen und fragte: 'Was ist denn mit dir los?'"

Einer aus der Menge erkennt dich und ruft: 'Ey, du Schlitzer!' Manchmal ging ich hin, schaute demjenigen in die Augen und fragte: 'Was ist denn mit dir los?

Norbert Siegmann

Aus der Bundesliga verschwand der Bremer - nach der einzigen Roten Karte seiner Karriere, erhalten in einem Freundschaftsspiel vor der Saison 1984/85. "Mit meiner Vorgeschichte bekam ich acht Wochen. Werder verpflichtete dann Michael Kutzop, ich spürte keinen echten Rückhalt mehr. Da habe ich resigniert." Zwei Spiele machte er noch für Fortuna Köln in der 2. Liga. Dann war Schluss, mit 32, Knieprobleme.

Siegmann: Die Karriere verflog, das Foul blieb haften

Die Karriere verflog, das Foul jedoch blieb haften. "Ich hieß ja fast Norbert Siegmann-Lienen. Drei-, viermal die Woche wurde ich angesprochen. Selbst wenn es nur im Vorbeigehen hieß: 'Grüß den Ewald schön!'" Als Streben zu neuen Ufern will Siegmann sein Globetrotter-Dasein nach der Profi-Laufbahn nicht verstehen. Doch es bediente Vorurteile, er sei geflüchtet, in andere Kulturen. Dazu sagt er nur: "Wenn man etwa einige Jahre in Indien verbringt, kann man sich den Einflüssen dort nicht verschließen." Über Mexiko und seine Heimatstadt Berlin kehrte er nach Bremen zurück, in einen Alltag als Ernährungsberater und Entspannungscoach. "Ich habe später Bielefeld die Daumen gedrückt", verrät er, "und ganz ehrlich, Ewald, wie du als Trainer einmal dem Schiri die Rote Karte aus der Hand geschlagen hast - das war richtig gut!"

Ewald Lienen und Norbert Siegmann

Ein Handschlag nach 31 Jahren: Ewald Lienen (l.) und Norbert Siegmann. kicker

Lienen lacht entspannt. Hinter ihm liegt gut ein Jahr des Zur-Ruhe-Kommens nach der aufreibenden Station bei der Arminia 2011. "Wenn du im Job stehst, bist du im Hamsterrad." Nach selbst verordneter Auszeit führte der Weg zurück an die Linie. "Wenn was Gutes kommt, will ich wieder als Trainer arbeiten", hatte er sich vorgenommen. In der vergangenen Woche war es so weit, Lienen heuerte erneut in Hellas an, diesmal bei AEK Athen. Auch Siegmann zieht es immer mal wieder in die Ferne, "nicht mehr suchend, aber auch noch nicht angekommen".

Dann sein Blick zurück nach vorn: "Gut, dass mit Ewald nun alles im Reinen ist. Wenn er über die Sache lacht, kann auch ich lachen. Und eines Tages werde ich ihn anrufen und nach Karten für ein Spiel seiner neuen Mannschaft fragen." Siegmann, Lienen, ein Handschlag nach 31 Jahren und die Erkenntnis, dass es abseits von Sieg und Niederlage, Leidenschaft oder Hass auch stets einen Weg zueinander gibt. Selbst, wenn diese beiden Endfünfziger mehr als ihr halbes Leben darauf warteten, ihn zu gehen.

Michael Richter