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Warum Brasilien unter Fernando Diniz anders spielen wird

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Guardiolas Gegenentwurf: Warum Brasilien unter Diniz komplett anders spielen wird

Spielen wie 1982, aber endlich mal wieder was gewinnen? Fernando Diniz (Mi.) soll Brasilien darauf vorbereiten.

Spielen wie 1982, aber endlich mal wieder was gewinnen? Fernando Diniz (Mi.) soll Brasilien darauf vorbereiten. imago images (3)

Brasilien ist Rekordweltmeister. Daher rührt die Sonderstellung, die die Seleçao im Weltfußball nach wie vor einnimmt, aber nur bedingt. Immerhin ist seit 2002 kein Titel mehr dazugekommen. Es waren vielmehr die spielerischen Höhen, die die Zauberer vom Zuckerhut erreichten, die Brasilien zwar nicht zum Mutterland des Fußballs werden ließen, aber gewissermaßen zum Mutterland des schönen Fußballs.

Als Schönheit und Erfolg in der bis heute wohl umjubeltsten aller Weltmeister-Mannschaften gipfelten, 1970 in Mexiko, war Paulo Cesar Caju dabei. An diese Tage denkt der heute 74-Jährige noch gerne, inzwischen unterstützt er die Seleçao nicht mehr. "Die Philosophie ist zu pragmatisch", klagt er. "Dass wir 1982 verloren haben, ist doch egal. Über die Mannschaft von 1994 redet schließlich keiner mehr."

Als Zico und Socrates scheiterten, veränderte sich Brasiliens Spielweise grundlegend

Die beiden Weltmeisterschaften in den 1980er Jahren, als Zico, Socrates und Co. noch schöner spielten als die 1970er, sie in ihrer Schönheit - oder Naivität - jedoch "starben", hatten den Fußball der brasilianischen Nationalmannschaft nachhaltig verändert. In der Folge spielte die Seleçao strukturierter, vorsichtiger, defensiver. Weniger frei, weniger mitreißend, weniger schön. Weniger brasilianisch, mehr europäisch.

1994 und 2002 warf die neue Herangehensweise noch einmal zwei WM-Titel ab, mit Mannschaften, die sich weitaus weniger ins kollektive Fußballgedächtnis einbrennen konnten. Mit dem Verlust der fußballerischen Identität hat man auch Puristen - und davon gibt es unterm Zuckerhut viele - mehr und mehr verloren. Fragt mal Paulo Cesar Caju.

Brasilien bei der WM 1982

Pärchenbildung auf engem Raum: Eder, Zico, Serginho und Socrates (v. li.) bei der WM 1982. imago sportfotodienst

Erfolg rechtfertigt zwar auch in Brasilien vieles, aber der bleibt ja seit über 20 Jahren aus. Bei der WM in Katar war erneut schon im Viertelfinale Schluss. Also zurück in die Zukunft, endlich?

Unter den Top-Trainern des europäischen Spitzenfußballs der Gegenwart ist Real Madrids Carlo Ancelotti der, dessen System am wenigsten rigide daherkommt. Individualismus führt seine Mannschaften zum Erfolg. Ihn hat sich die Seleçao ab 2024 gesichert.

Bis dahin übernimmt eine Interimslösung. Sie hört auf den Namen Fernando Diniz. Der Name des Erlösers, wie manch Purist sagen würde. Diniz, 49 Jahre alt und ehemaliger Erstligaspieler, lässt den Rio-Traditionsklub Fluminense seit anderthalb Jahren einen Fußball spielen, wie ihn selbst Brasiliens Oberhaus schon eine Weile nicht mehr gesehen hat. Erinnerungen werden wach.

Die, die nichts riskieren, riskieren am meisten.

Fernando Diniz

Einer der besten Trainer Südamerikas, der neue Chefcoach der Seleçao, stellt dabei den absoluten Gegenentwurf zu Europas gefeiertstem Fußballdenker Pep Guardiola dar. Wo der Katalane nach der absoluten Kontrolle lechzt, um Zufälle und die Wahrscheinlichkeit ungewollter Ereignisse zu minimieren, will Diniz genau das Gegenteil: Chaos. Unkontrolliertheit. Im "Dinizismo" soll der Vorteil aus der Unberechenbarkeit des Spiels entstehen.

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"Die, die nichts riskieren, riskieren am meisten", sagt Diniz, dessen Mannschaften man mit Zahlenfolgen à la 4-2-3-1 oder 3-1-4-2 kaum in Formationen pressen kann. Das ist der größte optische Unterschied: die Struktur. Oder besser gesagt: keine Struktur. Eine sich ständig ändernde Struktur. Diniz wird zum Hoffnungsträger des Relationismus hochgejauchzt, dem Gegenstück zum Guardiola'schen Positionsspiel. Es geht nicht um vorgegebene Raumaufteilung, sondern um das Verhältnis und die Abläufe zwischen den Spielern.

Einige Räume bleiben bei Diniz oft unbesetzt

Der Rechtsaußen taucht plötzlich neben dem Linksaußen auf, wenn sich das Zusammenspiel beider in diesem Moment als am aussichtsreichsten erweist, um sich in einem Raum durchzusetzen, der nichts mit der vermeintlichen Position dieser Spieler zu tun haben muss. Manchmal versammelt sich die halbe Mannschaft auf zehn mal zehn Metern, wenn sie so einen Vorteil generieren kann.

Die Struktur in Diniz-Mannschaften orientiert sich nicht am Raum, sondern am Ball. Seine Spieler warten nicht in gewissen Räumen auf den entscheidenden Zeitpunkt, sie bewegen sich zu einem gewissen Zeitpunkt in die entscheidenden Räume. Räume, die in anderen Spielsituationen einfach unbesetzt bleiben. Guardiola würde durchdrehen.

Fernando Diniz

Mindestens so hektisch wie Guardiola: Fluminense-Coach Fernando Diniz an der Seitenlinie. IMAGO/Action Plus

Die Seleçao wird viele Doppelpässe spielen

"Geht's raus und spielt's Fußball" sagen und sich zurücklehnen - so funktioniert Diniz dann aber auch nicht. Natürlich lässt er seine Spieler nicht einfach nur machen. Dann wäre er überflüssig. Um vielleicht nicht Räume zu manipulieren, sehr wohl aber Situationen und Gelegenheiten, studiert auch er Grundprinzipien, gewisse Abläufe ein. Auch er will schließlich den Ball und das Spiel dominieren.

Da wären zum Beispiel Doppelpässe. Oft ist sein erster Passgeber der zweite Passempfänger. Das hebelt manchmal selbst organisierteste Verteidigungsreihen aus, die auf Anordnungen, die im Relationismus durch spontane Bewegungen neu entstehen, so schnell gar nicht reagieren können. Oder die "Escadinha" (zu Deutsch Treppe oder Leiter), wenn sich drei Spieler diagonal hintereinander in einer Linie positionieren. Ein fantastisches Stilmittel, um den Ball zu treiben und Linien zu überspielen. Und eines, das weitere Situationen für Doppelpässe erzeugt.

Auch im Dinizismo gibt es also Strukturen, hauptsächlich solche "Kurzzeit-Strukturen", die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden, die kaum ausrechenbar sind. Auch im Dinizismo gibt es noch Positionen, oder eher Rollen, die aber selten an bestimmte Zonen gebunden sind. Auch Diniz studiert seine Prinzipien ein und will sie umgesetzt sehen - ansonsten schreit auch er von außen rein. Das tut er oft.

Sein Stil würde sehr gut zur Seleçao passen.

Neymar über Fernando Diniz

Brasiliens neuer Nationaltrainer, der in der Nacht auf Samstag in der WM-Qualifikation gegen Bolivien erstmals an der Seitenlinie steht, lässt keine andere Sportart spielen. Doch er interpretiert sie auf eine weitgehend andere Weise als große Teile der restlichen Fußballwelt, die das europäische Positionsspiel adaptiert hat. Das galt auch für die Seleçao unter Tite, deren Raumaufteilung noch bei der WM in Katar an Luis Enriques Spanien erinnerte. Nun winkt eine 180-Grad-Neuausrichtung.

"Es ist eine große Umstellung, eine Herausforderung", gab Verteidiger Danilo am Dienstag auf einer Pressekonferenz zu. "Aber ihm (Diniz) ist klar, dass die perfekte Umsetzung Zeit brauchen wird. Und ich kann sehen, dass es ihm das Wichtigste ist, dass sein Fußball den Spielern und den Fans Freude bringt."

Neymar, Dani Alves

Brasiliens bis dato letzten WM-Titel erlebte Neymar (li.) als Zehnjähriger. Inzwischen ist er 31. IMAGO/ABACAPRESS

Auch bei Brasiliens Superstar kommt Diniz an: "Meiner Meinung nach heißt der ideale Trainer für die brasilianische Nationalmannschaft Fernando Diniz", sagte Neymar unlängst. "Sein Stil würde sehr gut zur Seleçao passen", schwärmte der intuitive Freigeist. Ihm könnte die Rolle winken, die Diniz bei Fluminense Neymars ehemaligem Santos-Mitspieler Ganso einräumt - die des klassischen Zehners, taktisch pflichtbefreit. Frei, um seinen Ideen freien Lauf zu lassen. Das gibt es in Europa, wo Ganso beim FC Sevilla wie ein Fremdkörper wirkte, schon lange nicht mehr.

"Im heutigen Fußball geht es nur noch um die Taktik. Um Viererketten, tiefe Blöcke, mittlere Blöcke … Leute lernen ein halbes Dutzend dieser Begriffe auswendig und verändern damit, wie über Fußball gesprochen wird", bezog sich Diniz jüngst auf die Norm unserer Zeit: "Wir verlieren das Herz des wahren Fußballs." Der wahre Fußball - für ihn ist das der Relationismus, die Stärke von Verbindungen, das spontane Nutzen der Unberechenbarkeit.

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Berechnen lässt sich sein Erfolg mit dieser Herangehensweise, der bisher ziemlich unterschiedlich ausfiel. Zumindest vor Fluminense, wo er eine Durchschnittsmannschaft ohne die großen finanziellen Mittel mit atemberaubendem Fußball auf Platz drei in der Liga und zur Staatsmeisterschaft in Rio führte.

Sein Fußball, auf dem höchsten Niveau so einzigartig, lässt sich augenscheinlich nur mit dafür geeigneten Spielern spielen. Etwa mit brasilianischen Straßenfußballern. Mit Neymar. Mit Vinicius Junior oder Rodrygo von Ancelottis Real Madrid. Doch aufgepasst. Dinizismo ist riskant. Beißt sich an tiefstehenden Gegnern manchmal die Zähne aus. Ist anfällig gegen Mannschaften, die freie Räume ausnutzen und sauber kontern können. Genau damit hatte der Untergang dieser Spielweise in den 80er Jahren angefangen.

Niklas Baumgart

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