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WM 2022: Infantino klagt "westliche Doppelmoral" an

FIFA-Chef spricht zum WM-Auftakt

Drastische Worte: Infantino klagt "westliche Doppelmoral" an

Ungewöhnliche Wortwahl: Gianni Infantino.

Ungewöhnliche Wortwahl: Gianni Infantino. Icon Sport via Getty Images

Aus Katar berichten Sebastian Wolff und Thiemo Müller

"Heute fühle ich mich als Katari, als Afrikaner, als Araber, als Homosexueller, als Behinderter, als Wanderarbeiter", begann Gianni Infantino seine Ausführungen im FIFA-Mediencenter in Doha. Und: Gerade der letztgenannte Bezug bringe ihn gedanklich "zurück zu meiner eigenen Geschichte". Schließlich sei er "selbst ein Sohn von Gastarbeitern", formulierte der 52-Jährige, "meine Eltern haben sehr, sehr hart gearbeitet unter sehr, sehr harten Bedingungen."

Nicht in Katar, sondern in der Schweiz. "Ich erinnere mich genau, wie Gastarbeiter dort lebten und welche Rechte sie hatten. Wie sie an der Grenze behandelt wurden, was mit ihren Pässen geschah, ihren Medizinchecks und ihrer Unterbringung. Und ich bin keine 150 Jahre alt…" Was Infantino zum Ausdruck bringen wollte: So wie die Schweiz, wie generell Europa, einen Prozess zu heutigen Standards durchlaufen habe, müsse dies auch WM-Gastgeberland Katar zugestanden werden.

Wir Europäer müssten uns 3000 Jahre lang entschuldigen, bevor wir Lektionen erteilen.

Gianni Infantino

Stattdessen, klagt Infantino, hätten "die westliche Welt, einige Europäer, uns speziell in den letzten Wochen eine Lektion in Moral erteilt. Oder besser gesagt: In Doppelmoral. Das ist traurig. Ich bin auch Europäer. Angesichts dessen, was wir in den letzten 3000 Jahren rund um die Welt getan haben, sollten wir uns 3000 Jahre lang entschuldigen, bevor wir moralische Lektionen erteilen." Worte, die in den Ohren der katarischen Obrigkeit gewiss wie Musik klingen.

Danach fragte Infantino: "Wieviele der europäischen Firmen, die in oder mit Katar Millionen und Milliarden verdienen, haben in der Vergangenheit die Rechte von Wanderarbeitern angemahnt?" Die Antwort gab er natürlich gleich selbst - und verwies dabei gar auf eine in seiner Wahrnehmung moralische Vorbildfunktion seines Verbands: "Keine Firma hat das getan, weil es den Profit geschmälert hätte. Aber wir von der FIFA haben es getan. Die Fortschritte in Katar hätten sich nicht oder zumindest nicht so schnell eingestellt ohne den Druck durch die WM."

"Einseitige Moral-Lektionen" und "Heuchelei"

Im weiteren Verlauf wartete Infantino mit einer ganzen Reihe von Beispielen für die von ihm kritisierte Doppelmoral auf. Etwa mit Bezug auf eine Studie der Organisation "Human Rigths Watch", wonach "in den vergangenen acht Jahren 25.000 Menschen wegen der europäischen Migrationspolitik gestorben" seien. "Da fragte niemand nach einer finanziellen Kompensation." Anders als europäische Länder gebe dagegen Katar mit einer Politik der offenen Grenzen "vielen Menschen die Möglichkeit, auf legalem Weg hier Arbeit zu finden, zehn Mal mehr zu verdienen als in ihrer Heimat und ihren Familien zu helfen, um zu überleben."

Angesichts dessen seien "die einseitigen Moral-Lektionen schlicht Heuchelei". Die Fortschritte, die Katar in Bezug auf die Arbeitsbedingungen gemacht habe, würden "von Menschenrechtsorganisationen anerkannt, von vielen Medien aber nicht. Viele Organisationen haben festgestellt, dass die Bedingungen für Arbeiter hier ähnlich sind wie in Westeuropa. Das lese ich aber nirgends - außer in den Reports."

Konkret stehe ein zentrales "Helpcenter" für Wanderarbeiter in Katar kurz vor der Einrichtung. "Da sind nur noch Formalitäten zu klären", versichert Infantino nach "vielen Gesprächen mit der katarischen Regierung. Das ist ein großes Kommitment und ein echter Fortschritt." Zweitens habe Katar aus einem staatlichen Fond seit 2018 insgesamt 315 Mio. US-Dollar "gezahlt für Arbeiter in Not und nach Unfällen.

Das heißt: Jeder Arbeiter, der hier einen Unfall hat, erhält eine Kompensation, wohlgemerkt von Gesetz wegen." In Zukunft werde die Bereitschaft dazu sicher nicht geringer, "aber die Summe hoffentlich schon, weil es weniger Unfälle gibt aufgrund von besseren Sicherheitsstandards - hoffentlich auch dank westlicher Firmen." Und schließlich habe auch die FIFA einen "WM 2022 Legacy Fund" eingerichtet, "in den jeder, der möchte, spenden kann".

Hauptsächlich speise er sich aber natürlich aus den Turniereinnahmen, komme ebenfalls verunglückten Arbeitern und deren Familien zugute. Ein Teil der Summe, deren Höhe erst nach der WM feststeht, gehe aber auch "in Bildungsmaßnahmen für Kinder in Entwicklungsländern. Ich danke den katarischen Behörden, dass sie dem zugestimmt haben. Denn normalerweise geht ein solcher FIFA-Legacy-Fund zur WM in den lokalen Fußball."

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Desweiteren verwies Infantino auf die katarische Hilfsbereitschaft bei der Evakuierung von 140 Fußball spielenden Mädchen und Frauen aus Afghanistan nach Machtübernahme der Taliban. "Dank des katarischen Außenministers konnten wir sie retten und hierher bringen." Dagegen hätten "in Europa außer Albanien alle die Türen zugemacht".

Öffentlich homosexuell? Mein Vater hätte eine andere Antwort gehabt.

Gianni Infantino

Über "die LGBT-Situation", schloss Infantino an, habe er in Katar ebenfalls "gesprochen mit der höchsten Führung des Landes. Nicht nur einmal, sondern mehrfach. Danach kann ich bestätigen: Jeder ist willkommen. Und wenn jemand hier das Gegenteil sagt, ist es nicht die Meinung dieses Landes. Und ganz sicher nicht die Meinung der FIFA." Auch bei dieser Thematik verweist Infantino auf den immer wieder erwähnten "Prozess".

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Er sei - im Widerspruch zur katarischen Gesetzgebung - "natürlich dafür, dass es erlaubt ist, öffentlich homosexuell zu sein. Aber wenn ich meinen Vater gefragt hätte, hätte er eine andere Antwort gehabt. Solche Gesetze gab es 1954 auch noch in der Schweiz, auch sie hat damals eine WM ausgerichtet."

Auf sein Heimatland verwies der gebürtige Walliser, der seit einiger Zeit einen Großteil des Jahres in Katar lebt, auch im Zusammenhang mit dem Frauenwahlrecht: "Der letzte Kanton hat es in den 90ern eingeführt. Wohlgemerkt nicht in den 1890ern, sondern den 1990ern. Und nicht, weil die Männer dort das wollten. Sondern weil es vom höchsten Schweizer Gericht erzwungen wurde."

FIFA-Turniere auch in Iran und Nordkorea denkbar

Letztlich mündeten Infantinos Ausführungen immer wieder in denselben Appell: "Wir sollten in den Spiegel schauen und zur Kenntnis nehmen, woher wir kommen. Deshalb sollten wir heute nicht spalten, provozieren und andere anklagen, sondern sie beteiligen und überzeugen, dass unser Weg der richtige ist. Nur so geht es. Und nicht, indem wir auf andere spucken, weil sie anders fühlen." Die FIFA sei dabei "nicht die UN und nicht die Weltpolizei, unsere einzige Waffe ist der Ball". Und die wolle er, so Infantino, auch in seiner so gut wie sicher feststehenden nächsten Amtszeit ab 2023 weiterhin weltweit einsetzen.

Die Ausrichtung von FIFA-Turnieren sei für ihn auch in Staaten wie dem Iran oder Nordkorea denkbar. Denn: "Es geht nicht um Regimes, es geht um Fußball. Auch in solchen Ländern sind nicht alle Menschen schlecht. Und wollen Sie wirklich dem Fußball verbieten, Menschen zusammenzubringen?" Dann sei womöglich ein "Weltkrieg" die Alternative. "Wir werden weiter kämpfen, kämpfen, kämpfen, um Menschen zusammenzubringen", kündigt Infantino an, "weil es sonst niemand macht."

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