Bundesliga

Wo Pal Dardai bei der Hertha jetzt ansetzen muss

Hierarchie, Defensive, Standards: Viel Arbeit für Herthas Comeback-Trainer

Dardais kniffliger Job: Wo er jetzt ansetzen muss

Wieder als Cheftrainer zurück bei Hertha BSC: Pal Dardai.

Wieder als Cheftrainer zurück bei Hertha BSC: Pal Dardai. imago images

Träumen - das ist für den in der Regel gegen 22 Uhr zu Bett gehenden Familienmenschen Pal Dardai ausschließlich eine Sache für die Nacht. Tagsüber predigt der Ungar Realismus und setzt auf harte Arbeit. Platz 14 mit vermeintlich komfortablem Puffer auf die direkten Abstiegsränge, dazu ein nach Meinung vieler individuell gut besetzter Kader: Das klingt oberflächlich betrachtet so, als böte die Rettungsmission, die Dardai am Dienstag mit seiner ersten Ansprache ans Team und der folgenden Trainingseinheit auf dem Platz antrat, kaum Potenzial zum Scheitern. Genau diese Wahrnehmung ist der gefährlichste Fallstrick, das hat Dardai schnell erkannt: "Die Situation wird von einigen unterschätzt." Von ihm nicht. Er nennt die momentane Gemengelage verglichen mit der Situation im Februar 2015, als er Hertha auf Platz 17 von Jos Luhukay übernahm und rettete, sogar "einen Tick schwieriger". Das ist kein Alarmismus. Dardais nüchterne Einschätzung speist sich aus der Vielzahl an Problemen, die diesen beständig unbeständigen Kader bislang durch die Saison begleiten.

Hierarchie: Aus dem bisherigen Neben- muss ein Miteinander werden, sportlich und sprachlich. Dringend gesucht: Führungsspieler. "Wir haben eine individuell sehr gute Mannschaft, aber es nicht geschafft, eine Achse beziehungsweise eine Mannschaftsleistung auf den Platz zu bringen", sagt Herthas Vorstandschef Carsten Schmidt. Jeder neben jedem, wahlweise sogar jeder gegen jeden - das war der Eindruck. Unter Dardai müssen sich Teamgeist und Hierarchie ausbilden. Sein erster Eindruck am Dienstag war positiv, die befürchtete Raubtier-Kohorte fand er in der Kabine nicht vor ("Ich habe wirklich nicht geschlafen und gedacht: Man, ich komme hier rein, hier sind 20 Alligatoren, und sie werden mich wahrscheinlich auffressen, weil sie ein paar Trainer aufgefressen haben. Aber es ist komplett anders."). Auch Sportdirektor Arne Friedrich sieht das Vorantreiben der hierarchischen Entwicklung als Kernaufgabe der nächsten Wochen: "Der Kader ist sehr talentiert, aber er befindet sich noch in der Kinderstube. Es muss sich erst noch eine neue Hierarchie bilden. Das ist etwas, wofür wir Pals Hilfe brauchen." Dardai muss schleunigst jene Achse finden, die Vorgänger Bruno Labbadia nach dem zu wuchtig geratenen Umbruch im Sommer bis zum letzten Arbeitstag in Berlin nicht fand.

Zwei Kardinalprobleme haben sich Dardai offenbart

Defensive: 32 Gegentore nach 18 Spielen - anfälliger sind nur die Kellerkinder Schalke (48) und Mainz (38). Hertha verteidigt schon die ganze Saison verblüffend sorglos: Krasse individuelle Aussetzer, mangelnde mannschaftliche Kompaktheit, dazu das nur in Spurenelementen nachweisbare Verständnis mancher Offensivkräfte für konzertiertes Anlaufen und engagierte Defensivarbeit - das war ein Paket, an dem sich Labbadia verhob. Schon in der ersten Analyse seines neuen Teams haben sich Dardai zwei Kardinalprobleme offenbart: zu große Räume im Zentrum - und das teils halbherzige Umschaltverhalten nach Ballverlusten.

Chancenverwertung: Niemand vergab zuletzt klare und klarste Möglichkeiten laxer als Hertha. Überzahlangriffe wurden egoistisch ausgespielt und abgeschlossen (Matheus Cunha gegen Bremen), Bälle in aussichtsreichen Positionen nicht voll getroffen (Jhon Cordoba in Bielefeld), selbst vom Punkt gab Hertha sich und dem Rest der Fußball-Welt Rätsel auf: Krzysztof Piatek gegen Hoffenheim, Matheus Cunha gegen Bremen - beide stoppten inmitten ihrer Strafstoßausführung effektheischend ab und verschossen. Dass Hertha in zwei Bundesliga-Spielen hintereinander jeweils einen Elfmeter vergab, war eine Premiere. Jede einzelne Situation kann passieren. In Summe ergab sich aber das Bild einer Mannschaft, der es auch im Abschluss an Zielstrebigkeit und Seriosität fehlt.

Standards: Aufs erste Tor nach einer eigenen Ecke warten in dieser Saison nur noch drei Klubs: Augsburg, Bielefeld und eben Hertha. Auch ein Treffer nach einem direkten Freistoß fehlt bislang in der Berliner Bilanz. Die eklatante Harmlosigkeit bei ruhenden Bällen ist eines der großen Probleme dieses Teams, das am Samstag nach der einzigen Bremer Ecke (Eckenverhältnis 7:1) prompt ein Gegentor kassierte. Mit seinem langjährigen Vertrauten Admir Hamzagic hat Dardai einen Co-Trainer im Stab, der als Standard-Spezialist gilt. Beschäftigungsmangel droht auch Hamzagic nicht.

Ruhe und Stabilität sind gefragt

Kontinuität: Zu viele taktische und personelle Experimente unter Labbadia zehrten am Selbstverständnis der mental ohnehin angeknockten Mannschaft. Dardai wird auf ein festes System und ein großes Gerüst an Stammkräften setzen. Er wird personell vermutlich ein paar neue Impulse geben, aber er muss vor allem Ruhe und Stabilität reinbringen und der Mannschaft feste Abläufe und Muster an die Hand geben. Hertha braucht, was System und Personal angeht, klarere Konturen auf dem Platz.

Abhängigkeit von Matheus Cunha: Der Brasilianer ist Fluch und Segen zugleich für Hertha. Er ist der stärkste Individualist des Kaders und war in etlichen Spielen seit seiner Verpflichtung vor einem Jahr die Lebensversicherung. Aber er will jeden Angriff derart dominieren, dass man in einigen Sequenzen geneigt ist, beim Spielleiter die Zulassung eines zweiten Balles zu beantragen. Der im Herbst erstmals für die Selecao nominierte Freigeist hat fraglos die Qualität, seine Mitspieler besser zu machen. Aber er neigt mit seiner Kopf-durch-die-Wand-Attitüde bisweilen dazu, manche Kollegen so konsequent zu übersehen, dass sie an den Rand der Unsichtbarkeit gelangen. Herthas Spiel braucht auch in der Offensive mehr Balance. Richtig ist beides: Matheus Cunha muss mannschaftsdienlicher werden - aber er benötigt zugleich mehr Unterstützung.

Steffen Rohr