Bundesliga

BVB-Enthüllungen vor 20 Jahren: Was kostet die Welt?

Den Dortmundern drohte die Pleite

BVB-Enthüllungen vor 20 Jahren: Was kostet die Welt?

Das Wappen war kein Heiligenschein: Der ehemalige BVB-Präsident Gerd Niebaum und Ex-Manager Michael Meier

Das Wappen war kein Heiligenschein: Der ehemalige BVB-Präsident Gerd Niebaum und Ex-Manager Michael Meier imago images

Kurz vor Feierabend am vierten Advent des Jahres 2003 kippt die Stimmung in Deutschlands Sportredaktionen von weihnachtlich-besinnlich auf hektisch-betriebsam. In brisanten Vorabmeldungen berichten der kicker und die "Süddeutsche Zeitung" darüber, dass Borussia Dortmund in schlimmen finanziellen Schwierigkeiten steckt und sich beim Londoner Investmentbanker Stephen Schechter um eine Anleihe von bis zu 100 Millionen Euro bemüht.

Wenige Stunden später nehmen Präsident Dr. Gerd Niebaum und Manager Michael Meier in einer eilig einberufenen Pressekonferenz dazu Stellung. Ihre Gesichter an diesem 22. Dezember: so bleich wie der Mond. Dortmunds Bosse fühlen sich gekränkt, sie schimpfen und drohen mit rechtlichen Konsequenzen. Eine schöne Bescherung, so kurz vor dem Weihnachtsfest.

Das Einschreiten der Medien würdigte der BVB nur zwischen den Zeilen

Recherchen von kicker und "SZ" enthüllen riesige Haushaltslöcher und einen akuten Liquiditätsengpass bei Borussia Dortmund. Dutzende weiterer Texte über Größenwahn auf grünem Rasen folgen in den nächsten 15 Monaten. Dass es den achtmaligen deutschen Meister ohne die später mit dem Henri-Nannen-Preis (heute: Stern-Preis) für die beste investigative Leistung des Jahres prämierte Artikelserie und das hartnäckige Einschreiten dieser Medien womöglich heute nicht mehr gäbe, gilt in Fachkreisen als sehr wahrscheinlich.

Als eine kicker-Recherche den Finanz-Wahnsinn des BVB enthüllte

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In dieser Deutlichkeit hat das der BVB nie eingeräumt. Boss Hans-Joachim Watzke äußert in einem Sonderheft zum 100. Geburtstag des kicker nur: "Der 22. Dezember 2003 war der Urknall dafür, dass man sich den finanziellen Schwierigkeiten der Borussia überhaupt zuwandte."

Der Gehaltsverzicht? Nur ein Tropfen auf den heißen Stein

Schonungslos deutlich warnt auch Peter-Thilo Hasler früh vor dem sich abzeichnenden Finanzdesaster. Der als Unternehmensanalyst für die Münchner Hypo-Vereinsbank tätige Experte prophezeit dem BVB fürs Geschäftsjahr 2003/04 in einem aufsehenerregenden Report einen "gigantischen Verlust". Er behält recht: Am Ende der Saison räumt Dortmund ein schockierendes Minus von 67,7 Millionen Euro ein. Für Hasler ereignet sich ein "GAU mit Ansage". Der größte anzunehmende Unglücksfall.

Erste Hinweise, wie tief Borussia Dortmund in der Tinte sitzt, liefert der 23. August 2003. Der BVB scheitert in der Qualifikation zur Gruppenphase der Champions League an Club Brügge. Auf der Tribüne schlägt Niebaum entgeistert die Hände vors Gesicht, dem Traditionsklub fehlen jetzt fest einkalkulierte 30 Millionen Euro in der Kasse. Ein Albtraum beginnt.

Nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist der Gehaltsverzicht von 20 Prozent, der den Profis abgerungen wird. Borussia Dortmund steht am Abgrund. Die größte Krise in der Vereinsgeschichte wird sichtbar. Aber nur scheibchenweise kommt die Wahrheit ans Licht. Der BVB ist ein Sanierungsfall.

Wer gegen den FC Bayern antreten will, muss das mit den Mitteln des FC Bayern tun und nicht mit denen des VfL Bochum.

BVB-Manager Michael Meier

Am 31. Oktober 2000 hatten sich Niebaum und Meier noch für den Börsengang feiern lassen - und für einen ordentlichen Emissionserlös, nach Abzug aller Kosten 130 Millionen Euro. Damit sei die Borussia "einer der reichsten Sportvereine mit einem der größten Vermögen", trompetete Niebaum. Tatsächlich war der Börsengang aber kein visionärer Akt - der BVB brauchte frisches Geld. Geld, um schon damals aufgelaufene Verbindlichkeiten zu tilgen.

Und um noch mal groß einzukaufen: Bei Tomas Rosicky gewann Dortmund den Bieterwettstreit gegen Bayern (Ablöse 14,7 Millionen Euro); bei Jan Koller (10,7 Millionen Euro) und Marcio Amoroso (21,5 Millionen) zogen die Westfalen ebenfalls die Spendierhosen an. Was kostet die Welt? Den BVB-Bossen war's egal. Sie wollten am großen Rad drehen. Und verpulverten Unsummen. "Wer gegen den FC Bayern antreten will, muss das mit den Mitteln des FC Bayern tun und nicht mit denen des VfL Bochum", sagte Meier.

Dortmunds Philosophie der Expansion auf Pump war in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gerade noch aufgegangen. Für die Meisterschaften 1995 und 1996 kaufte der BVB alles, was gut und teuer war (Sammer, Reuter, Möller, Cesar, Kohler, Herrlich, Sousa). Die errungenen Titel schmückten den Briefbogen - der immer mehr ausufernde Kostenapparat hätte ohne den Champions- League-Sieg 1997 schon viel früher zu einer finanziellen Notlage führen können. Bis auf annähernd 119 Millionen Euro - eine für damalige Verhältnisse unfassbare Summe - türmte sich Anfang 2005 der Schuldenberg.

Dortmund verpfändete die Transferrechte an Spielern wie Rosicky, Ewerthon oder Metzelder, verpfändete die Rechte an Klubnamen und -Logo und veräußerte sein Stadion für 75 Millionen Euro. Nur 27 Millionen Euro standen davon zur freien Verfügung, 48 Millionen wanderten in ein Festgelddepot.

Nach siebenstündiger Debatte stimmten 94,4 Prozent der Gläubiger zu

Bis zu 17 Millionen Euro jährlich zahlte der BVB an Miete, um im Westfalenstadion weiter Spiele bestreiten zu können. Das war das traurige Resultat eines "Sale and lease back"-Verfahrens, auf das sich die Borussia in ihrer Not eingelassen hatte. Wieder wäre das zuvor mit einem immensen finanziellen Aufwand in mehreren Stufen ausgebaute Stadion fast zum BVB-Grab geworden.

Der Verein kämpfte ums Überleben. Und gestand im Februar 2005 eine "existenzbedrohende Ertrags- und Finanzsituation" ein. Es schien, als könne diesen stolzen Klub nur ein Wunder vor dem Gang zum Insolvenzrichter retten. Und dieses Wunder nahm nur einen Monat später bei einer Gläubigerversammlung des Molsiris-Stadionfonds Gestalt an.

In schonungsloser Offenheit machte Sanierer Jochen Rölfs vorher deutlich: "Lehnen die Gläubiger den Sanierungsplan ab, dann war es das. Dann ist Schluss." Nach siebenstündiger Debatte stimmten 94,4 Prozent der Gläubiger zu. Ein Teilrückkauf des Stadions wurde zur wohl entscheidenden Komponente des Sanierungsplans.

Frings musste sich binnen zwei Stunden entscheiden

Zur Restrukturierung des Klubs gehörte auch eine drastische Reduzierung der Personalkosten um mehr als die Hälfte und der Verkauf wichtiger Spieler. Torsten Frings (schon 2004 zu Bayern München), Ewerthon (Saragossa), Niclas Jensen (Fulham), Rosicky (FC Arsenal) oder David Odonkor (Betis Sevilla) räumten ihren Spind. Frings wurde einen Tag vor Deutschlands EM-Auftakt 2004 gegen die Niederlande (1:1) von Präsident Niebaum über das Angebot des FCB informiert.

Der Mittelfeldspieler erinnert sich: "Ich musste mich innerhalb von ein, zwei Stunden entscheiden." Niebaum ließ keinen Zweifel daran, wie dringend Dortmund das Geld der Bayern - fast zehn Millionen Euro - benötigte, also willigte Frings ein. Schweren Herzens. "Im Grunde", verrät er, "habe ich mich in Dortmund mega wohlgefühlt."

Obwohl die Borussia mit Vordenker Watzke an der Spitze durch knallhartes Kostenmanagement und begünstigt von einer ordentlichen Portion Glück ein spektakuläres Comeback hinlegte, das mit den Meisterschaften 2011 und 2012 sogar märchenhafte Züge annahm, fühlt es sich heute so an, als habe man eine große Steinplatte auf die Ereignisse von damals gelegt.

Plötzlich stand der Überbringer der schlechten Nachrichten am Pranger

Manche der vom kicker kontaktierten Zeitzeugen standen nicht für ein Gespräch zur Verfügung. Weil das Thema zu heikel ist? Analyst Hasler hat diese Verdrängungskultur am eigenen Leib zu spüren bekommen. Er berichtet, wie er nach Konsolidierung und "sehr solidem" Neustart eine Kaufempfehlung für die BVB-Aktie aussprechen wollte. BVB-Boss Watzke lud ihn, seine Frau Susanne und den damals sechsmonatigen Sohn Vincent nach Dortmund ein.

Dem gemeinsamen Essen folgte ein Stadionbesuch - und die Verabredung zu einem Telefonat in der Folgewoche. "Alles war total nett und harmonisch", erzählt Hasler, sogar ein Mitgliedsantrag für seinen Sohn (dessen Herz heute für den FC Bayern schlägt) wurde ihm vorgelegt. Umso rätselhafter für ihn, dass ihm drei Tage später jedes weitere Gespräch mit Watzke verweigert wurde.

De facto wurde der Börsen-Fachmann zur unerwünschten Person erklärt. Er solle die BVB-Aktie möglichst nicht weiter analysieren - nach dem, was in den Jahren zuvor mit ihm und dem Unternehmen geschehen sei. Nun stand plötzlich der Überbringer der schlechten Nachrichten am Pranger und nicht deren Urheber.

Eine Atempause für Dortmund? Kam nicht

Mit ihrer Politik des Verharmlosens und Vertuschens konnten Niebaum und Meier jedoch letztlich nicht verhindern, dass viele unliebsame Wahrheiten aufgedeckt wurden. Nur anfänglich verfing die Verschleierungstaktik der Bosse, die allen Ernstes behaupteten, dass der BVB "im Kern völlig gesund" sei. Fans und Teile anderer Medien folgten dieser Argumentations- und Verteidigungslinie. Niebaum sah "Zerstörer am Werk", Meier beklagte "eine auf Vernichtung angelegte Kampagne".

Dass Dortmunds Gegenoffensive anfangs noch Wirkung zeigte, führt Watzke auf eine "gewisse Storyhörigkeit" der Menschen zurück: "Du musst große Storys und große Visionen verkünden, dann vertrauen dir die Menschen einfach." Gegen Beschimpfungen im Internet anzuschreiben erforderte ein dickes Fell. Doch weder die auf Hochtouren laufende Dementiermaschine noch juristische Abwehrversuche verschafften Dortmund eine Atempause. Aufklärung und Transparenz und ein ehrliches Eingeständnis der bedrohlichen Situation hätten damals sicher manches erleichtern können.

Niebaum gab im November 2004 sein Präsidentenamt ab und trat drei Monate später als KGaA-Geschäftsführer zurück. Meiers Vertrag lief im Juni 2005 aus und wurde nicht verlängert. "Diese Entscheidung respektiere ich, auch wenn sie mir persönlich wehtut", erklärte der Manager. "Der BVB ist für mich nie nur ein Job gewesen, sondern immer eine Herzensangelegenheit." In seine Amtszeit fallen waghalsige Transaktionen, aber auch bemerkenswerte (wenn auch teuer erkaufte) Erfolge: die schon erwähnte Doppel-Meisterschaft 1995 und 1996, der Titel 2002 sowie der Sieg in der Königsklasse 1997.

Die "Beinahe-Insolvenz"

Heute als Pleitier dazustehen schmerze ihn, gestand Meier vor einem Jahr in einem Interview mit den "Ruhr Nachrichten", das stimme auch faktisch nicht: "Borussia Dortmund war nicht insolvent, und eine Beinahe-Insolvenz gibt es nicht." Hier werden wir Zeuge einer Meier'schen Spitzfindigkeit: In der Tat, als juristischer Begriff existiert die "Beinahe-Insolvenz" nicht. Und doch werden mit ebendieser Terminologie die folgenschweren Zustände beim BVB mit einer Pleite als schlimmstmöglicher Konsequenz präzise beschrieben.

So sehr man sich heute in Dortmund auch wünschen mag, den von Niebaum und Meier initiierten Börsengang rückgängig zu machen: Erst die dafür geschaffene Konstruktion als Kommanditgesellschaft auf Aktien lieferte den Westfalen den Hebel, sich durch Kapitalerhöhungen Liquidität zu verschaffen. Vier dieser Kapitalerhöhungen wurden dafür beschlossen und realisiert: 2004, 2006, 2014 (zweigeteilt) und zuletzt 2021, um die Folgen der Pandemie abzufedern. Auf diese Weise sammelte die Borussia insgesamt rund 280 Millionen Euro ein.

Thomas Hennecke

BVB-Trainer und ihre Punkteschnitte