Bundesliga

Jarstein kein Rückhalt - aber Rückhalt für Jarstein

Herthas Tor wird in dieser Saison zur Dauer-Baustelle

Jarstein kein Rückhalt - aber Rückhalt für Jarstein

Voller Einsatz: Rune Jarstein im Training.

Voller Einsatz: Rune Jarstein im Training. imago images

So richtig erklären konnte sich Rune Jarstein am Mittwochabend seinen Aussetzer selbst nicht. "Es ist bitter", sagte er mit ruhiger Stimme. "Ich habe einen für mich ekligen Ball, einen Aufsetzer, gehalten und wollte ihn so schnell wie möglich in meiner Hand haben. Dann habe ich ihn mir selbst reingeschlagen. Das war Pech." Die Szene sah grotesk aus.

Jarstein hatte einen harten, aber nicht sonderlich platzierten Schuss von RB-Angreifer Patrik Schick im Grunde unter Kontrolle - und schaufelte sich den Ball mit der rechten Hand anschließend selbst ins Tor. Es war der zwischenzeitliche 1:2-Rückstand für die Berliner - und ein Lapsus zur Unzeit, fünf Minuten nach Marcel Halstenbergs Gelb-Roter Karte. In Überzahl schienen die Vorzeichen für einen Auswärtssieg günstig - bis zu Jarsteins Blackout.

Immerhin: Eine Niederlage wendete Hertha noch ab, nach einem sinnfreien Foul Ademola Lookmans am unermüdlichen Matheus Cunha sorgte Hertha-Joker Krzysztof Piatek per Elfmeter für den 2:2-Ausgleich. "Ich habe der Mannschaft klargemacht, dass ich das erwarte, dass die anderen dafür einstehen, wenn einer mal einen Fehler macht", sagte Hertha-Coach Bruno Labbadia am Donnerstag. "Das hat die Mannschaft gemacht." Und Manager Michael Preetz befand: "Wenn der Mittelstürmer am Tor vorbeischießt, geht's weiter. Wenn der Torwart einen Fehler macht, dann ist es halt ein Tor. Die Mannschaft hat das ausgebügelt, das sollte man erwähnen." Hiermit geschehen.

Bekenntnis zu Jarstein

Die Berliner Verantwortlichen waren am Tag nach dem beherzten und zu Recht mit einem Punkt belohnten Gastspiel in Sachsen erkennbar darum bemüht, Jarstein öffentlich zu flankieren. "Als wir hierher kamen, war für uns klar, dass Rune unsere Nummer 1 ist, weil wir von seiner Qualität überzeugt sind", sagte Labbadia, der seit Ostermontag als Hertha-Trainer amtiert. Mit Jarsteins Bilanz nach dem Re-Start ist er vorgeblich zufrieden: "Er hat zwei hervorragende Spiele gemacht und auch in Leipzig bis auf die eine Szene gut gespielt. Er hatte jetzt mal einen Patzer drin, mein Gott, das passiert."

Auch Preetz gab dem Schlussmann Rückendeckung: "Rune ist seit fünf Jahren unsere Nummer 1 und hat in der ganz überwiegenden Mehrzahl sehr, sehr gute Spiele für Hertha gezeigt. Dass er in dieser Saison nicht immer seine beste Leistung gebracht hat, wissen wir auch. Dass es dafür Gründe gibt, wissen wir allerdings auch. Und seitdem Bruno hier angetreten ist, finde ich, dass Rune wieder die Sicherheit und Zuverlässigkeit ausstrahlt, die er auch in den letzten Jahren ausgestrahlt hat. Ganz klar: Wir sind froh, dass wir Rune haben."

Rätselhafte Formschwankungen

Jarstein, der Anfang Januar 2014 von Viking Stavanger gekommen war, hatte im September 2015 den langjährigen Stammkeeper Thomas Kraft während dessen Schulterverletzung so überzeugend vertreten, dass er auch nach Krafts Rückkehr im Tor blieb - und jahrelang wohltuend sachlich und zumeist souverän seinen Job erledigte. In dieser Saison allerdings reihte sich Norwegens Nationalmannschafts-Torhüter in die Riege der Hertha-Profis wie Marko Grujic oder Niklas Stark ein, deren Formschwankungen Rätsel aufgaben.

Die Frage des Torwarttrainers

Intern wird der von Jürgen Klinsmann nach seinem Amtsantritt als Trainer Ende November vorgenommene Wechsel auf der Torwarttrainer-Position als Grund für Jarsteins Verunsicherung angesehen. Klinsmann demontierte den Jarstein-Vertrauten Zsolt Petry und ersetzte ihn für einen Monat durch Bundestorwarttrainer Andreas Köpke, Ende Dezember folgte auf Köpke Herthas vormaliger U-23-Torwarttrainer Max Steinborn. Nur wenige Stunden nach Klinsmanns Blitzflucht am 11. Februar hievte Preetz Petry wieder ins Amt - mit dem klaren Auftrag, Jarstein zu alter Sicherheit zu führen.

Wirklich gelungen ist das bislang nicht. In Paderborn (2:1) - im ersten Spiel nach Klinsmann - lenkte sich Jarstein einen Ball von Dennis Srbeny selbst ins Netz, der sonst vermutlich ins Seitenaus gegangen wäre. Gegen Köln (0:5) beförderte Jarstein einen Schuss von Florian Kainz ins eigene Tor. Danach nahm ihn der damalige Cheftrainer Alexander Nouri mit Zustimmung Petrys aus dem Tor und nominierte in Düsseldorf (3:3) und gegen Bremen (2:2) Thomas Kraft. Der hielt keine Unhaltbaren, aber in der Halbzeitpause des Düsseldorf-Spiels beim Stand von 0:3 in der Kabine immerhin eine Wutrede, die bei Hertha bis heute als Wendepunkt des Abends gilt.

Ausgerechnet Augsburg

Labbadia stellte bei seinem Amtsantritt an Ostern die alte Rangordnung im Tor wieder her. Kraft (Rückenprobleme) fehlt aktuell ohnehin verletzt, für ihn wird wie schon zuletzt Dennis Smarsch auf der Bank sitzen. "Rune braucht sich keinen Kopf zu machen, sondern soll seine Qualitäten reinwerfen", sagte Labbadia. "Ich bin mir sehr sicher, dass er das am Samstag tun wird."

Gegen den FC Augsburg, gegen den das Hinspiel Jarsteins Krise eingeleitet hatte. Am 24. November, beim Berliner 0:4, hatte Jarstein das 0:2 - gleichsam die Vorentscheidung - mit einem Dreifach-Patzer verursacht. Erst verlor er den Ball gegen den nachsetzenden Florian Niederlechner, dann räumte er beim Versuch, die Situation zu retten, Niederlechner und den Torschützen Sergio Cordova rücksichtslos ab. Jarstein sah Rot - es war der erste Platzverweis eines Hertha-Keepers in einem Bundesliga-Spiel überhaupt und für Jarstein nach einer Roten Karte im Juli 2006 (beim 2:2 mit Odds BK Skien bei Lilleström) der zweite Karriere-Platzverweis. Kollateralschäden gab's auch: Für den damaligen Trainer Ante Covic war es das letzte Spiel als Verantwortlicher.

Jarsteins ungewisse Zukunft

Es ist nicht nur die Zahl der Fehler, die die Frage aufwirft, ob Jarstein tatsächlich noch einmal zu alter Verlässlichkeit findet - es ist vor allem die Schwere der Patzer. Sein Alter befeuert die Debatte, ob er seine besten Jahre im Tor bereits hinter sich hat, zusätzlich. Im Winter wechselte er den Berater und hoffte darauf, dass Hertha während der Rückrunde in Gespräche über die Verlängerung seines 2021 auslaufenden Vertrages einsteigt. Dazu ist es bisher nicht gekommen. Labbadia will sich in Ruhe selbst ein Bild von den Torhütern machen.

Im Hintergrund prüft der Klub parallel externe Optionen, auch wenn Preetz am Donnerstag erklärte: "Wenn ich in den letzten Wochen lese, welche Torhüter wir alles verpflichten wollen, finde ich das ziemlich abenteuerlich." Loris Karius (26), der Anfang Mai seine Leihe bei Besiktas Istanbul wegen ausstehender Gehaltszahlungen gekündigt hatte und bis 2022 beim FC Liverpool unter Vertrag steht, kommt nicht. Zwar gab es zwischen Petry und Karius losen telefonischen Kontakt, ein Angebot plant Hertha nach kicker-Informationen indes nicht.

Ein anderer kommt hingegen im Sommer zurück nach Berlin: der zuletzt zwei Jahre an den VfL Osnabrück ausgeliehene Nils Körber (23). Für Thomas Kraft (31) dürfte das Kapitel Berlin im Sommer nach neun Jahren beendet sein. Jarstein ist in den Torwart-Rechnungen für 2020/21 eine der großen Variablen. Sollte ihm ein namhafter neuer Konkurrent vor die Nase gesetzt werden, rechnen einige im Verein damit, dass der Norweger Hertha verlässt. Noch ist das Torhüter-Puzzle für die neue Spielzeit längst nicht komplett. Aber sollten weitere Blackouts wie in Leipzig oder im Hinspiel in Augsburg folgen, dürften auch den größten Jarstein-Fürsprechern irgendwann die Argumente ausgehen.

Steffen Rohr

Bilder zur Partie RB Leipzig - Hertha BSC