Bundesliga

Zum Abschied von Jerome Boateng: "Hut ab, das sind wahre Champions"

Ende einer Ära beim FC Bayern

Zum Abschied von Boateng: "Hut ab, das sind wahre Champions"

Verlässt den FC Bayern nach zehn Jahren: Jerome Boateng.

Verlässt den FC Bayern nach zehn Jahren: Jerome Boateng. Getty Images

Physiotherapeuten haben ein feines Gespür. Nicht nur für Muskeln, sondern den Menschen an sich. Im Profifußball sind sie so nah wie fast niemand an den Stars dran, kennen Körper und Charakter mit den Jahren auswendig. Insofern zählt ihre Meinung. Auf YouTube lief in der vergangenen Woche ein vom FC Bayern produziertes Video zum Abschied Jerome Boatengs, und die warmherzigsten Worte kamen von Physio Christian Huhn, an deren Ende er sagte: "Solltest Du irgendwann einmal Probleme haben, kannst Du uns vom Staff Team jederzeit anrufen und wir werden Dir immer helfen." So etwas bietet man nur jemandem an, den man mag und schätzt.

Höhen und Tiefen

Als Hilfe für die eigene Verteidigung verpflichtete der FC Bayern den damals 22-jährigen Nationalspieler 2011 von Manchester City, sein Debüt gab er am 1. August beim 3:0-Erstundenpokalsieg in Braunschweig. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte und doch wechselhaften Beziehung zwischen Verein und Spieler. Gleich die erste Saison endete mit sportlichen Tiefschlägen: Vize-Meister hinter dem BVB, gegen den Boatengs Bayern auch das Pokalfinale krachend mit 2:5 verloren. Dazu das Drama im "Finale dahoam" gegen den FC Chelsea.

Debüt in Braunschweig: Jerome Boateng im Duell mit Domi Kumbela.

Debüt in Braunschweig: Jerome Boateng im Duell mit Domi Kumbela. imago images

Doch im Jahr darauf gelang das erste Triple, dem 2020 das zweite folgte. Boateng ist mit Manuel Neuer, Thomas Müller, David Alaba und Javi Martinez einer von fünf Spielern, die beide Male dabei waren. Beginnend in der ersten Triplesaison stellte Boateng einen Bundesligarekord auf, der bis heute gültig ist: Er blieb zwischen dem 3. November 2012 und dem 19. Dezember 2014 in 56 Bundesligapartien hintereinander ungeschlagen.

Einer der weltbesten Verteidiger des vergangenen Jahrzehnts

Im Champions-League-Finale 2013 schlug Boateng den präzisen langen Ball aus der eigenen Hälfte, den Franck Ribery per Hacke auf Arjen Robben ablegte, der zum 2:1-Sieg traf. Diese Flugbälle, bevorzugt diagonal, wurden über die Jahre zu einem von Boatengs Markenzeichen. Neben seinem Kerngeschäft verteidigen beherrschte er den gepflegten Spielaufbau und wurde so zu einem der weltbesten Verteidiger des vergangenen Jahrzehnts. Ironie des Schicksals, dass bei Abwehrspielern oft Fehler oder schlechte Szene eher im Gedächtnis haften bleiben, im Champions-League-Halbfinale 2015 tanzte Lionel Messi Boateng aus, der hilflos am Boden lag. Das Video kursiert heute noch im Netz, Boateng kann mittlerweile darüber lachen, es passierte schließlich gegen den Besten seiner Zeit. Doch Boateng darf sich Weltmeister nennen, Messi nicht - auch wegen Boateng.

"Spieler des Spiels" im WM-Finale

Bei Auszeichnungen gehen Verteidiger oft leer aus, Tore und Spektakel bevorzugen nunmal Offensivspieler. Bei Boateng stechen zwei Ehrungen jedoch hervor. Das beste seiner 76 Länderspiele absolvierte er im WM-Finale von Rio, der kicker honorierte diese Leistung beim 1:0 gegen Argentinien mit einer glatten Eins und der Einstufung zum "Spieler des Spiels". Wochen später sagte er am Telefon zum kicker, als er sich gerade in Los Angeles privat auf die Vorbereitung vorbereitete: "Ich habe das Spiel meines Lebens gemacht." Zwei Jahre später, nachdem er sich nach einer schweren Verletzung gerade noch rechtzeitig zur EM gekämpft hatte, wählten ihn Deutschlands Sportjournalisten verdient zum Fußballer des Jahres 2016.

Verletzungen und Missstimmungen

Physio Christian Huhn behandelt Jerome Boateng.

Physiotherapeut Christian Huhn behandelt Jerome Boateng. imago images

Im verlorenen EM-Halbfinale gegen Frankreich verletzte sich Boateng erneut, es begannen schwierige Jahre. Am heftigsten warf ihn eine im Dezember 2016 zugezogene Schulterverletzung zurück, nach dem Comeback im folgenden März benötigte er lange, um wieder sein altes Niveau zu erreichen. Es war die Zeit, in der die Missstimmungen zwischen Klub und Boateng zunahmen. Karl-Heinz Rummenigge empfahl ihm "back to earth" zu kommen. Den Bossen missfielen Boatengs private Aktivitäten neben dem Rasen, der Spieler hätte sich mehr Wertschätzung und Rückhalt gewünscht, wie ihn zum Beispiel Franck Ribery auch bei privaten Problemen immer genoss.

Hoeneß empfahl Boateng einen Wechsel

Mit einem Abschied befasste sich Boateng erstmals im Sommer 2018. José Mourinho wollte ihn zu Manchester United holen, Boateng aber zog es zu Paris St. Germain mit Thomas Tuchel. Der Wechsel scheiterte kurz vor knapp, auch weil der neue Coach Niko Kovac Boateng eine tragende Rolle versprach. Als Boateng sich zu Beginn der folgenden Rückrunde zum dritten Innenverteidiger hinter Niklas Süle und Mats Hummels degradiert sah, traf dies den sensiblen Boateng hart, es kränkte ihn, Kovac hatte in seinen Augen Wort gebrochen. Dem Meisterjubel seiner Mitspieler schaute er nach dem letzten Saisonspiel im Beisein seiner Zwillingstöchter wie ein Unbeteiligter nur aus der Ferne an, Uli Hoeneß empfahl ihm einen Wechsel. Das Tischtuch schien endgültig zerschnitten. Doch auch im Sommer 2019 kam ein Abschied nicht zustande, Juventus Turin galt lange als Ziel.

Unter Flick ging es wieder aufwärts

Boateng blieb erneut und kämpfte sich zurück. Ein Comeback, das ihm nicht mehr viele zugetraut hatten und das eng mit Hansi Flick zusammenhing. Unter dem Coach arbeitete sich Boateng aus einem längeren Formtief, wirkte wieder fit und stand bald als tragende Säule in jener Mannschaft, die sechs Titel innerhalb eines Jahres gewinnen sollte. Comeback-Qualitäten zeichneten Boateng in all den Jahren beim FC Bayern aus. In besagtem YouTube-Video stuft er den Champions-League-Triumph 2020 deshalb sogar etwas höher ein als den ersten 2013, auch wenn ihn im Finale gegen Paris St. Germain früh das Verletzungspech einholte. "Als die Wenigsten noch an dich geglaubt haben und du am Boden lagst, bist du aufgestanden und hast alles dafür gegeben, wieder erfolgreich zu sein. Hut ab, das sind wahre Champions", würdigt ihn Physio Huhn. Boateng wirkt bei diesen Worten sichtlich gerührt.

Im Gegensatz zu Thomas Müller und Mats Hummels holte Bundestrainer Jogi Löw Boateng für die anstehende EM nicht mehr zurück ins Nationalteam. Zeit, die Zukunft zu klären, die vermutlich im Ausland liegt. Ein paar gute Jahre könnte Boateng noch in sich tragen. Und wenn's Probleme geben sollte, weiß er, an wen er sich wenden kann.

Frank Linkesch

Jerome Boateng: Das Gesicht einer Bayern-Ära