Bundesliga

Union Berlin und Hertha BSC: Der große Check

Stärken, Schwächen, Personal, Trainer

Union und Hertha: Der große Check

Wiedersehen: Union Max Kruse (l.) und Herthas Sami Khedira.

Wiedersehen: Union Max Kruse (l.) und Herthas Sami Khedira. imago images

Union gewinnt. Sagt die Statistik. In den bisherigen drei Bundesliga-Duellen beider Klubs siegte jeweils das Heimteam: Union legte im heimischen Revier in Köpenick den Stadtrivalen aus Charlottenburg im November 2019 aufs Kreuz (1:0), Hertha gewann die folgenden beiden Aufeinandertreffen im leeren Olympiastadion: 4:0 im Mai 2020, 3:1 Anfang Dezember in der Hinrunde dieser Saison. Der kicker beleuchtet die Situation beider Klubs vor dem Prestige-Duell am Sonntag in der Alten Försterei.

Ausgangslage

Union: Union fehlt noch ein Sieg, um die Punktausbeute der Vorsaison zu erreichen: 2019/20 kamen die Eisernen auf 41 Zähler. Mit einem Erfolg im Hauptstadtduell gegen Hertha könnten die Köpenicker zudem die Derbybilanz in der Bundesliga ausgleichen; nach dem 1:0 im ersten Vergleich verlor Union die letzten beiden Partien 0:4 und 1:3. Gelingt der Mannschaft von Trainer Urs Fischer nun der zweite Sieg, wären aber vor allem letzte Zweifel am Klassenerhalt beseitigt. Dazu muss der Tabellensiebte, der noch im Rennen um die Europapokalplätze liegt, allerdings wieder die Balance zwischen Defensive und Offensive finden. Vor der Länderspielpause ließen sich die Eisernen in Frankfurt auf einen Schlagabtausch mit der Eintracht ein - und zogen den Kürzeren (2:5). In den Wochen zuvor lahmte hingegen oft das Offensivspiel.
Hertha: Platz 14 - das ist für die Ansprüche des Klubs und die von Investor Lars Windhorst ein verheerendes Zeugnis. Nach der turbulenten Saison 2019/20 mit vier Trainern und dem dank eines Kraftakts unter dem an Ostern 2020 verpflichteten Bruno Labbadia erreichten zehnten Platz sollte es in dieser Spielzeit deutlich nach vorn gehen. Doch der radikale Umbruch im Sommer (14 Abgänge, 8 Zugänge) wurde zur Hypothek. Labbadia musste Ende Januar ebenso gehen wie Michael Preetz, der Geschäftsführer Sport. Unter Labbadias Nachfolger Pal Dardai hat sich die Mannschaft stabilisiert und vor der Länderspielpause mit einem 3:0 gegen Leverkusen ein Statement abgegeben. Die Blau-Weißen holten in den jüngsten drei Spielen sechs Punkte - so viele wie in den vorigen zwölf Partien zusammen. Allerdings: Hertha gewann in dieser Saison bisher noch nie zwei Spiele in Serie und ist auswärts seit neun Anläufen sieglos.

Stärken

Union: Abgesehen von dem Auftritt in Frankfurt überzeugt Union normalerweise mit Physis, Aggressivität, Zweikampf- und Laufstärke, ist gut organisiert, steht kompakt. Die Mannschaft zeichnet ein intaktes Gefüge aus, sie ist bei Standards gefährlich; nur Bayern erzielte mehr Kopfballtore (15) als Union (12). Fußballerisch gelangen in dieser Saison Fortschritte. Union spielt weniger mit langen Bällen.
Hertha: Die Mannschaft hat sich unter Dardai defensiv gefangen und wirkt deutlich kompakter. Die Systemumstellung von der Viererkette auf ein 3-5-2 beziehungsweise 3-4-3 half, das Zentrum dicht zu kriegen. Zudem hat Hertha eine gute Konterabsicherung und noch kein Tor durch einen Gegenstoß kassiert. Die Individualisten des Kaders wie Matheus Cunha, der gegen Leverkusen erstmals nach 1048 Minuten wieder traf, Dodi Lukebakio und Matteo Guendouzi scheinen den Teamgedanken jetzt mehr verinnerlicht zu haben. Jhon Cordoba kommt nach seiner Bänderverletzung im Sprunggelenk immer besser in Schwung. Lucas Tousart und Niklas Stark haben sich unter Dardai deutlich gesteigert, der von Labbadia vergessene Lukas Klünter erlebt eine Renaissance.

Schwächen

Union: Aufgrund der Ausfälle von Sheraldo Becker (Sprunggelenk-Operation) und Taiwo Awoniyi (Muskelbündelriss) fehlt es offensiv an Schnelligkeit und Wucht. Konterfußball ist ohne das Duo schwieriger umsetzbar. Top-Scorer Max Kruse, der sich bei der 1:3-Niederlage in der Hinrunde bei Hertha BSC einen Muskelbündelriss zugezogen hatte und daraufhin drei Monate ausfiel, lässt sich gerne fallen, Joel Pohjanpalo ist im Strafraum zu Hause. Beide sind keine Sprinter. So muss Union höher stehen, um offensiv Durchschlagskraft zu entwickeln. Das aber erhöht die Gefahr, (zu) hoch zu stehen. Das erhöht die Gefahr, in Konter zu laufen - zumal es in der Union-Verteidigung an Schnelligkeit mangelt.
Hertha: Auch wenn die Elf zuletzt bei gegnerischen Standards wacher als in der Hinrunde wirkte - die Anfälligkeit bei ruhenden Bällen des Gegner ist ebenso ein Dauerthema dieser Saison wie die Harmlosigkeit bei eigenen Standards. Nach Ecken ist Hertha als einziges Team der Liga noch ohne Tor, auch die Torgefährlichkeit aus dem Mittelfeld lässt zu wünschen übrig. Die Kernfrage bei Hertha ist indes eine andere: Ist dieses begabte, aber recht launische Ensemble wetterfest genug für den Abstiegskampf? Die Siege in den von Dardai als "Muss-Spielen" deklarierten Partien gegen Augsburg (2:1) und Leverkusen (3:0) haben auch intern das Vertrauen in die Psyche des Teams gefestigt. Doch zum Gradmesser wird das Saisonfinale, wenn kaum mehr Zeit für Korrekturen bleibt und mit Mainz (29. Spieltag/A), Bielefeld (32./H) und Köln (33./H) die direkte Konkurrenz aus dem Tabellenkeller wartet.

Personal

Union: Kruse, der am Dienstag aufgrund eines Zahnarzttermins gefehlt hatte, soll seit Mittwoch wieder am Mannschaftstraining teilnehmen und für das Derby zur Verfügung stehen. Christopher Lenz feierte nach rund dreiwöchiger Verletzungspause (Muskelverletzung im Oberschenkel) im Test gegen Zweitligist Braunschweig (1:2) ein 30-minütiges Comeback. Ein Einsatz in der Startelf im Derby könnte für den Linksverteidiger zu früh kommen. Niko Gießelmann (Schulterfraktur), der zuletzt Teile des Mannschaftstrainings absolvierte, dürfte wie Becker, Awoniyi und Anthony Ujah (Knie-Operation) ausfallen.
Hertha: Dauer-Läufer Vladimir Darida fehlt rot-gesperrt, Youngster Luca Netz wegen eines Mittelfußbruchs, Eduard Löwen wegen der Nachwirkungen einer Muskelverletzung. Winter-Zugang Sami Khedira, der wegen eines Muskelfaserrisses in der Wade vier Wochen gefehlt hatte, trainiert seit Dienstag wieder mit der Mannschaft und ist ein Kandidat für den Spieltags-Kader. Kapitän Dedryck Boyata hingegen, der am Dienstag für Belgien im WM-Qualifikationsspiel gegen Belarus (8:0) ein 45-minütiges Comeback gab, ist aus Dardais Sicht noch nicht so weit. Nach einem Ermüdungsbruch im Mittelfuß und einer dreimonatigen Pause hat der Innenverteidiger körperlich noch Nachholbedarf.

Trainer

Union: Ruhe, Sachlichkeit, Pragmatismus, Fleiß - das sind die Attribute, die Fischer am häufigsten zugeschrieben werden. Der Schweizer, den manche Spieler als Vaterfigur beschreiben, "ist ein ruhiger Typ, der den Spielern klar an die Hand gibt, was er von ihnen erwartet. Diese sachliche, ruhige Art gibt dem Team eine gewisse Ruhe. Das ist schon seine große Stärke", sagt etwa Mittelfeldspieler Robert Andrich (der im Hinrunden-Duell im Olympiastadion früh vom Platz flog). Fischer wurde oft unterschätzt, verkauft sich öffentlich mitunter unter Wert und hält sich verbal zurück - und als Trainer gern an Vertrautes. Der frühere Verteidiger ist keiner, der zig Systeme spielen lässt oder ständig Neues probiert. "Du darfst nie verschlossen sein auf Neues, aber du darfst auch nicht zu viele Dinge ändern. Die Mannschaft braucht ein Korsett, einen Anzug, in dem sie sich wohlfühlt", erklärte er mal und sagte über Veränderungen: "Aufgepasst, dass es nicht wirr wird!"
Hertha: Pal Dardai steht für ehrliche, zuweilen schmerzhafte Analysen, klares, konsequentes Handeln und zugleich dafür, die Spieler mit ins Boot zu holen. Der Ungar hat atmosphärisch schneller die Wende zum Positiven geschafft als sportlich. Allerdings musste er in seinen bisherigen acht Spielen, in denen Hertha sieben Punkte erwirtschaftete, gegen die Top 6 der Liga ran. Nach dem missglückten Experiment mit Ante Covic, der unter lautem Getöse gescheiterten Ich-AG Jürgen Klinsmann, den für alle komplizierten Wochen unter Alexander Nouri und Bruno Labbadia, unter dem Hertha stark begann, aber auch zügig stark nachließ, rief der Klub Dardai als Retter in der Not. Der Ungar, dem Preetz 2019 die sportliche Weiterentwicklung nicht mehr zu- und anvertraute, soll den Totalschaden abwenden. Darauf konzentriert sich gerade alles im Klub, den CEO Carsten Schmidt seit seinem Amtsantritt am 1. Dezember auf links dreht. Ob Schmidt und der noch immer nicht verpflichtete neue Geschäftsführer Sport, der nach Herthas Gusto Fredi Bobic heißen soll, in Dardai auch den Trainer der Zukunft sehen, ist fraglich. Dardais Vertrag geht formal bis 2022, beinhaltet aber eine Punkteklausel: Der Kontrakt hat für die Saison 2021/22 nur Gültigkeit, wenn Dardai in den 16 von ihm verantworteten Spielen dieser Saison mindestens 24 Punkte holt - eine angesichts der Umstände von Anfang an überambitioniert wirkende Zielmarke. Für den Nachwuchs-Bereich des Klubs besitzt Dardai einen unbefristeten Vertrag. Nach seiner Abberufung als Bundesliga-Trainer im Sommer 2019 schlug er im Herbst 2019 ein Angebot des 1. FC Köln aus und übernahm nach einem Sabbatjahr 2020 Herthas U 16. Dardai fühlt sich wohl in der Rolle als Ausbilder - und ohne die hautnahe Begleitung durch die Medien, an denen er sich heute mehr als früher reibt.

Jan Reinold/Steffen Rohr