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WM 2022: Tite verkalkuliert sich - und tritt ab

Elfmeter-Rechnung des Trainers geht nur in der Theorie auf

Tite verkalkuliert sich - und tritt ab

Die Elfmeterrechnung von Tite ging nicht auf.

Die Elfmeterrechnung von Tite ging nicht auf. IMAGO/Agencia EFE

Aus Katar berichtet Thiemo Müller

Immerhin: Während sich das Gros seiner Kollegen noch lange nach Spielende in der eigenen Kabine verschanzt hatte, sprach Brasiliens Kapitän Thiago Silva vor den TV-Kameras. Wirklich etwas zu sagen hatte der 38-Jährige aber auch nicht: "Es ist sehr hart, man hat keine Worte", kommentierte der Innenverteidiger das Viertelfinal-Aus seiner Selecao im Elfmeterschießen gegen Kroatien. "Ich hätte so gerne den Weltpokal in die Höhe gehalten, das wird jetzt nicht mehr passieren. Es tut sehr weh, weil wir es alle unbedingt erreichen wollten." Angesichts dieser Worte und des vorangegangenen Auftritts müssen sich die Brasilianer aber auch fragen lassen, ob sie wirklich alles für das große Ziel investiert haben.

Ungerecht? Tragisch? Bei der Selecao spielte auch Überheblichkeit mit

Sicher: Nach der Pause besaß der Rekordchampion schon während der regulären Spielzeit mehrere gute Gelegenheiten, die Kroaten-Keeper Dominik Livakovic zunichtemachte. Das 1:0 in der Verlängerung dank eines Geniestreichs von Superstar Neymar war hochverdient. Der Vizeweltmeister von 2018 brachte dagegen in 120 Minuten nur einen einzigen Abschluss aufs brasilianische Tor - der aber saß und verhalf dem Team von Trainer Zlatko Dalic ins Elfmeterschießen.

Als ungerecht, ja tragisch könnte man die Niederlage angesichts solcher Fakten auffassen. Und doch blieb am Ende der Eindruck, dass sich die Selecao auch durch eigene Überheblichkeit um den Lohn gebracht hatte. Da waren die ersten 45 Minuten, die Neymar und Co. vor sich hin plätschern ließen. Und da war jene defensive Nachlässigkeit, die den im Rückstand liegenden Kroaten kurz vor Ende tatsächlich noch den Raum zum tödlichen Konter öffnete.

"Ich verstehe den Schmerz und akzeptiere jegliche Kritik"

"Vielleicht hätten wir da besser organisiert und konzentrierter sein können", räumt Thiago Silva ein. Ganz sicher sogar. Dass Trainer Tite sich nach dem in jedem Fall unnötig frühen Aus diverse Fragen gefallen lassen muss, trägt der 61-Jährige mit Fassung. "Ich verstehe den Schmerz und akzeptiere jegliche Kritik", so der Fußballlehrer, der zugleich - wie seit mehr als einem Jahr angekündigt - das Ende seiner Amtszeit bestätigte.

Ob sein Tänzchen mit den Spielern an der Seitenlinie beim 4:1 gegen Südkorea, die Personalrotation gegen Kamerun oder die Auswechslungen gegen Kroatien: Ihm sei klar, dass nun alles hinterfragt werde, beschied Tite. Und verdeutlichte parallel dazu, dass er auch im Nachhinein nicht viel anders machen würde: "Manchmal spielt man großartig und verliert trotzdem. Das ist Fußball, das akzeptiere ich." Und: "Wir haben insgesamt ein sehr gutes Turnier gespielt. Vielleicht hätten wir am Ende effizienter sein müssen."

Statt am Elfmeterpunkt zu stehen, lag Neymar tränenüberströmt auf dem Rasen

Für Diskussionen sorgt nicht zuletzt, dass ausgerechnet Neymar als etatmäßiger brasilianischer Elfmeterschütze Nummer 1 im Shootout gegen Kroatien gar nicht zum Zuge kam - weil er als fünfter Schütze vorgesehen war. Den Gedanken dahinter erläutert Tite so: "Beim fünften Elfmeter herrscht der größte Druck, deshalb sollte dann der Spieler antreten, der die größte Qualität besitzt." Ein beliebter Ansatz, um quasi auf wissenschaftlicher Basis zu erklären, wie sich fünf Elfmeter insgesamt mit der höchstmöglichen Wahrscheinlichkeit verwandeln lassen.

Die Schwäche dieser Theorie wurde am Freitag indes wieder einmal offenkundig - sie fällt schlicht in sich zusammen, sobald einer der ersten vier Elfmeter verschossen wird. Und sie blendet ohnehin aus, dass der Druck auf den fünften Schützen auch deutlich geringer werden kann, je öfter die eigene Mannschaft zuvor verwandelt hat. Statt zum Punkt zu schreiten, lag Neymar jedenfalls tränenüberströmt auf dem Rasen. Allzu viele Chancen, seine Karriere mit einem WM-Titel zu krönen, bleiben dem inzwischen 30-Jährigen nicht mehr.