Bundesliga

Strand und 108 Buletten: Als Tasmania Berlin 1965/66 Bundesligist war

Die Geschichte von den Schlechtesten

Strand, Siegprämie, 108 Buletten: Als Tasmania Berlin Bundesligist war

Qualen nach Zahlen: Tasmania Berlin in der Saison 1965/66 - ganz rechts Kapitän Hans-Günter Becker.

Qualen nach Zahlen: Tasmania Berlin in der Saison 1965/66 - ganz rechts Kapitän Hans-Günter Becker. imago images

Auf dem Sofa in die Bundesliga aufsteigen, davon hat man schon mal gehört. Aber am Strand? Beim Bergsteigen? Auf dem Campingplatz? Das hat nur die Mannschaft geschafft, die so vieles in der Bundesligageschichte als einzige geschafft hat: Tasmania Berlin.

Der FC Schalke ist der Tasmania-Rekord von 31 sieglosen Bundesligaspielen hintereinander am Samstag erspart geblieben. Doch ein Vergleich wäre für beide Klubs eh unfair gewesen: für Schalke, weil den Tasmanen das innerhalb einer Saison passiert war und sie ja noch viel verstörendere Horrorzahlen erlebt haben; und für Tasmania, weil Schalke nicht erst zwei Wochen vor Saisonstart als drittbeste Mannschaft Gelsenkirchens in die Bundesliga gestolpert war.

"Da hat sich natürlich alles überschlagen", erinnert sich Hans-Günter "Atze" Becker im Gespräch mit dem kicker an die Tage im August 1965. Der damalige Tasmania-Kapitän hatte es sich gerade mit seiner Familie am Ostseestrand gemütlich gemacht, als ihm ein Hamburger, den er im Urlaub kennengelernt hatte, die Radio-Nachricht aus Berlin übermittelte: Tasmania ist Bundesligist, "alle sofort zurückkommen, in 14 Tagen fängt die Bundesliga an".

Tasmania aufgestiegen? "Willst du mich verscheißern oder was?"

Beckers erste Reaktion: "Willst du mich verscheißern oder was?" Die zweite: "Gleich zurückkommen werde ich auf keinen Fall, das kann ich meiner Familie ja nicht antun." Erst ein paar Tage später reist er ab und stößt im Vereinslokal auf die Bundesliga an, die den Klub aus Neukölln so spektakulär aufnimmt wie sie ihn später wieder hinauswerfen wird.

Weil Hertha BSC wegen verbotener Handgeldzahlungen und gefälschter Bilanzen zwangsabsteigen musste und die DFB-Mächtigen der Meinung sind, dass auch zur dritten Bundesliga-Saison ein Klub aus dem geteilten Berlin gehört, wird die Liga kurzerhand von 16 auf 18 Teams aufgestockt - und Tasmania am 31. Juli 1965 integriert, obwohl es in der Meisterrunde der Berliner Regionalliga nur Dritter geworden war. Meister TeBe war in der Aufstiegsrunde gescheitert, und der zweitplatzierte Spandauer SV wollte nicht.

Während die Tasmania-Oberen den hoffnungslosen Versuch unternehmen, der überalterten Mannschaft auf dem leergefegten Transfermarkt so etwas wie Bundesliga-Tauglichkeit zu verschaffen, kümmert sich Kapitän Becker um die Belange derer, die schon da sind: Entgegen der Klub-Ansage kann er zumindest einige Mitspieler überzeugen, ihre reguläre Arbeit halbtags beizubehalten ("Wenn ihr heute kündigt, dann wird euch der Chef nach einem Jahr nicht händeringend wieder einstellen"). Und bei den Verhandlungen mit dem Vorstand setzt er hohe Grundgehälter und niedrige Siegprämien durch statt umgekehrt.

Nach dem Auftaktsieg schimpfen die Mitspieler: "Du hast uns um die Siegprämie gebracht!"

Diese Weitsicht wissen am ersten Spieltag noch nicht alle zu schätzen. Nach dem 2:0 gegen den Karlsruher SC vor 81.524 Zuschauern im Berliner Olympiastadion "komme ich in die Kabine, und Sie können sich ja vorstellen, was da los war", erzählt Becker: "'Du hast uns um die Siegprämie gebracht!'" Darüber lachen sie noch 55 Jahre später. "Wenn wir uns heute mit denen treffen, die Gott sei Dank noch leben, sprechen wir das immer noch an: Hast du das Geld von damals immer noch gespart?"

Erst am vorletzten Spieltag, bei einem 2:1-Eigentor-Sieg gegen Mitabsteiger Neunkirchen, wird wieder eine Siegprämie fällig. Dazwischen ist es mit Tasmania "wie mit einem Hochspringer, der bisher so um die 1,70 Meter gesprungen ist, nun aber plötzlich in eine Konkurrenz gesteckt wird, die mühelos zwei Meter bewältigt", philosophiert Trainer Franz Linken schon zu Saisonbeginn.

Zwei Nullen weniger: Den verrücktesten aller Rekorde stellt Tasmania im Januar auf

Und so sieht das dann aus: Im zweiten Spiel bekommt Tasmania "fünf Buletten" in Gladbach, und Becker prophezeit seiner Elf: "So wird's weitergehen." Nach dem folgenden 0:2 gegen Dortmund notiert der kicker über Klaus Konieczka, der mit 90 Kilo aus dem Urlaub zurückgekehrt war und seitdem 15 Pfund abgespeckt hat: "Er startet nicht - er setzt sich in Bewegung."

Weitere neun Niederlagen später ersetzt Heinz-Ludwig Schmidt Trainer Linken und sagt nach einem 0:5 und 0:4 zum Einstand: "Ich glaube, dass es langsam aufwärtsgeht." An Silvester, einem 0:2 gegen Braunschweig, wünscht er der Mannschaft "ein besseres neues Jahr" und ist am 15. Januar Zeuge, wie sie im schneebedeckten Olympiastadion ein 0:0 gegen Gladbach erhascht - vor 827 Fans. Auch das hat nur Tasmania geschafft: Fünf Monate nach dem Saisonauftakt fehlen der Zuschauerzahl zwei Nullen. Tasmania hat 80.697 Menschen vergrault.

Dass wir absteigen, habe ich natürlich gegenüber der Mannschaft nicht gesagt.

Kapitän Hans-Günter Becker

"Männer, es gibt tausende, vielleicht zehntausende Spieler in ganz Deutschland, deren größter Wunsch ist, einmal in der Bundesliga zu spielen. Wir haben das!", motiviert Becker unverdrossen weiter. "Dass wir absteigen, habe ich natürlich gegenüber der Mannschaft nicht gesagt." Sie weiß es eh längst.

Beim 0:5 in Hannover präsentiert sich Tasmania "ganz in der Rolle eines konfusen Trainingspartners" (kicker), nach einem 0:2 in Stuttgart lacht Trainer Schmidt: "Haben wir dem VfB einen Schrecken eingejagt!" Als der Abstieg am 2. April nach einem 0:4 in Köln schließlich amtlich ist, rufen die Zuschauer "Feierabend, Schluss, Aufhören!" und meinen ihren FC. Auch Max Merkel, Trainer des späteren Meisters 1860 München, meckert nach einem 4:0 darüber, dass die Berliner weiterhin "mit acht Mann verteidigen", obwohl es ihnen doch egal sein könne, "ob sie 0:4 oder 0:11 verlieren".

Lesen Sie auch: Diese Negativrekorde hält Tasmania Berlin

Beim 0:3 in Frankfurt halten Tasmania-Fans eine Stange mit einer goldumkränzten "100" und schwarzen Trauerbändern in die Höhe: Ihr Klub hat das 100. Gegentor kassiert. Und beim 1:3 in Braunschweig beklatschen Eintracht-Anhänger anerkennend Tasmanias zwischenzeitlichen Ausgleich. Nur der 1. FC Kaiserslautern schafft es, gegen Tasmania sieglos zu bleiben (0:0/1:1).

Erst nach einem 0:4 auf Schalke ist das "Himmelfahrtskommando" Bundesliga (Becker) vorbei. Mit zwei Siegen, 28 Niederlagen, 15 Toren, 108 Gegentoren, 8:60 Punkten und einer 0:9-Heimniederlage gegen den Meidericher SV stellt Tasmania, der schlechteste Bundesligist der Geschichte, Rekorde für die Ewigkeit auf. Na ja, zumindest mal für eine halbe.

Mehr zu Tasmania Berlin und wie es dem Nachfolgeklub heute geht lesen Sie im aktuellen kicker vom Montag - hier als e-Magazine.

Jörn Petersen

Sechs Debütanten: Die kicker-Elf des 15. Spieltags