Nationalelf

Antonio Rüdiger: "Danach hat jeder gewusst: Das ist ein Anführer"

Real-Verteidiger blickt zurück auf seine Karriere - und voraus

Rüdiger im Interview: "Danach hat jeder gewusst: Das ist ein Anführer"

Von Real-Trainer Ancelotti geschätzt, von den Madrid-Fans geliebt: Antonio Rüdiger.

Von Real-Trainer Ancelotti geschätzt, von den Madrid-Fans geliebt: Antonio Rüdiger. Getty Images

Der Treffpunkt mit Antonio Rüdiger am Montag vor einer Woche ist in einer schmucken Wohnung im Madrider Stadtteil Salamanca. Normalerweise wird sie von seinem Halbbruder und Berater Sahr Senesie bewohnt. Für das Gespräch überlässt der einstige BVB-Spieler sie dem Profi von Real Madrid. Rüdiger hat wegen einer Oberschenkelprellung gerade das Stadtderby gegen Atletico Madrid verpasst. Er ahnt da noch nicht, dass sich die Blessur als so schwerwiegend herausstellen wird, dass er auch gegen RB Leipzig im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League nicht mitwirken kann.

Bei allem Respekt vor dem Gegner: Ist bei Real Madrids Anspruch ein Achtelfinale gegen RB Leipzig nur eine Pflichtübung, Herr Rüdiger?

Wenn man auf die Historie beider Vereine zurückblickt und die Größe vergleicht, kann man schon sagen: Wir sind in der Favoritenrolle. Aber das heißt nicht, dass es ein einfaches Spiel wird. Wir haben in der vergangenen Saison in Leipzig 2:3 verloren, und es war sehr, sehr schwierig. Klar, die Bedingungen waren damals etwas anders, es war ein Gruppenspiel und wir waren als Erster schon durch. Aber trotzdem hat dieses Spiel gezeigt, dass Leipzig nicht zu unterschätzen ist.

Champions League, Achtelfinale

Was zeichnet RB Leipzig nach Ihrer Einschätzung aus?

Sie haben viele schnelle Spieler, setzen auf hohes Pressing und Umschaltfußball. Das ist wirklich eine unbequeme Mannschaft.

Sie haben schon viele Titel im Vereinsfußball gesammelt, auch die Champions League mit Chelsea. Nationaler Meister waren Sie noch nie.

Und deshalb ist es mir auch umso wichtiger, mit Real in dieser Saison den Liga-Titel zu holen. Meisterschaft, das ist Marathon, und ich habe noch keinen Marathon gewonnen. Aber in Madrid reicht es nicht, einen Titel zu gewinnen. Da hat man immer auch die Erwartung, die Champions League zu gewinnen.

Rüdiger über Reals Verletzungspech und seine Popularität

Dabei wird Real in dieser Saison von außergewöhnlichem Verletzungspech gebeutelt, die Abwehr ist nach den Kreuzbandrissen von David Alaba und Eder Militao seit Monaten ein Provisorium. Verwundert es Sie da, dass Real trotzdem Tabellenführer ist und souverän die Champions-League-Vorrunde abschloss?

Irgendwo schon, irgendwo auch nicht, deshalb lautet die Antwort jein. Ich glaube, dass wir sehr stark zusammengewachsen sind, weil es so viele Ausfälle gibt. Wenn einer wegbricht, ist da einfach der Nächste, der reinkommt und den Vertreter macht. Wie zum Beispiel vor einer Woche gegen Atletico Madrid, als ich fehlte und Daniel Carvajal einen Prima-Innenverteidiger spielte. Wir sind eine richtig gute Einheit, die Stimmung ist klasse, und das sieht man auch auf dem Platz. Egal wie die Umstände sind, egal ob wir 0:1 oder 0:2 zurückliegen: Wir haben immer das Gefühl, dass wir zurückkommen können.

Bei den Real-Fans werden Sie seit Wochen gefeiert als Derjenige, der in der Defensive den Laden zusammenhält. Wie empfinden Sie diesen Popularitätsschub?

Das ist die Betrachtungsweise von außen, und natürlich kriege ich mit, dass es um meine Person lauter geworden ist. Aber ich mache das nicht an mir fest. Wir alle machen da hinten alle einen Super-Job, auch die Angreifer verteidigen richtig gut. Das ist für mich wichtig. Ich muss nicht als Einziger im Rampenlicht stehen.

Antonio Rüdiger

Wechselte im Sommer 2022 vom FC Chelsea zu Real Madrid: Antonio Rüdiger. Under Armour

Trotzdem hat Sie Trainer Carlo Ancelotti kürzlich explizit dort platziert, als er Sie für Ihre Mentalität und Ihren Einsatz adelte.

Natürlich habe ich mich darüber gefreut, wenn solch ein Kompliment aus dem Mund von solch einem großen Trainer kommt. Das ist Wahnsinn und zeigt, dass ich gute Arbeit mache. Aber hier in Madrid kann sich das alles wieder ganz schnell ändern: Wenn du die Champions League oder die Liga nicht gewinnst, war alles für die Katz. Erst am Schluss wird abgerechnet.

Wie gefallen Sie sich in der Rolle des Abwehrchefs?

Es ist ja nicht so, dass ich diese Rolle nicht kennen würde, ich hatte sie auch in meinen ehemaligen Vereinen. Natürlich schauen hier bei Real ein paar Augen mehr hin, natürlich ist der Druck höher als Anderswo. Aber das stört und belastet mich nicht. Im Gegenteil. Druck ist für mich wichtig, das hält mich auf Trab. Ich brauche das.

Hat sich Ihre Zweikampfführung in den vergangenen Jahren verändert?

Natürlich. Früher wollte ich zeigen, dass ich stark bin, mich durchsetzen kann und solche Sachen. Vor allem in Stuttgart, aber auch noch in Rom gab es Rot hier und Rot da. Ich musste erst lernen, dass ich die Dinge auf dem Platz nicht so regeln kann, wie ich es auf der Straße, aus dem Käfig in Berlin gewohnt war. Seit meinem Wechsel 2017 nach Chelsea habe ich keine Rote Karte mehr kassiert. Mit der Erfahrung und Reife habe ich eine gewisse Ruhe aufgebaut, bin souveräner geworden. Generell bin ich nicht so der Freund von Statistiken, aber die Zweikampfstatistiken sprechen schon für mich.

Von mir aus gab es in meiner ganzen Karriere nie Zweifel, ob ich etwas schaffen kann.

Antonio Rüdiger

Ancelotti war vor eineinhalb Jahren die Triebfeder für Ihren Wechsel von Chelsea zu Real. Gab es bei Ihrer Entscheidungsfindung auch Momente, in denen Sie gezweifelt haben, ob Sie sich auch auf diesem Level durchsetzen können?

Nein, definitiv nicht. Von mir aus gab es in meiner ganzen Karriere nie Zweifel, ob ich etwas schaffen kann - auch wenn Zweifel verbreitet wurden von außen. Ich selber wusste immer, wer ich bin, wozu ich fähig bin. Und ja: Ich hab's mir selbst immer wieder bewiesen - nicht jemand anderem, stets mir selbst.

Was denken Sie über Jene, die an Ihnen zweifeln oder gezweifelt haben?

Das gehört dazu. Die Leute haben ihre Meinung und sollen sie äußern. Solange es nicht übergeht in Respektlosigkeit, ist alles okay, dann trifft mich das nicht. Die Kritik von vielen Medien und Experten an meiner Leistung im Länderspiel gegen Österreich war zum Beispiel berechtigt. Wenn es dann aber heißt, man müsse sich fragen, was Real Madrid mit einem Antonio Rüdiger wolle, empfinde ich es als respektlos.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie immer mehr leisten mussten als Andere, damit es außen auch so wahrgenommen wird?

Dieses Gefühl kannst du nur entwickeln, wenn du zu viel Wert darauf legst, wie Leute über dich denken. Es gab Zeiten, da war das bei mir der Fall, da hatte ich das. Aber diese Zeiten sind schon lange vorbei, diese Gefühle habe ich nicht mehr (lächelt).

Rüdiger: "Zu hundert Prozent" stolz auf das Erreichte

Seit wann? Seit Sie mit Chelsea die Champions League gewonnen haben?

Ungefähr da, ja. Beim VfB Stuttgart, aber auch in Rom habe ich die Zweifel schon noch mitbekommen. Wenn man den nächsten Schritt machen will, wird man gerne so ein bisschen angezweifelt: Der kann das nicht! Kann er das nicht oder kann er? Damals war ich jung und auf der Suche nach Bestätigung, deshalb haben mich diese Bedenken erreicht und beschäftigt. Allerdings war es auch eine Art Motivation für mich. Als ich aber mit Chelsea die Champions League gewonnen habe, war das wie ein großer Sprung und eine Befreiung. Da habe ich mir gesagt: Wenn jetzt immer noch einer sagen will, dass ich es nicht kann, dann kann ich ihm auch nicht mehr helfen.

Antonio Rüdiger, FC Porto

Im Sommer 2021 feiert Antonio Rüdiger (M.,  mit Trophäe) dank eines 1:0-Sieges von Chelsea gegen ManCity den Titel in der Champions League. Getty Images

In Chelsea lief es ja nicht immer rund für Sie, Frank Lampard gehörte eher zur Fraktion, die an Ihrem Können zweifelten. War das ein Knackpunkt in Ihrer Karriere?

Ja, weil ich diese Situation, nicht zu spielen, so noch nicht kannte. Und dann, ja dann merkst du halt mal, das alles leise um dich herum wird, und das manche happy darüber sind, dass du in dieser Situation steckst. Aber da erkennst du auch, dass es nur auf dich ankommt und auf die Leute, die dich wirklich lieben, die das Beste für dich wollen und dich glücklich sehen wollen.

Erfüllt es Sie im Rückblick mit Stolz und Genugtuung, was Sie erreicht haben?

Klar, zu hundert Prozent. Denn wie viele würden heute diesen Schritt wagen, den ich damals mit Rom gemacht habe? Nach Italien zu gehen und nicht zu wissen, was passiert? Ich habe damals die Herausforderung gesucht. Ich wollte wachsen, ich wollte was sehen in meiner Karriere, ich wollte andere Sprachen sprechen. Und deshalb bin ich sehr stolz auf meine Karriere, und dabei meine ich in erster Linie nicht die Titel. Titel sind auch schön, sehr schön sogar, das gibt dir vielleicht ein bisschen mehr Ansehen. Aber für mich entscheidend ist der Weg. Der war erstaunlich, und darauf bin ich sehr stolz.

Wie sich Rüdiger Ansehen in Madrid erarbeitete

Stichwort Ansehen: Muss man sich in so einem Verein wie Real das Ansehen erst erarbeiten?

Definitiv, ganz klares ja. Ich glaube, das hat jeder, der hier war oder hier ist, durchmachen müssen. Das war mir von Anfang an bewusst.

Was waren die entscheidenden Momente? Das Spiel gegen Donezk, als sie in der 95. Minute den Ausgleich erzielten und eine heftig blutende Kopfwunde davonzogen. Oder das Halbfinale gegen Manchester City, als Sie Erling Haaland ausschalteten?

Das Spiel mit der Wunde war schon ein Besonderes, weil für die Fans wichtig ist, dass du auf dem Platz alles für den Verein liegen lässt. Aber das Haaland-Spiel war das wichtigere, das wichtigste Spiel überhaupt. Danach hat jeder gewusst: Das ist ja gar kein Mitläufer, das ist ein Anführer. Und das galt es für mich in dieser Saison zu bestätigten.

Wie würden Sie heute Ihr Standing in der Mannschaft bezeichnen?

Ich bin irgendwo überall dazwischen. Ich verstehe mich sehr, sehr gut mit den Jungen, aber bin natürlich auch nahe dran an Toni Kroos und Luka Modric. Das sind unsere Bosse, viel sagen kann ich denen nicht und werde ich auch nicht (lächelt).

Haben Sie das Gefühl, dass die Art wie Sie spielen in Spanien und in England mehr wertgeschätzt wird als in Deutschland?

Wahrscheinlich ist das so. Ich kann das aber auch irgendwo verstehen, weil nun mal die Ergebnisse und die Leistungen mit der Nationalmannschaft auch ganz anders waren als im Verein die letzten Jahre.

Haben Sie den Eindruck, dass Spieler, die im Ausland sind, zu Hause generell nicht mit der öffentlichen Wertschätzung begleitet werden, wie es in anderen Ländern üblich ist?

Das ist für mich schwer zu sagen. Natürlich wird in Deutschland die Bundesliga mehr geschaut, automatisch genießen deshalb die Spieler dort auch mehr Aufmerksamkeit. Deswegen würde ich mal sagen, sind wir etwas zweitrangig. Den englischen oder spanischen Spielern in der Bundesliga wird es umgekehrt logischerweise auch ähnlich gehen. Aber wichtig ist doch die Frage, wo ich wertgeschätzt werden möchte? Innerhalb der Nationalmannschaft genieße ich absolute Wertschätzung und das ist mir wichtig.

Sie spielen seit über acht Jahren im Ausland. Hat sich seitdem Ihr Blick auf Deutschland verändert?

Ein bisschen schon. Es ist immer wieder schön, nach Deutschland zu kommen, weil man sich einfach zu Hause fühlt, zum Beispiel in der Gruppenphase gegen Union in Berlin, meiner Heimatstadt. Das war super, einfach überragend. Wenn ich aber dann ein bisschen länger in Deutschland bin, habe ich den Eindruck: Wir sind manchmal schon zu ernst und etwas mehr Lockerheit würde uns allen ganz gut tun - wie ich sie vor allem in Italien und Spanien kennengelernt habe. Trotzdem freue ich mich aber natürlich jedes Mal darauf, wenn ich Zeit hier verbringen kann, weil es meine Heimat ist.

Rassismus steckt im System, und wenn es da ist, ist es schwierig rauszuholen.

Antonio Rüdiger

Sie waren in früheren Jahren ein Wortführer, wenn es um den Kampf gegen Rassismus ging. Haben Sie resigniert oder warum hört man dazu nicht mehr so viel von Ihnen?

Es stimmt, ich bin in den letzten Jahren ruhiger geworden und melde mich nicht mehr so viel zu Wort, was dieses Thema angeht. Nicht, weil es nichts bringt, so weit würde ich nicht gehen. Aber es ist einfach so: Wenn es um konkrete Handlungen geht, passiert nicht wirklich was. Rassismus steckt im System, und wenn es da ist, ist es schwierig rauszuholen.

Müsste also gerade der Fußball mit seinen Verbänden und Vereinen, die ja gerne regelmäßig schöne Botschaften in die Öffentlichkeit tragen, rassistische Vorfälle im Stadion konsequenter verfolgen und bestrafen?

Genau das ist das Ding, das habe ich immer gesagt. Hier in Spanien ist das Thema ja viel verbreiteter, in dieser Saison wurde unser Spieler Vinicius in Valencia und anderen Stadien rassistisch angegriffen. Und wenngleich die Aktion nicht direkt gegen mich gerichtet war, trifft sie mich als Farbigen natürlich auch. Aber wenn du dann die Strafen siehst, dann denkst du dir deinen Teil. Das ist dann einfach zu wenig.

Sie sind in Berlin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und dank Ihrer Karriere ein wohlhabender Mann. Was bedeutet Ihnen Wohlstand?

Meine Familie ist Reichtum für mich. Einfach zusammensitzen, zusammen essen, die Kinder, Eltern, Geschwister gesund zu sehen - das ist mehr wert als alles andere. Natürlich gibt es Dinge, die man mag, Autos oder Uhren zum Beispiel. Aber das ist alles zweitrangig bei mir. Früher habe ich in meiner Karriere immer gedacht, dass ich das alles für mich mache. Seit ich zwei Kinder habe, zwei und drei, weiß ich: Das habe ich alles für sie gemacht.

Vorfreude auf die Heim-EM - oder doch eher Sorge?

Zurück zum Sport und zur Nationalmannschaft. Was überwiegt vier Monate vor dem Start in die Heim-EM: Die Vorfreude auf das Turnier oder die Sorge, es in den Sand zu setzen?

Beides ist natürlich vorhanden. Die letzten Turniere und die letzten beiden Länderspiele waren nicht gut, deswegen hat man auch Schuldgefühle im Kopf. Aber ich habe mir fest vorgenommen, die Dinge trotzdem positiv anzugehen. Wir spielen zu Hause, wir haben ein gutes Team und einen herausragenden Trainer. Ich weiß ganz genau, wir werden vorbereitet sein und alles reinwerfen.

Mit Verlaub klingt das nach den desaströsen letzten Länderspielen gegen Österreich und die Türkei nach reichlich Optimismus und wenig Realitätssinn.

Trotzdem ist es meine feste Überzeugung, und außerdem: Habe ich eine andere Wahl? Wir alle, also wir Spieler, stecken da drin und müssen einen Weg aus der Krise finden. Ich habe ja vorhin erzählt, dass bei Real unsere große Stärke ist, dass wir auch bei einem Rückstand nie den Glauben an uns verlieren. In der Nationalmannschaft ist es genau umgekehrt: Da gehen beim ersten Rückschlag die Köpfe runter. Das muss sich ändern.

Spiele des DFB-Teams

Wo wollen Sie ansetzen?

Spaß, es muss wieder Spaß reingebracht werden, das hat im November gegen Österreich und die Türkei gefehlt und da nehme ich mich als Ersten in die Kritik und in die Pflicht. Ich hatte da auch keinen Spaß und mich stattdessen mit runterziehen lassen, was in meiner Karriere nicht oft vorgekommen ist. Natürlich darf mir das nicht passieren, aber es ist passiert. Ich will das wieder gut machen und ich weiß, was man zu verbessern hat. Es kann nicht sein, dass Spieler, die Führung übernehmen sollen, dann einen Knick haben.

Hat Nagelsmann mit Ihnen in dieser viermonatigen Länderspiel-Pause das Gespräch gesucht?

Nein, ich hatte keinen Kontakt zu ihm und das war auch nicht nötig. Wenn wir ehrlich sind und die Spiele Revue passieren lassen, dann wissen wir ja, dass es nicht am Trainer liegt oder irgendein Gespräch geführt werden muss. Wir alle sind alt genug, um zu wissen, dass wir Spieler das verbockt haben. Und jeder Spieler weiß auch, woran er zu arbeiten hat.

Bei der WM in Katar stand die Mund-zu-Geste im Mittelpunkt. Wäre es nicht an der Zeit, sich direkt vor und während eines Turnier mal wieder voll und ganz auf Fußball zu konzentrieren?

Natürlich war der Druck rund um die Katar-WM groß, aber wir als Spieler können trotzdem entscheiden, dem nicht nachzugeben. Wir hätten gemeinsam auch von Anfang an sagen können: Politik, zur Seite. Uns geht es jetzt ausschließlich um Fußball.

Im März warten in Lyon gegen Frankreich und in Frankfurt gegen die Niederlande nicht gerade zwei Aufbaugegner.

Ich finde, das sind gute Tests, solche Gegner tun uns gut. Wir haben im September gegen Frankreich schon gespielt und meiner Meinung nach ein sehr gutes Spiel gemacht (2:1, Anm. d. Red.).

Beim WM-Sommermärchen 2006 waren Sie 13, wo und wie haben Sie es erlebt?

Zuhause in Berlin und es war einfach fantastisch zu sehen, wie alle Leute zusammen und happy waren. Ob Deutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund, alle haben geschrien, wenn ein Tor fiel. Ich war natürlich auch auf der Meile am Brandenburger Tor, allerdings nicht, als die Mannschaft gefeiert wurde. Meine Eltern hatten gesagt, dass da zu viele Menschen seien, das wäre nichts für mich.

Wir müssen für die Stimmung sorgen. Punkt.

Antonio Rüdiger

Kann es in diesem Sommer wieder so werden wie 2006?

Ich hoffe es. Und ich will, dass es so sein wird. Aber da muss der erste Impuls von uns kommen. Dass unsere Fans mit Blick auf die EM Bedenken haben, ist völlig normal und verständlich. Wir haben doch diese Zweifel geschürt, deshalb liegt es auch an uns, das wieder umzudrehen. Wenn die Leistungen und vor allem die Ergebnisse wieder stimmen, dann haben wir die Fans ganz schnell wieder hinter uns. Wir müssen für die Stimmung sorgen. Punkt.

Auf die Frage zu Toni Kroos haben Sie bestimmt die ganze Zeit gewartet. Sie haben dafür gesorgt, dass seit Wochen über ein mögliches Comeback von ihm diskutiert wird.

Da habe ich ein großes Fass aufgemacht (lacht).

Wissen Sie, ob ihn Nagelsmann zurückholen will?

Das weiß ich nicht, aber jeder konnte ja sehen, was er dazu gesagt hat.

Kroos aktuell "einer unserer besten Deutschen"

Wissen Sie wenigstens, ob er zurückkehren will?

Nein, auch das weiß ich nicht. Er wird diese Entscheidung für sich treffen. Da muss ihm kein anderer Toni jeden Tag ins Ohr sprechen (schmunzelt). Ich stehe aber zu hundert Prozent zu dem, was ich gesagt habe. Es ist eine Heim-EM, wir wollen die besten Spieler dabeihaben, und ich sehe Toni aktuell als einen unseren besten Deutschen, weil er im Moment auch einer der besten Spieler von Real Madrid ist. Und wenn ich so offen und ehrlich sprechen darf: Ich glaube, viele denken genauso wie ich. Wir reden von einem Spieler, der seit zehn Jahren hier bei Real Madrid ist, dem immer noch sehr großer Respekt entgegengebracht wird. Das muss man erst einmal schaffen, das ist für mich eine unfassbare Leistung.

Sie sind mit 22 ins Ausland gegangen, haben in allen vier großen Ligen gespielt. Was kann für Sie noch kommen in der aktiven Karriere?

Man schaut immer so viel voraus. Ich bin sehr gläubig und muss an dieser Stelle einfach mal sagen: Danke Gott für das, was ich habe, was ich erleben durfte. Was noch kommt, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich hier noch zwei Jahre Vertrag habe. Ich lasse einfach alles auf mich zukommen.

Oliver Hartmann und Antonio Rüdiger

Im Gespräch mit kicker-Reporter Oliver Hartmann (li.): Antonio Rüdiger. Under Armour

Dafür waren sie in früheren Jahren eher nicht bekannt.

Stimmt, ich habe mich eher dahin entwickelt. Davor war es schon so, dass ich mir immer konkrete Ziele gesetzt habe. Aber mittlerweile genieße ich diesen Moment, weil ich einfach glaube, dass ich auf dem Olymp des Fußballs angekommen bin. Real Madrid, das ist Endstation, danach kannst du nur noch nach unten gehen.

Sie sagten vorhin, dass Sie immer von sich überzeugt waren, egal, wo Sie hingegangen sind. Haben Sie sich in jungen Jahren vorstellen können, dass Sie einmal dort landen, wo Sie jetzt sind?

Das nicht, das ist auch etwas anderes als das, was ich vorhin beschrieben habe. Ich hatte niemals Angst, einen größeren Schritt zu machen. Aber ich hätte mir nie ausmalen können, dass ich eines Tages hier sein werde.

Joshua Kimmich hatte nach dem WM-Debakel in Katar die Befürchtung geäußert, in punkto Nationalmannschaft am Ende seiner Laufbahn als Loser-Generation dazustehen. Umtreibt Sie auch diese Befürchtung?

Nein. Natürlich ist es hart, wenn man bei der WM zweimal hintereinander in der Vorrunde ausscheidet. Das ist kein schönes Gefühl, aber sind wir deswegen eine Loser-Generation? Ein Loser ist jemand, der nicht antritt, der wegläuft. Ich bin keiner, der wegläuft, und das gilt ebenso für Jo. Vielleicht hat er das gesagt, weil von außen sehr viel Druck auf ihn kommt, weil da viel auf ihn einprasselt. Ich finde es übertrieben, wie da teilweise - vor allen von sogenannten Experten - über ihn hergezogen und geurteilt wird. Jo ist einer unserer wichtigsten Spieler. Er tritt an, er will alles, er ist ein Gewinner. Das sollte man auch entsprechend honorieren.

Dieses Interview erschien erstmals in der Montagsausgabe des kicker am 12. Februar.

Interview: Oliver Hartmann