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Luis Diaz' "seltsamer" Traumstart beim FC Liverpool

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Nudeln für Nudel: Luis Diaz' "seltsamer" Traumstart in Liverpool

Als hätte ihn Jürgen Klopp großgezogen: Luis Diaz.

Als hätte ihn Jürgen Klopp großgezogen: Luis Diaz. picture alliance

Als der Abpfiff ertönte, musste Luis Diaz weinen. Er war nicht nur plötzlich ins Finale der Champions League eingezogen, aus der er im Dezember eigentlich schon ausgeschieden war. Er, der aus einer Gegend in Kolumbien stammt, in der noch heute Kinder an Unterernährung sterben, hatte den FC Liverpool eigenfüßig dorthin gebracht.

An jenem 3. Mai im Halbfinalrückspiel in Villarreal wechselte Jürgen Klopp den Sieg ein, weil er es versäumt hatte, ihn von Anfang an aufzustellen. Zur zweiten Hälfte gekommen veränderte Luis Diaz das bis dahin so seltsam wackelige Liverpooler Spiel grundlegend, wirbelte, traf, wirbelte weiter. Binnen 45 Minuten passierte es schon wieder: Luis Diaz schlug ein.

"Ich habe noch nie einen Spieler gesehen, der so durchgestartet ist"

Für 45 Millionen Euro, die über Bonuszahlungen noch auf 60 steigen können, war der 25-jährige Kolumbianer am 30. Januar von Porto nach Liverpool gewechselt. "Er braucht Zeit", sagte Klopp damals, so wie Andy Robertson oder Naby Keita, ja sogar Thiago einst Zeit gebraucht hatten, um zu verstehen, was ihr neuer Trainer von ihnen will. "Wenn er sofort auf seinem Top-Niveau und besser als alle anderen wäre, wäre das ganz schön seltsam."

Doch es wurde seltsam. "Ich habe noch nie einen Spieler gesehen, der so durchgestartet ist", staunt "BT Sport"-Experte Michael Owen wie so viele andere. "Er spielt in einer neuen Liga, spricht die Sprache nicht. Es ist unglaublich, dass er sich Liverpools Spielweise so schnell angeeignet hat." Niemand hatte Wunderdinge erwartet, doch "gerade", erkannte Klopp schon im März, "ist er nicht weit von ihnen entfernt".

Luis Diaz: Zwei Experten über seinen Weg aus der Armut ins CL-Finale

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Zwei Scorerpunkte im Hinspiel des Champions-League-Viertelfinals bei Benfica (3:1), ein herausragender Jokereinsatz im Derby gegen Everton (2:0), das wichtige Tor zum 1:1 gegen Tottenham, der "Man of the Match"-Auftritt im FA-Cup-Finale (6:5 i.E. gegen Chelsea): Luis Diaz spielte, als wäre er in Liverpool geboren und von Klopp großgezogen worden. Als hätte Letzterer seine Vorstellung von Fußball in Flaschen abgefüllt und Ersterer sie leer getrunken. Luis Diaz' Debüt beim 2:0 gegen Leicester nannte Klopp "eines der besten, das ich je von einem Spieler gesehen habe. Es sah vollkommen natürlich aus."

All das waren Wunderdinge. Aus dem Nichts aber kamen sie nicht.

Sein Stern geht bei einem Turnier auf, das es davor und danach nie mehr gab

Zwar war er sechs Monate früher als geplant verpflichtet worden, weil Porto auf einmal bereit war, von der festgeschriebenen Ablösesumme in Höhe von 80 Millionen Euro abzurücken und sich eine Einigung mit Tottenham anbahnte. Doch dass dieser Flügelstürmer mehr Glücks- als Vorgriff werden könnte, ahnten sie in Liverpool längst.

"Physisch und mental" bringe er alles Nötige mit für die Premier League, sagte Klopp bei seiner Verpflichtung. "Er ist ein Kämpfer, kein Zweifel." Bei seiner Kindheit blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.

Luis Diaz stammt aus Barrancas, einer Stadt in La Guajira weit im Nordosten von Kolumbien, an der Grenze zu Venezuela, und gehört zu den Wayuu, dem größten indigenen Volk des Landes. Kaum eine Region in Kolumbien ist derart vernachlässigt und verarmt. Und auch Luis Diaz war regelrecht mager, als er 2015, mit 18 Jahren, erstmals sein Land verließ: Er wurde für die erste und bis heute einzige Copa America der indigenen Völker nominiert.

Trotz physischer Nachteile hatte er beim Casting alle überzeugt. "Er ist mit Ball und gesenktem Kopf losgerannt und hat manchmal nicht mal gemerkt, dass er das Ende des Spielfelds erreicht hatte", erinnerte sich der damalige Auswahltrainer John Diaz in der BBC. "Der Ball hat ihm am Fuß geklebt."

Jedes Spiel ist eine Abrechnung für mich.

Luis Diaz

Nach dem Turnier verpflichtete ihn der Zweitligist Barranquilla FC und gründete, so heißt es, eigens eine U-18-Auswahl für ihn. Vor allem aber musste er essen: Er, den sie bisher "Nudel" nannten, bekam sogar zum Frühstück Pasta serviert und nahm zehn Kilo zu. Parallel wurden seine Stationen immer gehaltvoller.

Weniger Muskeln, mehr Zahnspange: Luis Diaz im September 2017 im Trikot des Junior FC.

Weniger Muskeln, mehr Zahnspange: Luis Diaz im September 2017 im Trikot des Junior FC. AFP via Getty Images

2017 der Wechsel zu Barranquillas "großem Bruder" Junior FC, gefolgt vom Debüt in der Nationalmannschaft und zwei Meisterschaften, 2019 der Sprung nach Porto für sieben Millionen Euro. Und als er 2021 bei der "echten" Copa America gemeinsam mit Lionel Messi Torschützenkönig wurde und gegen Brasilien mit einem sensationellen Seitfallzieher traf, konnten die großen Klubs ihre Augen endgültig nicht mehr von ihm abwenden.

Ein dürrer Junge, der eigentlich keine Chance hatte, war plötzlich eine Berühmtheit weit über Kolumbiens Grenzen hinaus. "Jedes Spiel ist eine Abrechnung für mich", sagte Luis Diaz (inzwischen 35 Länderspiele, acht Tore) mal, alles verdanke er "seinen Wurzeln", La Guajira. Es gibt ein Video, das ihn nach dem dritten Platz bei der Copa strahlend und zaubernd bei einem Kick in der Heimat zeigt, ohne Fußballschuhe.

Luis Diaz und seine englischen Kumpels: "Keine Ahnung, wie sie sich unterhalten"

In der Hinrunde 2021/22 traf er in 18 Ligaspielen 14-mal für Porto, schied zwar in der Champions League aus, überzeugte in den Gruppenspielen gegen Liverpool Klopp aber endgültig: Dieser flinke, unermüdliche Dribbler war wie gemacht für den LFC. Nicht erst im Sommer, sondern schon jetzt, da Mohamed Salah und Sadio Mané beim Afrika-Cup spielten.

Und jeder wusste, was zu tun ist: Klopp, der seinen Neuzugang nicht mit Anweisungen überfrachtete, sondern clever nutzte, dass Porto einen Liverpool-ähnlichen Gegenpressing-Stil pflegt ("Er musste sich nicht umstellen, wir wussten, dass es sofort passen würde") und Luis Diaz eh voller Selbstvertrauen war. Die Mannschaft, die ihn unkompliziert in ihre gefestigten Strukturen aufnahm. Und Luis Diaz selbst wusste es auch.

"Er kommuniziert wirklich mit allen, ohne die Sprache zu sprechen", staunte Klopp bald darüber, wie schnell sich Luis Diaz selbst integrierte. "Okay, wir haben die Spanien-Fraktion", und Co-Trainer Pepijn Lijnders spricht fließend Portugiesisch. "Aber er ist sehr eng mit Curtis (Jones, Anm. d. Red.), mit Harvey (Elliott) - ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie sie sich unterhalten. Schon nach einer Woche waren sie emotional verbunden. Das ist echt außergewöhnlich, aber das liegt nur an ihm."

Klopp: "Ich spreche kein Spanisch, er kein Englisch, er lernt es, ich nicht"

Gewann schon in Kolumbien und Portugal Titel, nun auch in England: Luis Diaz, hier mit einem Teil des FA-Cup auf dem Kopf.

Gewann schon in Kolumbien und Portugal Titel, nun auch in England: Luis Diaz, hier mit einem Teil des FA-Cup auf dem Kopf. IMAGO/Shutterstock

Und es zeigt, was noch alles möglich ist. Schon jetzt hat er Liverpool als erster Kolumbianer der Klubgeschichte einen James-artigen Hype in der Heimat beschert. Schon jetzt ist Virgil van Dijk beeindruckt, "wie er ins Eins-gegen-eins geht, egal, gegen wen", und wie er den Ball "sofort zurückerobert", wenn er ihn mal verliert, und von Neuem loslegt; und wie er als Rechtsfuß von links nach innen zieht oder halt den Gegner stehen lässt, wenn der genau das erwartet.

Ein Vergleich der Premier-League-Daten zeigt, dass Luis Diaz von allen Liverpooler Angreifern am häufigsten (4,6 pro 90 Minuten) und erfolgreichsten (63,3 Prozent) dribbelt und gleichzeitig die beste Zweikampfquote aufweist (46,6 Prozent).

Was passiert erst, wenn Luis Diaz eine Saisonvorbereitung unter Klopp bestreitet und der ihn auch noch versteht?

"Ich spreche kein Spanisch, er kein Englisch. Er lernt es, ich nicht, also müssen wir warten, bis sein Englisch besser wird", lacht Klopp, der vor allem bei den defensiven Abläufen noch Luft nach oben sieht. "Er ist für uns ein Langzeitprojekt und wir für ihn." Salah und Mané, heute Weltklasse-Profis, waren in einem ähnlichen Alter, als Liverpool sie verpflichtete. Klopp mag solche "Spätblüher", wie es im Englischen heißt: "Die blühen sehr oft ganz herausragend."

Und Luis Diaz hört nicht auf zu wachsen. Erst war er der Vorgriff, der behutsam aufgebaut werden sollte, dann die wertvolle Ergänzung für Liverpools strapazierte Angriffsreihe und plötzlich der Mann, der das Champions-League-Finalticket in Druck gab. Am Samstag (21 Uhr, LIVE! bei kicker) im Stade de France wird er nicht als Joker glänzen. "Im Finale", weiß Owen, und der ist Experte, "wird er ganz sicher von Beginn an spielen."

Jörn Petersen

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