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Kommentar: Kimmichs beklemmender Hilferuf

Kommentar

Kimmichs beklemmender Hilferuf: Was will das Land von seinen Fußballern?

Litt besonders stark unterm WM-Aus der deutschen Nationalelf: Joshua Kimmich.

Litt besonders stark unterm WM-Aus der deutschen Nationalelf: Joshua Kimmich. IMAGO/Sven Simon

Weltmeisterschaften hinterließen, ob nach triumphalem oder tragischem Ausgang, dem deutschen Fußball ikonische Bilder. Ewig in Erinnerung bleiben wird Franz Beckenbauer, wie er nach dem 1:0-Finalsieg 1990 im abgedunkelten Olympiastadion zu Rom über den Rasen spaziert, schwebt. Da war 1966 Uwe Seeler, der sich, eskortiert von einem Polizisten in Uniform und einem Anzugträger, nach der 2:4-Endspielniederlage gegen England in Wembley Richtung Kabine schleppte, mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und hängendem Kopf. Die Aufnahme dieser Szene wurde zum Sportfoto des Jahrhunderts erhoben.

Da kauerte Oliver Kahn am Torpfosten in Yokohama, der deutsche Kapitän und Keeper hatte nach seiner persönlich fantastischen WM im Finale gegen Brasilien mit einem Fangfehler das 0:1 entscheidend begünstigt. Und da war Bastian Schweinsteigers klaffende, blutende Risswunde unter dem rechten Auge, zugezogen im 1:0-Finale gegen Argentinien 2014 - das martialische Signum eines Helden.

Kimmich sprach von einem "Loch" und meinte einen psychischen Abgrund

Und da ist nun Joshua Kimmich. Das Gesicht fahl, blass, bleich, die Augen tief in ihren geröteten Höhlen. Es ist sekundär, ob der deutsche Nationalspieler Tränen vergoss nach dem WM-Aus in Katar - aus Kimmich fließen extreme Enttäuschung, tiefste Traurigkeit, schlimmster Schmerz, als er seine Leidensgeschichte erzählt. Kimmich erwähnt seinen Ehrgeiz, das Scheitern 2018, 2021, jetzt schon wieder. Und er betont seine persönliche Verantwortung dafür.

Schonungslos entblößt Kimmich seine Seele, es formt sich das biblische Bekenntnis eines Mühseligen und Beladenen. Er spricht ausnehmend berührende Worte, bedenkenswerte und bedenkliche, wenn er seine "Angst" preisgibt, "in ein Loch zu fallen". Er meint einen psychischen Abgrund. So weit dürfen unerfüllte sportliche Ambitionen einen jungen Mann und Familienvater nicht treiben.

Kimmich bezog in seine Rede auch die Nebengeräusche ein, die die deutsche Mannschaft begleitet hatten, wie schon 2018. Damals störte das Erdogan-Gündogan-Özil-Foto, dieses Mal das Thema der "One Love"-Binde, das zum Problem anschwoll, weil es die Führung um den Präsidenten Bernd Neuendorf und Direktor Oliver Bierhoff versäumt hatte, diese Causa frühzeitig juristisch oder spätestens vor Ort entschieden zu klären und abzumoderieren. Sie eskalierte.

Nun dreht sich die Kritik - wie es eben gerade passt

Gewiss hat Niklas Süle beim 1:2-Siegtreffer der Japaner nicht gepennt, weil ihn in diesem Moment das diktatorische "One Love"-Verbot der FIFA beschäftigte, aber genervt hat diese never ending story allemal. Die Mannschaft hatte sich, zumindest in Teilen, weil nicht alle gleich dachten, in Wort und Tat positioniert, ausreichend und im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Ob sie mit der letzten Überzeugung dazu stand, bleibt unerforschlich, aber es fiel schon auf, wie synonym und bereitwillig die Neuer, Gündogan oder Goretzka auf ihr Eintreten für die Menschenrechte hinwiesen, obwohl sie kurz zuvor das Startspiel verloren hatten. Es wirkte fast bemüht um politisches Wohlverhalten - einerlei, die Botschaft war wichtig. Im Ausland wurde das deutsche Team für sein Engagement beklatscht, zu Hause verlacht. Und da nun das dritte sportliche Desaster in Serie feststeht, dreht sich die Kritik, die absolut berechtigte, in Richtung Fußball. Wie es eben gerade passt.

Was also will Deutschland von seinen Fußballern? Sollen sie, die ihre Profession und ihren ersten Auftrag auf dem Feld zu erfüllen haben, mit ihren politischen Botschaften und einer tugendreinen Haltung die Welt retten? Oder sollen sie ihr Fußball-Tor verteidigen und den Ball ins gegnerische schießen? Zwischen diesen Polen taumelten die deutschen WM-Delegierten, Spieler, Trainer, Obere. Sie waren Getriebene, weil sie keinen klaren Kurs fanden auf dem tosenden Meer der tobenden Ansprüche. Das erneut frühzeitige Aus bei einem Turnier hängt aber nicht allein und allenfalls mittelbar damit zusammen. Es gab zu viel organisatorisches und sportliches Versagen.

Die oftmals selbstverliebten Spieler müssen nun ihr Tun auf dem Platz, nicht minder ihr Auftreten gegenüber und in der Öffentlichkeit eilends überdenken, genauso die selbstgewissen Fundamentalmoralisten ihre Anforderungen an die Fußballprofis. Nationalspieler sind keine Politiker, keine Philosophen. Sie sind überprivilegierte und überbezahlte junge Männer, die in einer paradiesischen Blase ihr verwöhntes Leben führen. Sie sind aber auch Menschen, wie Kimmichs Hilferuf beklemmend beweist.

Note 5 für Quintett um Neuer: Die DFB-Elf in der Einzelkritik