Bundesliga

Jupp Heynckes wird 75: "Der Fußball war meine Bestimmung"

Der Jubilar im ausführlichen Interview

Jupp Heynckes wird 75: "Der Fußball war meine Bestimmung"

"Das Alter ist nur eine Zahl": Alles Gute zum 75., Jupp Heynckes!

"Das Alter ist nur eine Zahl": Alles Gute zum 75., Jupp Heynckes! imago images

Herr Heynckes, was bedeutet Ihnen Ihr 75. Geburtstag?

Ich muss gestehen, dass ich, als die ersten Anfragen für Interviews deswegen kamen, erschrocken war, dass ich 75 Jahre alt werde. Allerdings fühle ich mich noch nicht so alt, ich nehme sehr aktiv am Leben teil und diese 75 Jahre nicht so wahr. Das Alter ist nur eine Zahl. Dennoch frage ich mich in der Rückschau schon, wo diese lange Zeit geblieben ist. Dieser Tage habe ich zu meiner Frau Iris gesagt, dass man in der Kindheit oder Jugendzeit ein solche Alter gar nicht greifen konnte. Aber die Jahre gehen eben dahin.

Wie werden Sie diesen Ehrentag feiern?

Es sind schwierige Zeiten, die man sich vor zwei, drei Monaten nicht vorstellen konnte. Die Corona-Pandemie ist für viele sehr bedrückend, etwa für Familien mit Kindern, die auf engstem Raum leben müssen. Der aktuellen Situation geschuldet, werden wir trotz der Lockerungen zu Hause bleiben. Meine Frau Iris wird ein tolles Essen zubereiten, dazu trinken wir ein Glas Wein und lassen unsere Gedanken in die gemeinsame Vergangenheit schweifen. Ich habe lange in meinem Beruf gearbeitet und hatte immer Freude am Fußball. Insgesamt bin ich mit meinem Leben sehr zufrieden, auch wenn es - wie jedes - Höhen und Tiefen hatte.

Ihren 70. Geburtstag verbrachten Sie mit Ihrer Familie still und leise auf Sylt. Werden die Feierlichkeiten dieses Mal von der Corona-Pandemie beeinflusst oder getrübt?

Ja. Beim 50. waren wir eine Woche in Paris, beim 60. am Gardasee. Große Feten habe ich nie gemacht, Feiern im Kleinen passen mehr zu meinem Naturell.

Wie gehen Sie generell mit dem Älterwerden um?

Ich habe damit überhaupt kein Problem. Wichtig ist, was man persönlich daraus macht. Ich hatte immer eine stabile Psyche, sehe unser Dasein realistisch und kann mich an einfachen Dingen erfreuen. Große Statussymbole brauche ich nicht. Wenn ich frühmorgens durch den Wald spaziere, genieße ich die Stille, höre die Vögel zwitschern oder sehe die Sonne durch die Baumwipfel scheinen. Diese Momente sind traumhaft, die Natur ist herrlich. Oder wenn ich in meinen Garten gehe, der mit sechs Flugenten und wunderbaren Fischen im Teich schon ein kleiner Zoo geworden ist. Ich brauche nicht viel und weiß, dass ich privilegiert bin, gerade in diesen Corona-Zeiten. Das wahre Leben ist, die Augen für die wirklich schönen Dinge offen zu haben und sie im Stillen bewusst genießen zu können.

Spüren Sie die Jahre körperlich?

Regelmäßiges Sportprogramm: Heynckes hält sich fit

Es sind die üblichen Wehwehchen. Trotzdem kann ich regelmäßig Sport machen, schwimmen, Gymnastik, zweimal pro Woche lange und stramme Spaziergänge über anderthalb Stunden. Ich bin ein Bewegungsmensch und altersgerecht aktiv. Mein Alltag ist ausgefüllt. Außerdem helfe ich meiner Frau.

Als Hobbykoch oder Küchenhilfe?

Zu Bratkartoffeln reicht es. Und ich backe Brot und koche Marmelade.

Gab es in Ihrem Leben jemals einen Zeitpunkt, an dem Sie Probleme damit hatten, älter zu werden?

Nie. Ich war fast immer im Job, selbst im Urlaub dachte ich da über die neue Saison nach, über Transfers und Trainingsprogramme. Da blieb keine Zeit für andere Gedanken. Grübeln liegt mir sowieso nicht. Allerdings reflektiere ich heute schon viel. Grundsätzlich bin ich aber dankbar für dieses Leben, das ich hatte, obwohl es sehr arbeitsreich und strapaziös war.

Aber aus dieser Arbeit bezogen Sie Ihr seelisches Gleichgewicht und Ihre Lebensqualität.

Der Fußball war meine Bestimmung. Ich wollte Profi werden und Titel gewinnen.

Jupp Heynckes

Ja, der Fußball war meine Bestimmung. Ich wollte Profi werden und Titel gewinnen. Als Trainer war ich genauso ambitioniert, die Arbeit war auch mein Hobby, meine Leidenschaft, sie füllte mich aus. Schon als Jugendlicher - es waren karge Zeiten - hatte ich nie das Gefühl, dass ich auf etwas verzichten musste. Ich vermisse nichts.

Haben Corona und die jetzige Situation Ihre Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Alter beeinflusst?

Neulich sagte ich zu meiner Frau, dass wir auch zur Risikogruppe gehören. Das Virus verändert die ganze Welt, unser Leben wird in Teilen völlig anders, jeder spürt es. Über unsere Gesellschaft und so manche Fehlentwicklung hatte ich schon vorher viel nachgedacht.

Welche meinen Sie konkret?

Die Wissenschaft warnt uns seit Jahren, dass wir mit Blick auf die katastrophale Klimawende so nicht weitermachen dürften - doch es geschah nichts. Die Gletscher schmelzen, die Tierwelt ist bedroht, dem Wald und den Feldern fehlt der Regen. Bei meinen Spaziergängen sehe ich unmittelbar, was die Trockenheit und die Erderwärmung anrichten. In meiner Jugend hatten wir Winter mit 15 bis 20 Grad minus - wann hatten wir das zuletzt? Natürlich hat das mit unserer weltweiten Umweltverschmutzung zu tun. Wir müssen unsere Lebensweise ändern. Wenn es so weitergeht, werden wir uns mit weniger begnügen und auf manches Nahrungsmittel verzichten müssen. Für die nächsten Generationen zeichnet sich eine fatale Klimasituation ab. Deshalb haben die jungen Leute vollkommen recht, wenn sie protestieren.

Sympathisieren Sie mit Fridays for Future und Greta Thunberg?

Ich habe generell große Sympathien für die jungen Leute mit dem entsprechenden Verantwortungsbewusstsein. Irgendwann ist die Umwelt irreparabel zerstört. Der in Afrika so engagierte frühere höchst populäre Schauspieler Karlheinz Böhm sagte oft mit Verweis auf den Umgang mit den Ressourcen in unserer westlichen Welt, wir müssten sehen, wie viele Kilometer in Afrika Menschen für einen Eimer Wasser gehen müssten; dann würden wir uns anders verhalten. Jeder Bürger muss da seinen Beitrag leisten, zum Beispiel beim Verbrauch von Plastik, wo ich mich seit Jahren total zurückhalte. Wenn wir so weitermachen, endet alles in einer Katastrophe. Das Corona-Virus wird nicht das letzte Problem bleiben, wir müssen unseren Lebensstil, der auf immer mehr Profit ausgerichtet ist, ändern. Aber was willst du von der Welt erwarten, wenn die USA einen Menschen ohne Empathie und ohne Charakter als Präsidenten haben, der für dieses Amt nicht im Ansatz intellektuell befähigt ist?

Waren Sie schon immer ein politischer Mensch? Oder sind Sie erst im Alter dazu geworden?

Das hat in mir geschlummert. Als Fußballer und Trainer hatte ich nicht den Kopf und die Zeit dafür; mittlerweile schon. Manchmal habe ich mir sogar gedacht, eigentlich müsste ich bei einer Klimademonstration mitmarschieren und mitprotestieren. Missstände und Ungerechtigkeit kann ich nicht ertragen.

Macht einen das Alter sensibler dafür, worauf es im Leben wirklich ankommt?

Es wird einem bewusster, man nimmt mehr wahr und wird sensibler für Krisen, Kriege und das Elend in anderen Ländern. Ohne diese Sensibilität ist man kein Mensch.

Haben Sie persönlich Angst vor diesem Virus?

Nein, aber großen Respekt. Meine Frau und ich gehören der besonders gefährdeten Altersgruppe an. Wir halten die Regeln strikt ein. Ich wünsche mir, dass alle - auch die Jüngeren - Rücksicht nehmen auf die Älteren, die 50 Jahre gearbeitet haben und im Alter noch ein paar Jahre genießen wollen. Ich habe einen 95-jährigen Freund, Bert Jerabeck, er hat dieses Land mit aufgebaut. Aber die breite Bereitschaft vieler junger Menschen, die älteren helfen, stimmt mich optimistisch. Da zeigt sich eine weitsichtige, fürsorgliche und respektvolle Jugend.

Im Zusammenhang mit Corona wird viel über Risikogruppen diskutiert. Den einen geht es um die Rettung eines jeden menschlichen Lebens, andere plädieren für eine Lockerung der Maßnahmen. Welche Position nehmen Sie bei diesen fundamentalen ethischen Fragen ein?

Wir dürfen nicht leichtsinnig werden. Wir müssen mit diesem Virus leben, bis wir einen Impfstoff haben. Wir alle haben eine Verantwortung füreinander.

Jupp Heynckes

Als der Lockdown beschlossen wurde, waren alle bemüht, diese Maßnahmen zu unterstützen. Die Politiker und die Mediziner haben da die richtigen Entscheidungen getroffen. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir in diesem Land leben, wo mit dieser Weitsicht die nötigen Vorkehrungen getroffen wurden. Ich habe sehr viel Kontakt nach Spanien, wo mir gesagt wurde, dass bei uns konsequent und weitsichtig gehandelt werde. Aber - und da stimme ich der Bundeskanzlerin voll und ganz zu - wir dürfen nicht leichtsinnig werden. Wir müssen mit diesem Virus leben, bis wir einen Impfstoff haben. Wir alle haben eine Verantwortung füreinander. Zudem müssen die Lockerungen mit Bedacht und sukzessive kommen. Wenn wir alles so öffnen wie vorher, schlittern wir in eine Katastrophe.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, seit rund 30 Jahren im Rollstuhl, sagte kürzlich, der Tod - auch der von Covid-19 verursachte - gehöre sehr wohl zu unserem Leben. Wie bewerten Sie diese Haltung?

Er hat als ganz nüchterner Politiker die Dinge sehr sachlich angesprochen. Bei der Influenza 2017/18 gab es 25100 Tote in Deutschland, aber keiner sprach darüber. Schäuble wollte ausdrücken, dass wir einen Modus finden müssen, damit die Menschen wieder ein halbwegs normales Leben führen und wirtschaftlich bestreiten können.

Ihr Freund Uli Hoeneß betont, wegen ein oder zwei Wochen zu früh erfolgter Lockerungen dürfe nicht ein einziges Leben gefährdet werden. Ist sein Standpunkt menschlicher?

Schäuble weiß, wovon er spricht; er gehört selbst zur Risikogruppe und will keinen gefährden. Aber die optimale Lösung für alle gibt es nicht. Wir müssen alle extrem vorsichtig und diszipliniert sein, dann kann man viel ausschließen. Die definitive Wahrheit hat keiner.

Als der ehemalige Präsident von Real Madrid, Lorenzo Sanz, im März mit knapp 77 Jahren an diesem Virus starb, waren Sie tief erschüttert. Was ging in Ihnen vor, als Sie damals diese schlimme Nachricht erhielten?

Ich war erschüttert, weil ich da unmittelbar mit der schrecklichen Auswirkung dieser Krankheit konfrontiert wurde. Da musste ein Mensch sterben, den ich mit seiner Familie extrem geschätzt hatte. Er lud mich einmal, als ich noch Trainer in Teneriffa war und in Madrid zwischenlandete, zu sich privat nach Hause ein, was die Spanier sehr selten tun. Er und seine Frau besuchten meine Frau, als sie nach dem Champions-League-Gewinn 1998 plötzlich ins Krankenhaus musste. Dann verband dieser Sieg im Europapokal, diese unbeschreibliche Feier, dieser Triumphzug durch Madrid vor zwei Millionen Menschen an den Straßen, mit Hunderttausenden am Cibeles-Brunnen und im Stadion. Was für eine Begeisterung, was für Emotionen. Und dann kommt diese Nachricht, dass mein damaliger Präsident tot ist. Das tut man nicht so leicht ab.

Wie gehen Sie, auf Ihre Person bezogen, mit einem in unserer Gesellschaft eigentlich verpönten, zurzeit aber omnipräsenten Thema wie dem Tod um?

Über den Tod denke ich gar nicht nach. Die Zahlen, die das Robert-Koch-Institut täglich nennt, registriere ich natürlich sehr genau und bedauere zutiefst, dass hinter jedem Verstorbenen eine Tragödie steckt, große Trauer und Schmerz. Ohne dieses Virus hätten diese Opfer noch länger leben können. Aber: Der Tod gehört zum Leben.

Gehen Sie damit wirklich so rational um?

Ja. Und wir Menschen entwickeln ohnehin einen gewissen Schutzmechanismus, wenn wir mit solchen Themen und schrecklichen Bildern konfrontiert werden. Der Syrienkonflikt dauert schon neun Jahre, forderte 500 000 Tote - und die Menschheit schaut zu. Oder dieses unmenschliche Elend in den Flüchtlingslagern, während wir hier in einem gelobten Land leben und manche noch immer so undankbar sind. Was können die Menschen dafür, dass sie in Syrien, Afghanistan, im Irak oder Jemen geboren wurden? Fremdenfeindlichkeit und Rassismus lehne ich aufs äußerste ab und bekämpfe ich. In meinem Job habe ich so viele wunderbare ausländische Menschen und Spieler kennen gelernt, zum Beispiel Mario Mandzukic, Redondo, Zé Roberto. Es waren so viele. Der frühere Schalker Lincoln schrieb mir, ich sei wie ein Vater für ihn gewesen, das werde er nie vergessen. Wenn ich die vielen Briefe, die mich aus China erreichen, sehe: Das bewegt mich tief. Dieser Tage schickte mir ein in Wuppertal lebender Chinese namens Heng Wu 50 Schutzmasken, damit meine Familie und ich gesund bleiben. 'Bitte tragen', schrieb er, 'Maske kann Virus sperren'. Ich war zu Tränen gerührt und schickte ihm ein Trikot vom FC Bayern mit Autogrammen und eines von der Nationalmannschaft zurück.

Sie lebten sieben Jahre in Spanien, ein Jahr in Portugal. Wie hat diese lange Zeit im Ausland Ihre Sicht auf die Welt verändert?

Da erweitert man natürlich seinen Horizont, wird toleranter, weltoffener, verständnisvoller. Menschen, die sich nicht an die Regeln der Allgemeinheit halten, gibt es überall und aus allen Nationen. An meiner ersten Station in Bilbao habe ich großartige Menschen kennen gelernt. Anfangs sprach ich kein Wort Spanisch, die Spieler dachten, was will der von uns. 'Aber allmählich verstanden wir, was Sie von uns wollten', sagten sie mir später. Bilbao war ein Traum.

Sie sind am Tag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Inwieweit haben Kindheit und Jugend in dieser Nachkriegszeit Sie für Ihr gesamtes Leben geprägt?

Es war eine sehr karge Zeit, der Wiederaufbau, die Bevölkerung hungerte. Meine Mutter brachte in der Vorkriegszeit und den Kriegsjahren neun Kinder zur Welt, dann kam noch meine jüngste Schwester. Für diese zwölfköpfige, sozial schwache Familie ging es ums Überleben. Mein Vater arbeitete als Schmied zehn, zwölf Stunden sechs Tage die Woche. Meine Mutter betrieb einen Tante-Emma-Laden. Wir hatten nichts. Meine Eltern hatten 35 Zentner Kartoffeln eingekellert - heute unvorstellbar. Da wir auch Hühner hatten, gab es Bratkartoffeln mit Spiegelei, Bratkartoffeln mit Gemüse, das wir im Garten anbauten - fünf-, sechsmal Kartoffelgerichte mit Beilagen. Aber ich habe nie etwas vermisst, nie ich etwas gefordert.

Puskas ist Heynckes' Vorbild

Sie waren das neunte Kind ...

... ja, der jüngste Sohn. Ich habe meine Mutter immer unterstützt. Und als ich als Junge wusste ich, was ich wollte, als ich merkte, dass mir das Fußballspielen Spaß machte, schoss ich stundenlang allein gegen die Hauswand, mit rechts, mit links; auf dem Hinterhof jonglierte ich, auf dem Bolzplatz kickten wir. Und als ich 1954 das WM-Finale in einem großen Saal vor einem kleinen Fernseher sah - wir waren von einer Kirchenprozession dorthin gerannt -, wollte ich wie Ungarns Ferenc Puskas werden.

Warum Puskas?

Weil er ein Torjäger war. Es war mein Verlangen, Fußballer zu werden. Ich habe alles dafür getan, schon in der Jugend bei Grün-Weiß Holt. Mit den anderen Jungs ging ich nie in eine Gaststätte, für mich zählte nur der Fußball. Mit 17 Jahren holte mich die Borussia.

Der erste Vertrag: 160 Mark und ein Opel Rekord

Wie sah das Angebot aus?

Mein Vater unterschrieb den Vertrag, 160 Mark im Monat plus Prämie, dazu ein Opel Rekord, beige mit blauem Dach. Vom Autohaus Hackmann bekam ich aber nie den Kfz-Brief, ich fragte den Seniorchef nach dem Grund - die Borussia musste für den Wagen noch ein paar Raten zahlen. In der Regionalliga hatte ich 1000 Mark netto im Monat wegen der vielen Prämien. Wie stolz war ich, als ich Mutter die Lohntüte übergab. Es war ein Gefühl der Dankbarkeit, dass ich sie unterstützen konnte. Und dann der Aufstieg, 1964/65, traumhaft. Keiner kannte uns, plötzlich waren wir in Deutschland in aller Munde. 92 Tore erzielten wir damals in der Saison der Regionalliga-West. Es war die Geburt der Fohlenmannschaft.

Bei Ihrem 70. Geburtstag sagten Ihre ehemaligen Spieler Lothar Matthäus und Bodo Illgner, als sie Ihnen im kicker gratulierten, man sehe Ihnen die Jahre nicht an. Die beneidenswert dichte Haarpracht ist seither kaum schütterer geworden. Haben Sie einen guten Tipp?

Meine Frau spricht mich auch immer wieder auf meine vollen Haare an. Jaja, dieses Glück haben nicht alle ...

Immerhin sind die Haare etwas grauer geworden ...

Daran sind die Medien auch etwas schuld (lacht auf) ... Grundsätzlich kann man das Älterwerden schon etwas hinauszögern, wenn man geistig rege und körperlich aktiv bleibt. Ich stehe voll im Leben. Und ich halte mich fit, auch wenn es nicht immer Spaß macht allein im Fitnessraum bei Kraft- und Stabilisationsübungen sowie auf dem Fahrradergometer, wenn man ein ganzes Leben lang Mannschaftssportler war. Aber mit guter Musik wird auch die Laune besser.

Damals, vor fünf Jahren, waren Sie im Ruhestand, den Sie zwischen Oktober 2017 und Juni 2018 unterbrachen, um ein viertes Mal Trainer in München zu werden. Sie befanden sich damals in Ihrem 73. Lebensjahr, arbeiteten mit Ihrem typischen Fleiß und Ihrer Eigendisziplin das gleiche Pensum ab wie immer. Hatten Sie damals nie Sorge um Ihre Gesundheit?

Nein. Als die Anfrage kam, war ich in sehr guter körperlicher Verfassung und hatte die Kraft für diese Aufgabe. Sie zu übernehmen, war also vertretbar. Und es machte viel Spaß, diese jungen Menschen noch einmal zu begleiten. Es fiel mir nicht schwer. Was ich da noch investiert habe! Einige Hotelangestellte sagten mir später, sie hätten noch nie einen derart disziplinierten und auf den Beruf fixierten Menschen erlebt. Anders hätte es nicht funktioniert. In diesem Alter kannst du abends nicht drei Stunden essen gehen und eine Flasche trinken.

Uli Hoeneß hätte gerade das gerne hin und wieder mit Ihnen getan.

Er lud mich an den Tegernsee ein, zum Basketball - aber ich musste regenerieren. So war ich bis zum letzten Tag fit und voller Power. Ich wusste, dass ich das hinbekomme. Aber es war die pure Selbstdisziplin und superprofessionelles Verhalten. In dieser Position musst du immer top sein und in jeder Sekunde das Geschehen beherrschen, sonst verlierst du Autorität und Respekt.

Hoeneß, seinerzeit noch Bayern-Präsident, wollte Sie mit allen Mitteln für eine zusätzliche Saison gewinnen. Sie blieben bei Ihrem Nein: Weil die Vernunft gesiegt hatte oder das Versprechen an Ihre Frau einzuhalten war?

Ich hatte es mit meiner Frau so vereinbart. Außerdem wollte ich mit 73 Jahren nicht während des laufenden Vertrages aus gesundheitlichen Gründen womöglich schwächeln oder gar aufgeben müssen. Ich wusste immer, dass ich es nur bis zum Saisonende machen würde. Es war genau richtig so. Mit jetzt 75 merke ich, dass das Tägliche etwas zäher wird und ich nicht mehr eine unerschöpfliche Kraft zur Verfügung habe - auch wenn ich fit bin. Aber da ist es manchmal hinderlich, dass ich einfach sehr gewissenhaft bin. Auch in jenem Dreivierteljahr bei Bayern habe ich es so gehandhabt: Da bin ich eisern und habe einen klaren Plan. Mal kurz zum Tegernsee fahren, nein.

Gab es seither eigentlich noch Anfragen für den Trainer Heynckes?

Ach was, nein, nein. Aber 2013, nach dem Triple, schon. Spannende und gute. Mehr sage ich nicht.

Haben Sie heute einen klaren Tages- oder Wochenplan?

Eine gewisse Struktur ist da. Zwischen 6 und 6.45 Uhr stehe ich auf, sechs, sieben Stunden Schlaf plus nachmittags 30 Minuten reichen mir. Vor dem heutigen Gespräch war ich 40 Minuten im Schwimmbad. Ich komme mir manchmal vor wie Mark Spitz oder Albatros Michael Groß, ein super Sportler.

Sie haben sich ziemlich zurückgezogen. Fehlt Ihnen die Öffentlichkeit kein bisschen?

Überhaupt nicht. Ich bin mit mir im Reinen und happy, wenn ich mein Leben in Stille genießen kann. Ich brauche die Öffentlichkeit nicht. Da ist so vieles so oberflächlich.

Wie viele Angebote als Experte haben Sie seither abgelehnt?

2013 hatte mich Sky gefragt. Seither ist klar, dass ich nicht will.

Ihr langjähriger Partner und Freund Hoeneß hat sich auch aus dem Tagesgeschäft verabschiedet. Reden Sie beide zuweilen über die Annehmlichkeiten oder die Qualen des Ruhestandes?

Wir sprechen über die Tagesaktualität, familiäre und alltägliche Dinge. Uli gewöhnt sich offenbar auch an dieses neue Leben, hin und wieder äußert er sich öffentlich, was ich gut finde, weil er es sehr pointiert tut. Mittlerweile ist er auch altersmilde geworden, wie mir scheint. Er hat etwas geschaffen, was keiner sonst im Fußball erreicht hat. Das ist ganz wichtig: Im Leben zählen irgendwann deine Erfolge, Titel und Statussymbole nichts mehr, sondern wahre Bedeutung hat, welche Spuren du hinterlassen, was du den Menschen gegeben hast und mit welcher Haltung, mit welcher Empathie, mit welchem Respekt du ihnen begegnet bist. Wenn du sie da überzeugt hast, wirst du nie vergessen werden.

Ihre ehemaligen Spieler, an der Spitze Toni Kroos oder Franck Ribery, loben Ihre menschliche Art. Haben Sie noch Kontakt zu manchem Ihrer früheren Jungs?

Bastian Schweinsteiger fragte neulich per Whatsapp, wie es mir in Corona-Zeiten gehe. Typisch für sein feinfühliges Wesen. Bastian ist ein ganz wertvoller Mensch. Mandzukic schreibt ab und zu, Alexander Baumjohann meldete sich kürzlich aus Australien, Franck Ribery aus Italien. Zu Rafinha hatte ich Kontakt. Auch zu Uwe Rahn oder Lothar Matthäus ist das Verhältnis herzlich - und zu Toni sowieso. Bei der Premiere seines Films sagte seine Mutter zu mir, Sie waren der Trainer, der die Karriere meines Sohnes entscheidend geprägt hat.

Zu Beginn Ihrer Trainerkarriere galten Sie als überehrgeizig, in Mönchengladbach wie in Ihrer ersten Münchner Phase von 1987 bis 1991. Ewald Lienen sagte Ihnen sogar zu Borussia-Zeiten, die Spieler hätten Angst vor Ihnen. Der gereifte Fußballlehrer Heynckes war ein Spielerversteher. Wie kam es zu dieser Veränderung?

Ewald Lienen meinte damals meinen wahnsinnigen Ehrgeiz. Außerdem war ich von Hennes Weisweiler beeinflusst: Dass ich vieles viel zu schnell erzwingen wollte und nicht die Geduld hatte; dass ich sehr forsch und konsequent war. Vielleicht hatten manche Spieler, die mich nicht so gut kannten, Angst vor mir; Ewald nie. Mit der Zeit wurde mir klar, dass nicht jeder Spieler so sein konnte, wie ich als Profi gewesen war. Sukzessive änderte ich mein Verhalten. Aber im Grunde war ich immer ein sehr aufmerksamer und hilfsbereiter Trainer, der mit seinen Spielern in einer angenehmen Arbeitsatmosphäre zusammenarbeitete. Ab und zu musste allerdings Klartext gesprochen werden, das haben die Spieler hin und wieder gebraucht.

Welche Eigenschaften sind für einen Trainer stets unverzichtbar?

Das fachliche Knowhow sowieso, Spielidee. Die Medienarbeit, die fast so wichtig ist wie die mit den Spielern. Menschen- und Mannschaftsführung, Empathie. Man muss die Truppe auf Linie bringen. Nähe, trotzdem Distanz. Eine natürliche Autorität, keine kraft Amtes, nicht qua Position. Sonst haben dich die Spieler schnell durchschaut.

Haben Sie Hansi Flick so nachdrücklich beim FC Bayern empfohlen, weil er diese Momente in sich vereint?

Ich kenne seinen Charakter, bin ein guter Beobachter und merke, ob es authentisch ist, wie einer auftritt und sich artikuliert. Von meinen Münchner Nationalspielern wusste ich um sein gutes Verhältnis zur Mannschaft. Er ist ein toller Mensch mit einem sehr guten Charakter, das Handwerk versteht er ohnehin. Ich kann Menschen genau einschätzen und spüre, ob ich mich auf sie verlassen kann.

Wenn Ihnen hin und wieder schöne Erinnerungen an Ihr halbes Jahrhundert im Profifußball in den Sinn kommen, sehen Sie dann mehr den Torjäger oder den Trainer Jupp Heynckes vor Ihrem geistigen Auge?

Ich schwelge nicht in der Vergangenheit. Die Zeit als Spieler war die schönste. Als Trainer bist du für das Gesamtwerk verantwortlich und musst alles zusammenfügen, bist aber für den ganz großen Erfolg von der Qualität der Spieler abhängig und vom Teamwork aller. Jeder muss zufrieden sein und sich einbezogen fühlen. Das war der Schlüssel zum Triple 2013. Die großen Individualisten gliederten sich ein. Schon in der Wintervorbereitung damals sagte ich zur Mannschaft, dass wir in dieser Saison etwas ganz Großes schaffen könnten, da hatte ich die Champions League im Kopf, die Meisterschaft sowieso.

Sie haben 1996 ein Angebot des FC Barcelona abgelehnt, weil Sie Ihren bis 1997 gültigen Vertrag bei CD Teneriffa nicht brechen wollten. Fehlt die Station beim großen FC Barcelona oder sonst irgendwas in Ihrer großen Karriere?

Ich habe nie über Anfragen oder Angebote gesprochen, dafür haben mir Vereinsvertreter später gedankt. Grundsätzlich darf man einen Vereinswechsel nicht erzwingen wollen. Es muss in einer Karriere bestimmt sein, was kommt. 1986 sagte ich Hoeneß für Bayern ab, weil ich noch in Mönchengladbach gebunden war. Ein Jahr darauf klappte es. 1997 kam Real, wir gewannen 1998 die Champions League. Selbst als ich wirtschaftlich noch nicht gesichert war, habe ich auf viel Geld verzichtet, auf Abfindungen. Ich hatte jedoch nie Bedenken, dass ich wieder einen Job bekommen würde. So selbstbewusst war ich. Meine Frau war da anders ...

Welchen Beitrag hat Sie denn insgesamt geleistet zu Ihrer großen Karriere?

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau. Meine liebe Iris hat mich immer und überall unterstützt und meine ganze Karriere mitgelebt. Deshalb ein großes Dankeschön an sie. So einfach war es nicht immer mit mir ...

... bestimmt vor allem nicht nach Niederlagen?

... um Gottes willen. Da war ich so wortkarg und nur mit der Niederlage beschäftigt.

Wird Corona das Denken und Handeln im Fußball verändern?

Man muss sich grundsätzlich vor Augen führen, dass wir Menschen verwundbar sind. Wir sind nicht unbesiegbar. Das merkt zurzeit die ganze Welt. Also geht eine solche Pandemie nicht spurlos am Fußball vorbei. Mancher ist sich über die Konsequenzen noch gar nicht im Klaren. Wenn wieder Normalität herrscht, hoffe ich, dass in der Gesellschaft wie im Fußball die richtigen Lehren aus der jetzigen Zeit gezogen werden.

Also wird der Fußball daraus lernen?

Zunächst können die Vereine nur hoffen, dass die Saison zu Ende gespielt wird, auch wenn Fußball ohne Zuschauer fürchterlich ist. Da fehlen Elemente, die dieses Spiel ausmachen: Emotionalität, Freude, Ärger, Spaß, Interaktion Spieler-Zuschauer. Aber es gibt keine andere Lösung, damit die Vereine bis Sommer über die Runde kommen. Und dann müssen die Verantwortlichen der Klubs begreifen, dass sie auch möglicherweise die kommende komplette Saison ohne Publikum spielen werden. Es wird voraussichtlich keine Großveranstaltungen geben, schon gar nicht mit 50.000 bis 80.000 Zuschauern.

Was bedeutet das für den Transfermarkt?

Auf junge Spieler würde ich setzen, wie Bayern-Sportdirektor Hasan Salihamidzic jüngst sagte. Doch ganz große Transfers würde ich ausschließen. Weil keiner weiß, wie es weitergeht. Der Fußball muss aus Corona lernen.

Was ganz besonders?

Der Fußball darf nicht nur an Profit denken. Viele Menschen müssen künftig finanziell anders planen, da werden die Trikots für 110 Euro nicht mehr gekauft, das Merchandising wird weniger, die Werbung. Auch die großen Klubs werden Probleme bekommen. Deshalb würde ich als Verantwortlicher große Transfers ausschließen und lieber meine Spieler halten, statt teure Stars zu holen. Sicher müsste ein Kai Havertz in der Bundesliga bleiben, aber nicht für einen utopischen Preis, das wäre nicht zu verantworten. Grundsätzlich war die bisherige Entwicklung im Fußball sowieso unmoralisch.

Gibt es Lebenserfahrungen, die Sie mit jetzt 75 Jahren in jedem Fall weitergeben müssen?

Ich hoffe, dass ich durch mein Wirken Spuren hinterlassen habe. Es war ein großes Glück, dass ich mein Hobby, das ich als kleiner Junge hatte, zum Beruf machen konnte. Und ich blicke in Dankbarkeit auf meine Jahre als Spieler und Trainer zurück. Ich weiß, dass ich durch den Fußball und meine Karriere privilegiert bin, und danke allen meinen Begleitern, die mit mir ein Stück des Weges gingen und mich unterstützt haben.

Interview: Karlheinz Wild