Bundesliga

Interview mit Klaus Augenthaler zum 65. Geburtstag

Interview mit Klaus Augenthaler zum 65. Geburtstag

"Ja, ich bin der ewige Fußballer"

Noch immer fest beim FC Bayern verwurzelt: Klaus Augenthaler.

Noch immer fest beim FC Bayern verwurzelt: Klaus Augenthaler. picture alliance / Alexander Schuhmann

Herr Augenthaler, Sie werden an diesem Montag 65 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch. Was bedeutet dieser Geburtstag für Sie?

Es ist eine Grenze, die man damit überschreitet. Schon als ich 60 Jahre wurde, dachte ich, es gehe dahin. Bei 61, 62, 63 ist es wieder erträglich und jedes Mal gleich; aber jetzt mache ich mir Gedanken. Als ich ein kleiner Bursche war und mein Großvater 65 wurde, war er für mich ein uralter Mann. Aber es gibt doch dieses Lied, das Udo Jürgens - den ich privat kennengelernt habe - geschrieben hat: Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Unter diesem neuen Motto werde ich ab sofort leben (schmunzelt).

Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Altwerden?

Wenn ich in den Spiegel schaue, denke ich: mein Gott! Da sind Falten ohne Ende in meinem Gesicht. Aber Falten hatte ich schon mit 40 Jahren, das ist genetisch bedingt.

Immerhin haben Sie noch Haare.

Dafür aber graue (lacht). Wichtig ist, wie du dich fühlst.

Spüren Sie die Jahre?

Wenn ich ein- oder zweimal pro Woche ein bisschen kicke, tut das Knie etwas weh. Allerdings ist es gut, wenn es wehtut, dann weißt du, dass du noch lebst. In diesem Alter muss man froh sein, jeden Morgen gesund aufstehen zu dürfen. 

Wie werden Sie die Zeit jenseits dieser Altersgrenze gestalten?

Ich werde versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören.

Haben Sie diesen guten Vorsatz nicht schon länger?

Als ich 60 wurde, habe ich es von heute auf morgen geschafft. Ich saß mit Freunden in Graz beim Abendessen und sagte, jetzt ist Schluss damit. Rund vier Wochen habe ich es durchgehalten. Etwa vier Wochen später war ich in China, im Hotel gab es einen Erdinger-Weißbier-Keller, aber es war kaum ein Mensch in diesem Hotel, nichts los. Ich hatte keine Zigaretten dabei. Bei einer Flugschau für Modellflugzeuge sah ich einen Chinesen, der rauchte, und fragte ihn nach einer Zigarette. Er gab mir eine lange, dünne, und als ich daran gezogen habe, dachte ich, ich hätte die Freiheit erfunden. Dann war ich wieder im alten Fahrwasser.

Sie waren auch als Spieler Raucher.

Geschnauft habe ich aber nur in der Vorbereitung, aber vor allem deshalb, weil ich im Urlaub drei, vier Kilo zugenommen hatte. Damals gab es keine individuellen Trainingspläne.

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Anekdoten über Augenthaler oder: Wenn der Trainer seine Spieler frustriert

alle Videos in der Übersicht

Wie sieht heute Ihr Alltag aus?

Ich bin Spielertrainer der Legenden des FC Bayern. Vom 14. bis 18. November spielen wir in Nauders bei einem Turnier, dem früheren Bruno-Pezzey-Turnier. Dann haben wir seit zwei Jahren die Weltauswahl des FC Bayern ...

... das World Squad Projekt ...

... ein riesiges Projekt. 654 Spieler zwischen 16 und 18 Jahren bewarben sich per Video im vorigen Jahr, in diesem waren es 2400. Ausgesucht werden 20 Spieler, einer aus jedem Land. Ein junger Syrer zum Beispiel rief an, per Video Call war zu sehen, dass das Haus in seinem Hintergrund weggebombt war; oder ein Brasilianer, der aus den ärmsten Verhältnissen stammt. Ein Junge aus Nigeria, einer aus Togo, ein Japaner, ein Südkoreaner. Nachdem alle Videos gesichtet waren, hatten wir schon viereckige Augen. Die Spieler kamen für eine Woche Training nach München, anschließend ging es mit ihnen nach Mexiko; dort kamen die Amerikaner, Südamerikaner und Mexikaner dazu. Wir waren in Celaya, der gefährlichsten Stadt der Welt. In Mexiko City hatten wir ein Spiel, das eine schöne Erinnerung für mich an die WM 1986 war. Nach zwei Wochen kamen die Jungs noch einmal in München zu zwei, drei Freundschaftsspielen, abschließend gegen unsere U 19. Ein Spieler wurde verpflichtet ...

Er wurde in Dallas geparkt und wird irgendwann nicht nur ein Bundesligaspieler, sondern ein internationaler Topmann.

Klaus Augenthaler über José Mulato

... der Kolumbianer José Mulato.

Er wurde beim Partnerverein in Dallas geparkt und wird irgendwann nicht nur ein Bundesligaspieler, sondern ein internationaler Topmann. In der Offensive kann der Junge alles spielen, Mittelfeld, außen, vorne, Zehner. Er hat eine Technik, eine Schnelligkeit, einen Hammer im Fuß. Ein Superkerl. Es macht Spaß. Da sitzen die Jungs abends beim Essen, der Südkoreaner versteht den Mexikaner oder Argentinier nicht, am nächsten Tag haben sie sich per Übersetzungs-App unterhalten. Die Südamerikaner lernten dabei Englisch und haben heute noch Kontakt. Da sieht man, dass der Fußball die Menschen zusammenführt.

Klaus Augenthaler und Giovane Elber mit Talenten für das World Squad Project.

Klaus Augenthaler und Giovane Elber mit Talenten für das World Squad Project. imago images/Lackovic

Das ist für Sie eine komplett neue Erfahrung?

Ja, früher war ich auch viel unterwegs, aber da habe ich nur Hotels und Stadien gesehen. Bei meiner ersten China-Tour fuhr ich mit dem Hochgeschwindigkeitszug durchs Land. Da siehst du eine andere Welt, als wenn du früher als Spieler unterwegs warst.

Sie wollten nie viel reisen und sagten, Sie seien immer froh gewesen, wenn das Flugzeug in München gelandet war. Hat sich Ihre Einstellung da geändert?

So ist es noch immer. Allerdings war ich in den vergangenen Jahren jeweils 100 Tage weg. Nach drei Wochen hintereinander in China war ich froh, als ich wieder zu Hause war. Auch beim Youth Cup bin ich noch engagiert, da hatten wir zwölf Mannschaften zum Training und ein Spiel in der Allianz Arena.

Ist für Sie diese vollkommen neue Tätigkeit mehr wert, als wenn Sie noch Trainer irgendwo im Profifußball wären?

Vor zwei Jahren hatte ich eine Anfrage aus den Vereinigten Arabischen Emiraten für sehr viel Geld. Ich habe kurz überlegt, weil du nicht mehr loslassen kannst, wenn du einmal Trainer warst. Aber man kann im Leben nichts von seinem Geld oder Besitz mitnehmen. Ich habe jetzt ein gewisses Alter, man weiß nicht, was passieren wird. Ich lebe gut und könnte zweimal am Tag warm essen, tue es aber nur einmal. Was hätte ich dort gewollt? Als Trainer bist du doch immer sofort in der Schusslinie.

Ihre Ambitionen, noch einmal Trainer in einem Verein zu werden, sind also vorbei?

Ja. Mir macht der Trainerjob, wie ich ihn jetzt ausübe, Spaß - wenn ich mit den Jungs unserer Weltauswahl unterwegs bin. Die nehmen noch an, was du ihnen beibringen willst. Komplett los kommt man nicht vom Trainerdasein. Einerseits kenne ich das Gefühl, wenn du verloren hast und am nächsten Tag, wie die Bayern neulich, zur Wies’n sollst; auf der anderen Seite kann die einmalige Freude auf der Bank, wenn in der letzten Minute das 2:1-Siegtor fällt, nicht nachempfinden, wer noch nie Trainer war.

2007 endete Ihre Trainerzeit in der Bundesliga in Wolfsburg, 2010/11 arbeiteten Sie noch in der 3. Liga bei der Spielvereinigung Unterhaching, 2016/17 beim bayerischen Landesligisten Donaustauf. Ist Ihr Trainerleben erfüllt?

Ja, ich habe mehr oder weniger damit abgeschlossen.

War Ihre gesamte Trainerkarriere nicht zu kurz?

Nein, weil ich eigentlich nie Trainer werden wollte. Nun waren es doch einige Stationen. Nürnberg war okay, da konnte ich ständig hin und zurück fahren; dann Leverkusen und Wolfsburg … Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich noch einmal einsteigen würde, wenn ein Angebot käme; aushelfen könnte ich vielleicht.

Sie galten als Parade-Bayer, spielten ab 1976 insgesamt 15 Jahre für die Profis des FC Bayern und sagten einmal, nördlich der Donau beginne für Sie das Ausland. Waren Sie für die Fußballszene in Ihrer zweiten Karriere zu sehr Bayer, der nicht weg wollte aus dem Süden der Republik?

Die Verantwortlichen in Leverkusen und Wolfsburg merkten schon, dass ich zu hundert Prozent bei der Sache war. Ich habe immer für den jeweiligen Verein gelebt und habe noch heute Kontakt zu Spielern. Ein Nigerianer, den ich in Graz hatte, ruft mich noch heute jede Woche an. Das ist das Schöne. Manchmal denke ich, vielleicht war ich zu gutmütig für diese Trainerwelt.

Wenn Sie heute in Gesellschaft oder unter Freunden sind, ertappen Sie sich dabei, dass Sie immer wieder Geschichten und Erlebnisse aus Ihrem Leben erzählen oder erzählen müssen?

Eigentlich nicht.

Wenn Ihnen heute beim Angeln, im Auto oder sonst irgendwo Erinnerungen kommen, welche sind es dann ganz besonders?

Zum Angeln kam ich in diesem Jahr ein einziges Mal, am Vatertag. Im Auto höre ich Radio oder telefoniere in Ruhe. Olle Fußball-Kamellen kommen mir da nicht in den Sinn.

In Ihren Münchner Anfängen erlebten Sie noch Gerd Müller, gegen ihn mussten Sie im Training verteidigen, obwohl Sie als Stürmer aus Vilshofen gekommen waren. Was haben Sie von Müller gelernt?

Als Stürmer konnte ich von ihm lernen, habe mich dann aber zum Abwehrspieler umfunktioniert, und da wurde mir im Training von Gerd vorgeführt, wie man gegen einen Topmann verteidigen sollte und muss. Anfangs hatte ich keine Chance, weil ich immer sofort den Ball wollte, wenn er ihn annahm - aber du kamst nicht ran. Gerd streckte den Hintern raus und hatte dicke Oberschenkel. Ich habe dann gewartet, bis er sich drehte. Da er kein Sprinter war, konnte er zumindest nicht weglaufen. Bei seinen kleinen, kurzen Bewegungen musstest du aufpassen.

Klaus Augenthaler - seine besten Sprüche

Wie haben Sie auf Gerd Müllers Tod im August 2021 reagiert?

Ich habe da viele Videos von ihm gesehen, die Gedenkfeier in der Allianz Arena miterlebt, da denkst du an die Zeit, als du zu Bayern kamst und er der große Held war. Er hatte Deutschland zum WM-Titel 1974 geschossen.

Was haben Sie empfunden, als Robert Lewandowski ein paar Wochen zuvor Müllers 40-Tore-Rekord aus der Bundesliga-Saison 1971/72 übertroffen hat?

Ich fand es schade, dass Lewandowski Gerd Müllers Rekord geknackt hat. Dieses Gefühl hatten viele.

Der aktuelle FC Bayern hat keine Nummer 9. Wird dieses Modell ohne Mittelstürmer gutgehen?

Julian Nagelsmann sagte mir, die Mannschaft habe so viel offensive Energie, dass ich schon glaube, dass es noch funktionieren wird. Außerdem war die Entscheidung des FC Bayern, Lewandowski abzugeben, richtig. Mir war aber klar, dass Fragen kommen würden, wenn der FC Bayern nach dem fünften oder sechsten Spieltag nicht Erster ist. So trat es jetzt ein. Die Chancen für Tore waren aber da.  

Klaus Augenthaler und Julian Nagelsmann.

Klaus Augenthaler und Julian Nagelsmann. imago images/Philippe Ruiz

Wie bewerten Sie die derzeitige Situation beim FC Bayern?

Wir hatten erst den siebten Spieltag. Und ob der FC Bayern zehn- oder elfmal in Serie Meister wird, ist nicht so wichtig. Der FC Bayern könnte auch einmal Platz 2 in der Bundesliga verkraften. Entscheidend ist die Champions League, und da ist die Mannschaft auf dem richtigen Weg, auch wenn sie gegen Barcelona Glück hatte, dass sie zur Halbzeit nicht 0:2 in Rückstand lag. Die Partie in Mailand war gut. Das Aus gegen Villarreal im Frühjahr tat lange weh, gegen den damaligen Siebten der spanischen Liga.

Die jetzige Erfahrung wird Nagelsmann abhärten und stärken.

Klaus Augenthaler

Als Sie nach 404 Bundesligaspielen und sieben Meisterschaften mit dem FC Bayern als Weltmeister aufgehört haben, lehnten Sie ein Trainerangebot aus Kaiserslautern ab, weil Sie sich noch als Lehrling fühlten. Der jetzige FCB-Trainer Julian Nagelsmann ist 35 Jahre jung und ohne Vergangenheit als Profi. Fehlt ihm die Erfahrung für einen großen Verein wie den FC Bayern?

Das glaube ich nicht. Nagelsmann weiß, dass er bei einem großen Verein ist und entsprechend liefern muss. Die Ziele hat er mit dem Verein besprochen, sie sind kein Geheimnis. Und ihm war vorher sicher bewusst, dass der Wind rauer wird, wenn er fünf Punkte hinter dem Ersten steht. Die jetzige Erfahrung wird Nagelsmann abhärten und stärken.

Ist es ein Vorteil, wenn ein Trainer früher Profi war?

Für den Einstieg ist es vielleicht leichter, aber - egal ob du Profi warst oder nicht - bist du abhängig von Ergebnissen. Zum jungen Peter Neururer hat doch einmal ein erfahrener Profi, der von ihm kritisiert wurde, gesagt: Trainer, ich weiß nicht, was Sie meinen. Können Sie mir das bitte mal vormachen? Und als Nagelsmann nach München kam, gab es genauso Stimmen, wie denn die älteren Profis auf diesen jungen Trainer reagieren würden. Arrigo Sacchi und José Mourinho sind allerdings erstklassige Trainer ohne große Spielerkarriere geworden. Grundsätzlich braucht ein Trainer auf dem Platz eine Achse, auf die er sich verlassen kann.

Sie selbst sind für ein Jahr den krass umgekehrten Weg gegangen und trainierten den bayerischen Landesligisten Donaustauf, also Amateure aus der sechsten Liga. Werten Sie diese Aktion heute als gute Erfahrung oder eher als Schnapsidee?

Es war eine gute Erfahrung, aus diesen Amateurbereichen kommen doch alle oder die meisten Spieler. In meiner Jugendzeit gab es keine Nachwuchsleistungszentren, wir waren reine Amateure und spielten ohne Geld.

Wann haben Sie erstmals den Begriff des Matchplans verwendet?

Nie.

Und den abkippenden linken Verteidiger kannten Sie auch nicht?

Bitte aufhören (lacht)! Ich habe in England gegen Liverpool oder Tottenham gespielt, in Schottland gegen die Glasgow Rangers. Die gingen vorne drauf, da konntest du keinen Ball stoppen. Heute wird von Pressing hier und dort gesprochen. Aber das ist die neue Fachsprache, die die Spieler hoffentlich verstehen.

Es gibt Trainer, die während eines Spiels mehrmals das System ändern. Können Trainer von außen Spiele entscheiden? Oder überschätzen Sie ihren Einfluss?

Wenn ich zwei, drei Führungsspieler habe, kann ich es als Trainer schon so praktizieren.

Der beim FC Bayern groß gewordene Holger Badstuber möchte nach dem jetzt verkündeten Ende seiner Karriere Trainer werden. Was ist der wichtigste Rat, den Sie ihm aus Ihrer Erfahrung geben würden?

Allgemein gültige Ratschläge sind schwierig zu geben, weil jeder Verein und jede Mannschaft unterschiedlich ist. Wie steht die Führung hinter dir? Welche Spieler hast du? Jeder muss sich die Hörner selbst abstoßen. In jedem Fall muss der Trainer in seiner Menschenführung ehrlich und authentisch sein.

Sie haben als Bundesliga-Trainer mehrmals gesagt, Sie würden gerne eine Mannschaft trainieren, die Sie zu großen Teilen selbst zusammengestellt haben - im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten. Beneiden Sie den Kollegen Nagelsmann in München oder Pep Guardiola bei Manchester City?

Es ist der Traum eines jeden Trainers, die Spieler zu bekommen, die er sich vorstellt. In Wolfsburg wollte ich vier Spieler haben, drei pro Position waren in der Diskussion, zwei oder drei bekam ich und da den jeweils günstigsten. Wenn ein Trainer seine Wunschspieler bekommt, steht er komplett in der Verantwortung.

Inwieweit verfolgen Sie noch die Bundesliga und den Fußball generell?

Ich bin oft in der Allianz Arena.

Klaus Augenthaler bei einem Heimspiel des FC Bayern.

Klaus Augenthaler bei einem Heimspiel des FC Bayern. imago images/ActionPictures

Sie haben als Profi allein für den FC Bayern gespielt. Welche Angebote für einen Wechsel haben Sie aus welchen Gründen abgelehnt?

Eigentlich keine, die konkret wurden. Gerüchte gab es hin und wieder, doch es war immer klar, dass ich in München bleibe, und für mich nie eine Überlegung, den FC Bayern zu verlassen. In der Premier League hätte ich allerdings schon gerne gespielt.

Haben Sie aufgrund dieser Vereinstreue etwas verpasst?

Nein, ich habe nichts verpasst. Wenn ich heute Spiele anschaue, suche ich auf meiner Handy-App, wo dieser oder jener Spieler vorher war. Da finden sich Profis, die sind 24 oder 26 Jahre alt und haben schon den 12. oder 13. Verein. Würde ich heute als Trainer für eine Position einen Spieler suchen, würde ich genau prüfen, wie viele Stationen der Mann schon hinter sich hat.

Sie haben gesagt, Sie hätten sich "immer mit dem Verein identifiziert, weil das Herz dabei sein muss". Ist Identifikation mit einem Verein und sogar einer ganzen Region wie Bayern für Sie ein entscheidender Wert? Oder gehört ein Auslandsaufenthalt zu einer Karriere in einer globalisierten Welt?

Ein Auslandsaufenthalt ist keine Voraussetzung für eine große Karriere. Die Bundesliga zählt zu den stärksten Ligen, also muss ich nicht in England, Spanien oder Italien gespielt haben.

Ist der heutige Profi zu sehr auf seine eigene Karriere bedacht, also Legionär?

Das möchte ich nicht behaupten. Aber ein Thomas Müller, der so lange in einem Verein bleibt, ist selten geworden. Und eine Mannschaft kann doch nur zusammenwachsen, wenn möglichst viele Spieler eine gewisse Zeit bleiben. Für drei Millionen Euro mehr im Jahr würde er sicher nicht nach England gehen.

Vor einigen Jahren lehnte er einen Fünfjahresvertrag über 125 Millionen Euro von Manchester United ab.

Thomas ist so schlau, er weiß, dass er nichts mitnehmen kann. Ob ich 50 oder 150 Millionen Euro auf dem Konto habe - was mache ich damit?

Ist der Status, in einem Verein eine Legende - wie Sie - zu sein, mehr wert als ein paar Millionen mehr auf dem Konto?

Mir ist der Legendenstatus mehr wert, ich habe ein gutes Leben. Noch mehr Geld ist nicht das Ausschlaggebende.

Sie waren ein Kämpfer und gingen als Kapitän vorneweg. Fehlen im heutigen Fußball solche Führungsfiguren?

Der FC Bayern hat Manuel Neuer und Thomas Müller. Ein wesentlicher Punkt für Führung ist, die Sprache zu beherrschen. Wäre ich nach Mailand gewechselt, hätte ich möglichst schnell die italienische Sprache gelernt und Verantwortung übernommen. Dieses Gen war in mir.

Im heutigen Fußball wird oft über Mentalität gesprochen. Ist dieser Begriff ein zentraler oder ein überstrapazierter?

Mentalität gehört zum Fußball, die Siegermentalität, die Leidenschaft und der Wille, jedes Spiel zu gewinnen. Sonst mache ich Dienst nach Vorschrift. Wenn wir früher gegen Hamburg oder Köln spielten, konntest du sofort vier, fünf Spieler mit Siegermentalität nennen. Heute ist es schwierig, diese Charaktere zu finden.

Kapitän, Leader und mit viel Sieger-Gen ausgestattet: Klaus Augenthaler. 

Kapitän, Leader und mit viel Sieger-Gen ausgestattet: Klaus Augenthaler. picture-alliance / Sven Simon

Ist diese Qualität zu erlernen? Oder liegt sie in den Genen?

Es liegt sicher am Charakter. Aber wer beim FC Bayern nach einem Jahr noch nicht gezeigt hatte, war nicht mehr lange im Verein. Der Siegeswille muss in dir sein, zusätzlich wirst du in München noch dazu erzogen.

Steht Ihre Karriere mehr für Talent oder harte Arbeit?

Ohne Talent ist es nicht zu schaffen. Und ich musste mir schon vieles erarbeiten. Außerdem hatte ich das Glück, zum richtigen Zeitpunkt zum FC Bayern zu kommen. Die Mannschaft war zwar soeben dreimal in Serie Europapokalsieger geworden, doch Franz Beckenbauer hörte dann auf, auch Gerd Müller, es begann eine neue Ära mit Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß. Da wuchs ich mit hinein.

War Beckenbauers Nachfolge nicht eine extreme Aufgabe?

Ich dachte nie daran, in Beckenbauers Fußstapfen zu treten. Damals gab es keine fixen Trikotnummern für jeden Spieler wie heute, von 1 über 34 bis 45, sondern von 1 bis 11. Nachdem Beckenbauer weg war, wollte der Verein Katsche Schwarzenbeck die Nummer 5 geben und mir die 4, doch Katsche lehnt ab: Nein, die hatte der Franz, die nehme ich nicht. Mir war es egal, ich sagte mir: Wenn ich eine Nummer unter den ersten 11 habe, dann spiele ich.  

Sie wurden 1990 Weltmeister. War dieser Titel der Höhepunkt Ihrer großen Spielerkarriere? Oder gibt es da ganz andere besondere Momente?

Nach der WM 1986, wo ich nach zwei Spielen verletzt ausfiel, war der Titel, dazu in Italien, natürlich ein Höhepunkt. Ich hatte auch andere Situationen erlebt. 1982 hatten wir gegen Aston Villa in Rotterdam das Endspiel im Europapokal der Landesmeister verloren, ich hatte mein bestes Spiel gemacht. Nach dem Spiel fand ein Essen mit einer todtraurigen Stimmung statt, anschließend spielten wir Karten bis zum nächsten Morgen um 5 oder 6 Uhr.

Ist der WM-Gewinn für die deutsche Mannschaft in Katar realistisch?

Ich sehe keinen großartigen Favoriten. Vom Start hängt viel ab.

1989 erzielten Sie vom Mittelkreis aus gegen Uli Stein in Frankfurt das Tor des Jahrzehnts. Wären die heute weit vor dem Tor mitspielenden gegnerischen Torhüter für Sie mit Ihrer Schussstärke ein gefundenes Fressen?

Gut möglich, weil die Torhüter heute ja Libero spielen.

Sie blicken auf fast 50 Jahre im Fußball zurück. Sie haben, als Sie schon Co- oder Cheftrainer waren, genauso leidenschaftlich mittrainiert und aufs Tor geschossen wie zuvor als Spieler. Sie kicken heute noch mit der FCB-Legendtruppe und privat. Sind Sie bis heute Spieler geblieben, der ewige Fußballer?

Ja, das kann man so sagen, ich bin der ewige Fußballer. Wenn ich einen Ball sehe, kribbelt es. Zweimal pro Woche spiele ich mit Senioren und Migranten, sechs oder sieben Afghanen im Alter von 16, 17 Jahren, die ich auch ausgerüstet habe und denen es Spaß macht.

Diese Jungs werden staunen, wenn sie gegen einen Weltmeister spielen dürfen.

Die wissen gar nicht, wer ich bin. Naja, inzwischen vielleicht schon. Ich spiele, weil es einfach Spaß macht.

Wenn Sie an dieser Zäsur 65 Jahre zurückschauen: Was hat dieses Spiel Fußball in Ihrem Leben bedeutet?

Der Fußball war mein Leben. Es begann schon in der Schule. Ich habe mehr Zeit auf dem Fußballplatz verbracht als für das Lernen. Schon mit 15 war es mein Traum, Profi zu werden.

Wo hat der Fußball Ihr Leben bereichert, wo hat er Ihr Leben ärmer gemacht? Was hat Ihnen der Fußball gegeben, was hat er Ihnen genommen?

Der Fußball hat mir alles gegeben. Ich habe gutes Geld verdient und konnte mir alles leisten. Aber die Familie musste in der aktiven Zeit natürlich zurückstehen. Es war schwer, die richtige Balance zu finden. An einem Wochenende mit Frau und Kind kurz in die Berge zu fahren, war nicht möglich. Du musstest immer auf den Urlaub warten. Du hast gemacht, was der Verein und der Fußballterminplan dir vorgegeben haben. Aber: Ich habe mir meinen Traum erfüllt. Da fallen mir die Telefonate mit den Kindern unserer Weltauswahl ein, die Fragen, ob sie regelmäßig Fußball spielen, ob sie Geschwister haben und mit der Schule fertig sind. Und: Hast du einen Beruf? Nein. Alle wollten erst ein oder zwei Jahre sehen, ob es mit der Profikarriere klappt. Da fühlte ich mich in meine Jugend zurückversetzt. Aber ich hatte die Sicherheit, dass ich in der Versicherung meines Opas hätte anfangen können, wenn ich nicht Profi geworden wäre. Mein Fokus war damals schon: Fußball, Fußball, Fußball. Dass ich es geschafft habe, war Zufall, Glück, auch Talent und dann Arbeit.

Und es war die komplett richtige Wahl, ein Leben im und für den Fußball?

Ja, hundertprozentig.

Der Sport wird oft als Abbild und Schule des Lebens bezeichnet. Was haben Sie aus dem Fußball für Ihr Leben gelernt und mitgenommen?

Ich habe gegen so viele Mannschaften und Spieler gespielt und in so vielen Ländern - und davon bleibt für mich, was im täglichen Zusammenleben auch vorherrschen sollte und was wir auch unseren Jugendlichen des World Squad Projekts vermitteln wollen: Jedem Menschen musst du mit Respekt begegnen, egal, was er ist, macht und verdient. Der Fußball hilft da, er verbindet.

Interview: Karlheinz Wild