Bundesliga

Heynckes exklusiv: Was Robert Lewandowski und Gerd Müller eint

Gastbeitrag

Heynckes: "Robert und Gerd eint der Ehrgeiz, der Hunger auf Erfolg"

Gerd Müller und Robert Lewandowski erzielten beide 40 Tore in einer Bundesligasaison.

Gerd Müller und Robert Lewandowski erzielten beide 40 Tore in einer Bundesligasaison. imago images

Jupp Heynckes (76) kennt beide aus dem direkten Erleben. Mit Robert Lewandowski (32) arbeitete er in der Saison 2017/18 zusammen, als er beim FC Bayern als Trainer aushalf. Und mit dem Torjäger Gerd Müller (75) traf er auf dem Fußballplatz zusammen, als Mitspieler und Gegner. In 23 Länderspielen stürmten sie miteinander für Deutschland, 1972 gewannen sie gemeinsam die Europa- und 1974 die Weltmeisterschaft. 1973/74 erhielt jeder die kicker-Torjägerkanone, beide hatten 30 Bundesliga-Tore erzielt.

Kurios dabei: Am letzten Spieltag standen sich beide gegenüber, Heynckes gewann mit dem Zweiten Borussia Mönchengladbach gegen die Bayern mit 5:0. Heynckes hatte bis zur Pause zwei Tore geschossen und mit Müller gleichgezogen. Die Nummer 9 des FCB ließ sich zur Pause verärgert auswechseln, weil er mit der Einstellung seiner Mitspieler nicht einverstanden gewesen war: Die Münchner hatten die Meisterschaft schon gesichert, zudem zwei Tage zuvor das Wiederholungs-Endspiel im Europapokal der Landesmeister gegen Atletico Madrid mit vier Toren für sich entschieden und damit erstmals diese Trophäe geholt. Müller hatte die kicker-Torjägerkanone zuvor schon fünfmal abgeräumt.

- Ein Kolumne von Jupp Heynckes -

Es vollzieht sich in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, in unserem gesamten Leben: Neue außergewöhnliche Menschen führen das Erbe, das die Größen der Vergangenheit auf ihrem Terrain hinterlassen haben, fort und setzen neue Maßstäbe. Im Sport und im Fußball verhält es sich nicht anders. Und so hat nun Robert Lewandowski die unerreichbar scheinende Bestmarke, die Gerd Müller in der Bundesliga-Saison 1971/72 mit 40 Treffern gesetzt hatte, mit seinem verwandelten Elfmeter in Freiburg egalisiert. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung!

Mit Lewandowski habe ich während meiner Tätigkeit als Trainer des FC Bayern in der Saison 2017/18 zusammengearbeitet. In jener Zeit lernte ich ihn als hochprofessionellen, zielorientierten Spieler kennen, der in seinem Beruf alle Details zur Leistungsoptimierung berücksichtigt. Er wahrt höchste Disziplin und weiß genau, wie er für sich die perfekte Balance zwischen Belastung und Erholung tagtäglich schafft. Dabei achtet er auf seine Ernährung, damit seine Fettwerte stimmen, und arbeitet ständig an seiner Fitness und Gesamtmuskulatur. Auch deshalb ist er so widerstandsfähig und selten verletzt. Jede Übung absolviert Lewy mit hundertprozentiger Gewissenhaftigkeit.

Lewy überzeugt durch Körperbeherschung

Wenn ich ihn dann im Spiel manchmal sehe und denke, was für eine Körperbewegung vollführt er denn da gerade und mit welch einer Körperbeherrschung, dann weiß ich, welche Muskelgruppen er dafür trainiert hat - Rücken, Rumpf, Bauch, Adduktoren -, um sich so zu drehen und zum Beispiel kunstvolle Seitfallrückzieher auszuführen wie neulich zum 3:0-Treffer gegen Gladbach. Da vereint er seine vorbildliche Schusstechnik mit der idealen Körperspannung, die er dank seiner bestens getrimmten Gesamtphysis hat.

Gerd Müller konnte schon im Training nicht verlieren.

Jupp Heynckes

Sein großartiges Können befähigt Lewandowski, die Vor- und Zuarbeit seiner Mitspieler in München zu veredeln. Von diesem Service profitiert er immens - wie Gerd Müller einst ebenso. In schwächeren Mannschaften ist es einem Stürmer nicht möglich, so viele Tore zu erzielen. Lewandowski treibt wie einst Müller, mit dem ich vor rund 50 Jahren in der Nationalmannschaft zusammenspielen durfte, ein unbändiger Ehrgeiz. Um in die Weltklasse aufzusteigen, musst du diesen ganz besonderen Willen haben, diese Leidenschaft, diesen unstillbaren Hunger auf Erfolg.

Heynckes, Gerd Müller

Jupp Heynckes (li.) spielte mit Gerd Müller zusammen in der deutschen Nationalmannschaft. imago images

Gerd Müller konnte schon im Training nicht verlieren. Wenn da seine Mannschaft im Rückstand lag, forderte er eine so lange Nachspielzeit, bis er gewonnen hatte. Lewandowski ist da nicht so krass, doch im Wettkampf gibt es keinen Unterschied zu Gerd. Beide verbindet zudem der gesunde Egoismus, den jeder Torjäger auf Topniveau braucht. Wenn sie den Ball nicht bekommen, winken sie schon mal ab, einst Müller, heute Lewandowski.

Müller war eine Naturbegabung mit einer unfassbar ausgeprägten Muskulatur. Als er Mitte der 1960er Jahre nach München kam, nannte ihn Trainer Tschik Cajkovski "kleines dickes Müller". Und wie durchdefiniert war dieser Körper, als Müller mit zehn Treffern Torschützenkönig der WM in Mexiko wurde! Was sich Gerd als Kind auf dem Bolzplatz eigenständig angeeignet hatte, formte er als Profi aus, obwohl es zu unserer Zeit nicht diese speziellen Möglichkeiten wie Fitnesstrainer oder Physiotherapeuten gab.

Müller löste Emotionen aus

Gerd war seiner Zeit unübertroffen. Er hatte ein Timing, eine Antizipationsfähigkeit und einen Torinstinkt wie sonst keiner. Er war an Stellen, wo ein Stürmer normalerweise nie hingeht. Und wie er die Tore gemacht hat! Mit dem Fuß, dem Kopf, dem Hintern. Im Stehen, im Fallen, im Liegen. Mit seiner Beweglichkeit, seinen Drehungen und der Art, wie er mit dem Rücken zum Tor, mit seinem breiten Hintern und den strammen Oberschenkeln den Ball behauptet, war er phänomenal, ein Genie.

Und das Großartigste, was Gerd hinterlassen hat, sind die Emotionen, die er auslöste. Mit seinem Spiel und seinen Toren schuf er eine Interaktion mit dem Publikum wie ich sie bei Konzerten mit Lionel Richie in Paris, Tina Turner und David Bowie oder Coldplay vor 200.000 begeisterten Menschen in Rio de Janeiro gesehen und gespürt habe. Gerd verstand es ebenfalls, Gefühle und Stimmungen zu wecken. Er hat die Menschen berührt.

Das größte Lob fällt für ihn immer noch zu klein aus.

Jupp Heynckes über Gerd Müller

Dieser wunderbare Charakter Gerd Müller war auf dem Spiel psychisch robust, trotz seiner Klasse plagten ihn gelegentlich Selbstzweifel. Auch Lewandowski will und braucht dieses komplette Vertrauen. Torjäger sind eben auch empfindsam. Dennoch trat Gerd intern als starke Persönlichkeit auf, er wusste sich zu behaupten. Wenn ihm etwas nicht passte, konnte dieser Gerechtigkeitsfanatiker stur reagieren. Insgesamt gab er sich uns Mitspielern gegenüber höchst umgänglich, im kleinen Kreis fühlte er sich wohl und pflegte da gerne einen schelmischen Witz. Aufgrund seines Charakters und Könnens war Gerd Müller ein Fixpunkt in seiner Mannschaft. Das größte Lob fällt für ihn noch immer zu klein aus.

Robert, obwohl inzwischen ein Weltstart, fehlt die extrovertierte Attitüde. Er ist ein eher kontrollierter Typ, der sich mittlerweile geöffnet und sein Verhalten den Gegebenheiten und Anforderungen in München angepasst hat. Heute geht er auch mit Worten und Gesten voran, mit seiner Haltung. Vor allem aber überzeugt dieser Topstürmer mit seiner Leistung.

Jupp Heynckes, Robert Lewandowski

Jupp Heynckes trainierte 2017/18 Robert Lewandowski. imago images

"Penible Kleinarbeit"

Ein Spieler mit dieser Professionalität, mit diesen Ambitionen, begeistert mich. Lewy will sich permanent verbessern: Wie oft haben wir Angriffsschemen mit Abschlüssen nach Hereingaben und Flanken absolviert, weil er vor dem Tor sein Timing mit dem Kopf und Fuß schulen wollten. Mit diesen peniblen Kleinarbeit machte er sich vor dem Tor zum eiskalten Vollstrecker, der heute gerne aus dem vorderen Mittelfeld in deren Strafraum sprintet, wo er auf den kurzen Pfosten geht oder sich im Rücken der gegnerischen Abwehr wegstiehlt. So wurde Robert zur Tormaschine, zu einem der besten Mittelstürmer der Geschichte, zum Weltfußballer 2020.

Mit diesem Torrekord hat er sich nun zusätzlich in der Geschichte der Bundesliga verewigt. Auch wenn ich Vergleiche grundsätzlich ablehne - Pelé und Diego Maradona waren zu ihrer Zeit einzigartig, in den 2010er Jahren Lionel Messi und Cristiano Ronaldo Giganten -, so bleibt Gerd Müller doch der größte Torjäger der Bundesliga und Deutschlands. 365 Liga-Treffer sowie 68 Tore in 62 Länderspielen sind Beleg dafür.