Bundesliga

Heynckes im Interview: "Thomas Müller war nie Fußballer des Jahres?"

Ex-Trainer über einen Spieler, den "es nicht mehr geben wird"

Heynckes im Interview: "Thomas Müller war noch nie Fußballer des Jahres?"

Exakt 100 Scorerpunkte sammelte Thomas Müller unter Jupp Heynckes.

Exakt 100 Scorerpunkte sammelte Thomas Müller unter Jupp Heynckes. imago sportfotodienst

Herr Heynckes, Thomas Müller hat im jüngsten Bundesliga-Spiel gegen den SC Freiburg zum 499. Mal in einem Pflichtspiel für den FC Bayern einen Scorerpunkt gesammelt. Für ihn sind 235 Tore und 264 Assists notiert. Sie haben diesen Spieler als Trainer in München vom 28. April bis zum 30. Juni 2009,  in den zwei Spielzeiten 2011/12 und 2012/13  und noch einmal 2017/18 erlebt. Was zeichnet Müller aus?
Um diesen Spieler zu beurteilen und seine Rekorde zu würdigen, muss man das Gesamtbild Thomas Müller sehen. Thomas ist auf dem Fußballplatz ein Pendler zwischen den Welten, das heißt, er ist keine Sturmspitze und kein defensiver Mittelfeldspieler, sondern ein offensiver Mittelfeldmann, der mit einem besonderen Torinstinkt und einer Gabe versehen ist, die nur ganz wenigen Fußballern geschenkt ist: Er verfügt über eine außergewöhnliche Grundlagen- und Schnelligkeitsausdauer. Diese Kombination zeichnete ihn physisch immer aus. Dazu kommt, dass er ein absoluter Teamplayer ist, der sich immer und ausnahmslos in den Dienst der Mannschaft stellt.

Ist damit auch der Mensch Müller charakterisiert?
Ja, er ist authentisch, sympathisch, empathisch, lustig, originell mit seinen Sprüchen, optimistisch, positiv und fähig zu führen. Thomas duckt sich in heiklen Momenten nicht weg, er stellt sich immer und vertritt eine klare, dezidierte Meinung zum Fußball und den Gegebenheiten in einem Team. Deshalb habe ich Thomas Müller immer in den höchsten Tönen gelobt, weil er ein Ausnahmespieler ist, nicht nur aufgrund seiner fußballerischen Qualitäten, sondern auch wegen seiner Persönlichkeit. Ich vergleiche ihn gerne mit meinem früheren Mitspieler Hacki Wimmer, der bei Borussia Mönchengladbach ein ebenso laufstarker Mittelfeldspieler wie Thomas war und ebenfalls alles für die Mannschaft gab. Er war aufopferungsvoll in der Defensive, nach vorne unterwegs, allerdings nicht so torgefährlich wie Thomas. Thomas ist heute ein gereifter Profi, der selbst weiß, wann er gut und nicht so gut gespielt hat, wann er kritisch sein oder sich öffentlich zurückhalten muss. Mittlerweile ist er im Spätherbst seiner Karriere angelangt, was ganz normal ist, wenn man 300.000 Kilometer in den Beinen hat und 34 Jahre alt ist.

Thomas fällt nicht als fußballerischer Gigant auf, aber sein Gesamtbild könnte von einem großen Maler wie Raffael sein.

Jupp Heynckes

Thomas Müller bezeichnete sich selbst als Raumdeuter. Befähigt ihn besonders dieses Gespür für die aussichtsreiche Torsituation?
Ja, er erkennt aus dem Spielgeschehen intuitiv Situationen, die torgefährlich werden können. Als laufstarker und fleißiger Typ geht er auch da hin, wo er meint, präsent sein zu müssen und zu vollenden. Mit seinem inzwischen sehr guten Auge verfügt er über einen großartigen peripheren Blick, dazu über die Ruhe am Ball, so dass er präzise Pässe spielt und sehr gute Flanken schlägt. Thomas fällt nicht als fußballerischer Gigant auf, aber sein Gesamtbild könnte von einem großen Maler wie dem Italiener Raffael sein.

Wie war Thomas Müller im persönlichen Umgang?
Er war in der Kommunikation stets zugänglich, gesprächs- und aufnahmebereit. Er versteht den Fußball als Spiel, erkennt Strömungen in einer Mannschaft und durchschaut die Mechanismen außerhalb. Mit Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm vermittelte er im Team und forcierte Selbstreinigungsprozesse, ehe der Trainer aktiv werden musste. Es ist ein Geschenk, wenn du als Trainer solche Spieler hast.

Uneinholbarer Müller: Die besten Scorer der 18 Bundesligisten

In der Bundesliga sind für Müller, der am 15. August 2008 beim 2:2 gegen den Hamburger SV sein Debüt feierte, in 448 Begegnungen und 33.089 Minuten 200 Assists und 144 Tore verbucht, er braucht 96 Minuten für einen Scorerpunkt, ihm gelingt also in fast jeder Liga-Partie ein Treffer oder die Vorbereitung eines Tores. Wie ist diese Konstanz möglich?
Zunächst war er sehr selten verletzt, hatte also Kontinuität in seiner Karriere. Dann hat er die Fähigkeit zur Antizipation, er sieht Entwicklungen auf dem Platz voraus. Wenn früher Franck Ribery und Arjen Robben auf den Flügeln losgingen oder es heute Kingsley Coman, Serge Gnabry oder Leroy Sané tun, spurtet Thomas aus der Tiefe los oder passt seine Position, wenn er schon im Strafraum ist, instinktiv den Erfordernissen an, er geht in den Fünfmeterraum oder zieht sich von dort zurück Richtung Elfmeterpunkt. Außerdem orientiert er sich gerne zum zweiten Pfosten hin. Dieses Verhalten hat er intus und es zudem noch perfektioniert. Thomas hat das alles im Blut.

Thomas schlug die Flanken exakt so, wie sie Lewy brauchte.

Jupp Heynckes

Unter Ihnen als Trainer erzielte Müller in 135 Einsätzen über 9754 Minuten 47 Tore, dazu kamen 53 Vorlagen, macht exakt 100 Scorerpunkte. Wo sahen Sie seine optimale Position?
Thomas ist ein höchst intelligenter Spieler, den ich vor allem als vorderen Mittelfeldspieler oder zweite Sturmspitze eingesetzt habe. Außerdem konnte er auf der rechten Seite spielen und nahm diese Rolle ohne Murren an. Er setzte sich mit dieser Aufgabe auseinander und dann auch da durch. Optimal war für ihn der Platz hinter der Sturmspitze.

Die mit Abstand meisten Tore bereitete Müller für Robert Lewandowski vor: 64, davon in der Bundesliga 48. Warum harmonierten Müller und Lewandowski so gut?
Mit Thomas und Robert Lewandowski klappte es deswegen so gut, weil Lewy genau erkannte und spürte, wann er sich vom Gegenspieler lösen musste - und zwar genau in dem Moment, da der Ball den Fuß von Thomas verlassen hatte, keinesfalls früher. Dieses Zusammenspiel beruhte auf der Intuition der beiden, es war blindes Verständnis. Thomas schlug die Flanken exakt so, wie sie Lewy brauchte: Der Stürmer musste in die Flanken oder Hereingaben nach vorne hineingehen, -laufen oder -sprinten, oft mit vorheriger Körpertäuschung nach hinten.

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Waren Müller und Lewandowski das wirkungsvollste Stürmer-Duo der Bundesliga-Geschichte?
Jede Zeit ist anders. Selbstverständlich waren sie ein großartiges Paar, Thomas spielte aber genauso effizient mit Mario Gomez oder Mario Mandzukic zusammen. Allerdings hat Lewy schon sehr von Thomas profitiert.

Unter Pep Guardiola sammelte Müller in jeder Spieler mindestens 40 Scorerpunkte, 2015/16 bedeuteten 45 seine Bestmarke. Braucht Müller für sein Spiel mehr den Raum oder hilft es ihm eher, wenn es vorne eng zugeht?
Wenn Thomas Raum hat, ist das ein Vorteil für ihn, weil er zusätzlich sehr schnell ist. Da er aber ein sehr geschickter Spieler ist, weiß er sich auf alle Bedingungen einzustellen. Generell bewegt er sich dank seiner immensen Laufstärke sehr gut und ist immer anspielbar. Wenn er da unter Druck gerät, nimmt er den Ball nicht an, sondern lässt ihn einfach klatschen. Seine Pässe haben die richtige Schärfe und Präzision, sie kommen auch auf den richtigen Fuß des Mitspielers - diese Gabe fehlt vielen Profis. Thomas spielt einen ganz einfachen Fußball, keinen verschnörkelten.

Auch wenn er nach außen eine gewisse Leichtigkeit verströmt, ist er in Wahrheit total fokussiert.

Jupp Heynckes

87 Scorerpunkte sind der Bestwert für einen deutschen Spieler in der Champions League. Der FC Barcelona ist der ausländische Klub, gegen den Müller die meisten Scorerpunkte gelangen. In neun Duellen erzielte er acht Tore und servierte zu zwei Treffern. Im Halbfinale vor dem Titelgewinn 2013 schoss Müller beim 4:0 zu Hause das 1:0 und 4:0, das 3:0 durch Mario Gomez bereitete er vor. Im Rückspiel schoss er das 3:0. Was sagen diese Daten über Müllers internationale Klasse?
Für Thomas waren die Partien in der Champions League immer Highlights, in den Duellen mit Real Madrid oder dem FC Barcelona sah er die ganz große Herausforderung. Seine besondere Motivation war da zu spüren. Er wusste sich auf die Gegner bestens einzustellen, er wusste genau, wann er noch konzentrierter sein musste. Deshalb ist diese internationale Topquote keine Überraschung für mich.

War er irgendwann einmal nervös?
Nein. Eher höchst konzentriert und gut vorbereitet, angespannt. Wer wie Thomas zwölfmal Deutscher Meister wurde, ist nicht mehr nervös.

Sahen Sie in Müller eher den finalen Vorlagengeber oder den Vollstrecker?
Ich habe immer den gesamten Fußballspieler Thomas Müller gesehen, den beide Elemente für die Offensive auszeichnen. Außerdem trieb ihn stets ein immenser Leistungswille an, höchste Professionalität. Auch wenn er nach außen eine gewisse Leichtigkeit verströmt, ist er in Wahrheit total fokussiert. Deshalb hatte ich immer eine so hohe Meinung von ihm.

149 der 235 Treffer erzielte Müller mit dem rechten Fuß, er traf - gegen Bochum 2009/10 - auch mit der Brust oder mit dem linken Oberarm gegen Hannover im Pokal 2013/14. Wird Müller wegen seiner manchmal ungelenk erscheinenden Bewegungen unterschätzt?
Was ich vorher über ihn als Fußballer gesagt habe erübrigt jede Antwort auf diese Frage.

Nach der Saison machten wir noch sechs Freundschaftsspiele, sechs Tage hintereinander. Thomas machte jedes dieser Spiele. Wahnsinn.

Jupp Heynckes

Müller hatte es nicht bei jedem Trainer leicht. Hatten Sie auch manchmal Zweifel an ihm?
Ich hatte nie Zweifel an Thomas Müller. 2009 lernte ich ihn kennen. Wir erreichten damals noch in den sechs Wochen unserer Zusammenarbeit zum Saisonende noch die Champions League. Nach der Saison machten wir noch sechs Freundschaftsspiele, sechs Tage hintereinander. Thomas machte jedes dieser Spiele. Wahnsinn. Anschließend wechselte ich zu Bayer Leverkusen und rief Hermann Gerland in München an und sagte: "Hermann, ich will den Thomas haben." Hermann antwortete: "Du bist verrückt. Ich habe mit Louis van Gaal schon gesprochen und ihm gesagt, dass Thomas ein guter Junge ist, den wir fördern müssen." Ich ließ das Werben um Thomas dann sein.

Müller war nie Fußballer des Jahres. Wird sein Wert nicht entsprechend gewürdigt?
War er tatsächlich noch nie Deutschlands Fußballer des Jahres?

Noch nie.
Das ist ein Versäumnis der Jury. Ich möchte in diese Gruppe eintreten (lacht), meine Stimme würde Thomas bekommen. Er hätte diese Auszeichnung zu 100 Prozent verdient. Er hat für mich eine Ausnahmestellung und ist einer der besten Spieler in der an großen Spielern reichen Historie des FC Bayern, dem er seine ganze Karriere lang die Treue hielt. Es ist für jeden Klub ein Geschenk, einen solchen Spieler zu haben. Ich habe ihn immer ungemein geschätzt, Thomas Müller ist einzigartig. Was er bisher im Fußball erreicht hat, ist eine großartige, bewundernswerte Lebensleistung. Und wenn er einmal von der großen Fußballbühne abtritt, werde ich ihn vermissen. Thomas ist, wenn er spielt, immer ein Hingucker. Einen solchen Spieler wird es nicht mehr geben: Wie es keinen Franz Beckenbauer oder Gerd Müller mehr geben wird, wird es auch keinen Thomas Müller mehr geben.

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