Bundesliga

Gräfe im Interview: "Die Schiedsrichter fühlen sich alleingelassen"

Handspiel: Ex-Referee Gräfe über Regel, Auslegung und fehlende Hilfestellung

Gräfe im Interview: "Die Schiedsrichter fühlen sich alleingelassen"

Ein Mann der deutlichen Worte: Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe.

Ein Mann der deutlichen Worte: Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe. IMAGO/Martin Hoffmann

Herr Gräfe, die Entscheidung von Schiedsrichter Benjamin Brand, nach dem Handspiel von Leverkusens Verteidiger Odilon Kossounou in der Schlussphase des Spiels bei Hertha BSC nicht auf Elfmeter zu entscheiden, sorgt auch Tage später noch für kontroverse Diskussionen - selbst innerhalb der Schiedsrichter-Spitze. DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner hat Brands Entscheidung verteidigt, weil er keine unnatürliche Körperhaltung und keine Absicht beim Abwehrspieler erkannte. Peter Sippel, der Sportliche Leiter der Bundesliga-Schiedsrichter, ging am Mittwoch mit der Einschätzung an die Öffentlichkeit, es habe "eine unnatürliche Vergrößerung der Körperoberfläche und somit ein strafbares Handspiel" vorgelegen. Wer von beiden liegt aus Ihrer Sicht richtig?

Ich gehe davon aus, dass Lutz Wagners Meinung, die er am Sonntag im Sport-1-Doppelpass vertreten hat, eine abgestimmte Meinung der Schiedsrichterführung war. Insofern stimmt das schon sehr bedenklich, dass sich erst nach mehreren Tagen und offenbar auf Druck von außen die Meinung der Schiedsrichterführung anscheinend geändert hat. Ich hatte am Montag beim rbb die Strafstoß-Entscheidungen bei beiden Berliner Spielen (Hertha gegen Leverkusen, Union in Köln, d. Red.) als falsch bezeichnet, am Montagabend äußerten sich dann etliche Bundesliga-Manager auf ihrer Tagung in Anwesenheit des Schiedsrichterbosses Lutz Fröhlich und ausgewählter Schiedsrichter genauso. Die Entscheidungen waren nicht nur fußballerisch nicht nachvollziehbar, sondern auch schiedsrichterfachlich und regeltechnisch für mich sowie viele Schiedsrichter klar falsch. Insofern stimme ich den Ausführungen von Peter Sippel fachlich zu, aber es scheint so, als ob die Schiedsrichterführung nicht von allein zu einer richtigen Einordnung in der Lage war.

Odilon Kossounou

Odilon Kossounou spielt gegen Hertha den Ball mit der Hand. Einen Elfmeter gab es nicht. IMAGO/Nordphoto

Konkret zum Fall Kossounou: Woran machen Sie die aus Ihrer Sicht vorliegende Strafbarkeit des Handspiels fest?

Der Verteidiger legte seinen linken Arm aktiv an, während er den rechten Arm erst rausfuhr und dann unter voller Spannung zum Blocken nutzte. Er wollte meiner Meinung nach die ungedeckte Seite des Tores ein bisschen mit abdecken. Er hat versucht, dieses Handspiel geschickt zu verstecken, und das ist ihm leider gelungen. Dort dann nicht auf Strafstoß zu entscheiden, war für mich - wie für Peter Sippel - eine klare Fehlentscheidung.

Sippel sagte auch: "Hier muss der Video-Assistent aufgrund der eindeutigen Bilder eingreifen." Matthias Jöllenbeck und Benjamin Brand standen in Kontakt, Brand sagte später: "Der Video-Assistent konnte mir keine neuen Erkenntnisse zeigen, die meiner Wahrnehmung auf dem Platz widersprochen hätten." Müsste der VAR in solch einem Fall stärker intervenieren?

Der Führung um Lutz Fröhlich und Projektleiter VAR Jochen Drees ist es offensichtlich in fünf Jahren nicht gelungen, etlichen - meist eher jüngeren - Schiedsrichtern wesentliche Basics in der Analyse von Spielsituationen zu vermitteln. Dafür sind aber nicht die Schiedsrichter verantwortlich zu machen, sondern die Schiedsrichterführung. Auch die unberechtigte Rote Karte am 1. Spieltag gegen den Schalker Dominick Drexler offenbarte diesbezüglich das Grundsatzproblem. Man muss sich die gesamten Bewegungsabläufe anschauen, um zu einem richtigen Strafmaß und einer korrekten Einordnung von Spielsituationen zu kommen.

Schalkes Dominick Drexler

Schalkes Dominick Drexler sah am ersten Spieltag von Schiedsrichter Robert Schröder die Rote Karte. IMAGO/Laci Perenyi

Das Gleiche gilt für Handspiele, bei denen man allerdings außer auf die gesamten Bewegungsabläufe zusätzlich stärker auf einzelne Bildabläufe achten muss, um zu erkennen, ob der Spieler das bewusst beziehungsweise absichtlich macht, denn da können kleine Bewegungen entscheidend sein. Wenn man dieses in allen drei Fällen des vergangenen Wochenendes - Bremen, Hertha, Union - berücksichtigt hätte, wäre man gleich zu einem anderen Ergebnis gekommen. Allerdings muss dazu auch erst mal die Linie des VAR und die Schwelle des Eingriffes klarer definiert sein. Die ist bis heute von Jochen Drees - wie wir aktuell fast jede Woche sehen - offensichtlich auch den Schiedsrichtern nicht richtig vermittelt worden.

6. Spieltag

Es gab am vergangenen Freitag in Bremen und am Sonntag in Köln groteske Handelfmeter-Entscheidungen. Was ist das Problem? Das Regelwerk? Die Unsicherheit der Schiedsrichter? Die unterschiedliche Wahrnehmung beziehungsweise Auslegung?

Das Regelwerk ist diesbezüglich gar nicht so kompliziert, wie man immer meint. Es geht darum, Situationen richtig einzuordnen. Das ist natürlich auf dem Feld per se nicht immer ganz so einfach. Aber spätestens nach Ansicht der Fernsehbilder sollte man zu einer einheitlicheren Linie finden. Dazu müssen die Schiedsrichter aber entsprechende fachliche Vorgaben erhalten, wenn sie dazu mangels Erfahrung oder von Hause aus über ihr Fußball-Verständnis nicht automatisch in der Lage sind. Dort fehlen entsprechende Hilfestellungen, wie mir immer wieder von Schiedsrichtern und Assistenten mitgeteilt wird. Die Schiedsrichter fühlen sich alleingelassen.

Die Handspiel-Regel ist gar nicht so kompliziert.

Manuel Gräfe

Plädieren Sie dafür, die mehrfach überarbeitete Handspiel-Regel nochmals zu modifizieren?

Nein. Die Handspiel-Regel ist gar nicht so kompliziert. Entweder muss das Handspiel absichtlich/bewusst erfolgen oder eine unnatürliche Vergrößerung vorliegen. Dabei mag es auch Graubereiche geben, aber viele Szenen wie die letzten vier genannten von Peter Sippel (die drei des vergangenen Spieltages und Kabaks Handspiel im Spiel Dortmund gegen Hoffenheim in der Woche zuvor, d. Red.) waren eben nicht grau, sondern schwarz beziehungsweise weiß. Dann müssen diese Szenen auch als solche benannt und entsprechend richtig von Schiedsrichtern in der Bundesliga eingeordnet werden können.

Im konkreten Fall von Kossounou wäre der Schuss von Herthas Jean-Paul Boetius ohne Kossounous Handspiel ins Tor gegangen. Die Verhinderung eines Tores mit der Hand spielt in der aktuellen Regel keine Rolle. Ist das eine Lücke im Regelwerk?

Es gibt Situationen, bei denen wirklich ein unbewusstes, unabsichtliches Berühren des Balles mit dem Arm oder der Hand erfolgt, welches auch meines Erachtens im Sinn des Fußballs wirklich nicht zu ahnden wären - wir erinnern uns alle an das Frings-Handspiel auf der Torlinie bei der Fußball WM 2002 im Halbfinale gegen Korea. Mit angelegtem Arm berührte der Ball den Arm - wären da ein Strafstoß und eine rote Karte sinnvoll? Meines Erachtens nicht. Ich halte das Kriterium der Absicht als entscheidendes mit Hilfestellung der unnatürlichen Vergrößerung, die aber wirklich unnatürlich sein muss, für ausreichend. Nur müssen eben die Szenen auf dem Feld beziehungsweise spätestens mit den TV-Bildern richtig bewertet werden.

Interview: Steffen Rohr