Von der WM aus Australien berichtet Jim Decker
In Melbourne hielt sich das Interesse an Chantal Hagel noch in Grenzen. Ob einer der Journalisten etwas von ihr brauche, fragte die 25 Jahre alte Nationalspielerin nach dem 6:0-Sieg in der Mixed Zone des Rectangular Stadiums. Nein danke, lautete die Antwort. Für Hagel interessierte sich da noch niemand so richtig. Doch das hat sich inzwischen geändert.
Am Freitag verstauchte sich Felicitas Rauch im Training das Knie. Ein geblockter Schuss, bei dem das Knie der Wolfsburgerin etwas abbekam. Und plötzlich steht die deutsche Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland ohne gelernte Linksverteidigerin da. "Trotzdem sind wir froh, dass es keine noch schlimmere Diagnose gegeben hat", verkündete Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg am Samstag, so kurz vor dem Spiel am Sonntag in Sydney gegen Kolumbien (11.30 Uhr, LIVE! bei kicker).
Außenverteidigerinnen sind Mangelware
"Das ist die dritte Außenverteidigerin, die uns verletzungsbedingt wegbricht", klagte Voss-Tecklenburg. Carolin Simon, ebenfalls links zu Hause, hatte sich im Sambia-Test (2:3) kurz vor der Abreise nach Australien einen Kreuzbandriss zugezogen. Giulia Gwinn, rechts unterwegs, war nach der gleichen Verletzung nicht rechtzeitig vollständig fit geworden. Außenverteidigerinnen sind beim DFB derzeit Mangelware.
Vorrundenspiele des DFB bei der WM
"Das fangen wir als Team auf, und das schweißt uns zusammen", sagte die Bundestrainerin, die sich als Gwinn-Ersatz für die etatmäßige Offensivspielerin Svenja Huth entschied. Nun könnte sie auf der linken Seite ein ähnliches Experiment eingehen: Hagel, die für die TSG Hoffenheim zuletzt als offensive Mittelfeldspielerin auflief, ist als Back-up für Rauch mit nach Australien geflogen.
Flexibel mit dem linken Fuß
Angesprochen auf ihre Rolle im DFB-Kader antwortete Hagel in der Vorbereitung trocken: "Hinten links." Sie ordnete selbst gleich darauf ein: "Es ist natürlich eine Position, die ich vielleicht noch nicht so oft gespielt habe, aber auf der ich auf jeden Fall meine Stärken einbringen kann." Dazu gehört der Zug nach vorn. In der vergangenen Saison netzte Hagel dreimal ein, in der Spielzeit 2021/22 sogar zwölfmal.
Die Linksfüßerin spielte in Hoffenheim aber auch fünfmal den linken Part in der Innenverteidigung. Im Test gegen Vietnam (2:1) in der WM-Vorbereitung agierte sie bereits auf Rauchs angestammter Position in der Viererkette, wurde auch gegen Brasilien (2:1) und die Niederlande (1:0) nach etwas mehr als 60 Minuten für ihre zukünftige Teamkollegin eingewechselt.
Eine Umstellung, die das gesamte Team betrifft
Nun könnte Hagel in ihrem zwölften Länderspiel erstmals bei einer WM von Beginn an auf dem Platz stehen. "Wir haben volles Vertrauen in jede unserer Spielerinnen", betont Voss-Tecklenburg und erklärt: "Wir helfen uns jetzt erst recht gegenseitig. Man muss dann ein bisschen anpassen, auch in der Ausrichtung, welche Position man dann mit welchen Spielerinnen in welchen Räumen besetzt."
Die Anpassungen könnten nicht nur die linke Seite, sondern das gesamte Team betreffen. Gegen Marokko baute Deutschland oftmals stark asymmetrich das Spiel auf, weil sich Huth sehr offensiv postierte und hinten mit Rauch, Kathrin Hendrich und Sara Doorsoun drei Verteidigerinnen den Spielaufbau organisierten. Nun fällt mit Rauch, die Klara Bühl auf der Angriffsseite vor ihr vorbildlich den Rücken freihielt, eine defensiv sehr stabile Akteurin weg. Gleich zwei Offensivspielerinnen in die Abwehr zu stellen ist ein Experiment mit Risiken.
Oberdorf ist als Lückenfüllerin gefordert
Womöglich muss sich also auch Huth gegen Kolumbien defensiver orientieren, um das Gleichgewicht nicht zu gefährden. Auch Bühl dürfte mehr Unterstützung in der Rückwärtsbewegung leisten müssen. Einfach ist die Umstellung auf die ungewohnte Position nicht, selbst gegen die harmlosen Vietnamesinnen war immer mal wieder kurz zu sehen, dass die Konterabsicherung gegen schnelle Gegenstöße durchaus kompliziert funktioniert.
Da kommt es immerhin recht, dass mit Lena Oberdorf wieder eine echte Defensiv-Spezialistin mitmischt. Auch von der Sechserin-Position aus weiß sie mögliche Lücken im Abwehrverbund zu stopfen. Womöglich entscheidet sich Voss-Tecklenburg aber auch für Sophia Kleinherne, eine deutlich defensivere Fußballerin, oder gar Sjoeke Nüsken als Rauch-Ersatz. " Wir wollen eine Haltung haben, dass wir sagen: Es ist egal, wer auf dem Platz steht", betonte die Bundestrainerin mit Blick auf ihre Auswahlmöglichkeiten hinten links. Gegen Kolumbien wird sich dann zeigen, ob das funktioniert hat.