Bundesliga

Olaf Thon im Interview: "So viele Männer heulen zu sehen"

Schalke-Kapitän von 1997 über den UEFA-Cup-Sieg, seine Karriere und Büskens

"Eurofighter" Thon im Interview: "So viele Männer heulen zu sehen - das war atemberaubend"

Hier noch mit zwei Händen am Pokal: Olaf Thon.

Hier noch mit zwei Händen am Pokal: Olaf Thon.

Herr Thon, Sie haben zwei besonders wichtige Elfmeter verwandelt: im DFB-Dress im WM-Halbfinale 1990 gegen England und mit Schalke im Final-Rückspiel 1997 bei Inter. Sind die beiden Situationen zu vergleichen?

Das war ein großer Unterschied. Im Halbfinale war ich vorletzter Schütze, bei einem Fehlschuss wäre es wieder pari gewesen. Und die Ausgangssituation war eine andere: Ich musste ja zu Franz Beckenbauer laufen, um überhaupt schießen zu dürfen! Ich wusste, dass im Endspiel andere den Vorzug wohl bekommen würden. Ich musste den Elfmeter schießen, um mir die Chancen auf einen Einsatz zu wahren. 1997 war es anders. Ich war Kapitän, ich musste schießen. Aber nicht als Erster, das war Ingo Anderbrügge, der uns ja dann "Grünes Licht" gegeben hat.

Die Finalspiele 1997

Anderbrügge verwandelte in für ihn typischer Manier ...

Er hat ihn so toll geschossen. Mit dem Innenspann, der Ball zappelt glaube ich heute noch im Dreieck. Und Pagliuca blickt hinterher, obwohl er in der richtigen Ecke war. Er hatte keine Chance. Ich glaube, dass die Mailänder eingeschüchtert waren, obwohl sie auf ihre Fankurve schossen.

Jens Lehmann hielt anschließend den Elfmeter von Ivan Zamorano, Sie verwandelten. Wussten Sie, dass danach mit Martin Max und Marc Wilmots zwei Spieler kamen, die in Ihrer gesamten Karriere insgesamt drei Elfmeter geschossen hatten?

Nein, das wusste ich nicht (lacht). Aber sie waren ja nicht unerfahren. Es gibt eben Spezialisten, wie zu meiner Zeit in den Achtzigern Jochen Abel. Bei uns waren es Ingo und ich, aber beim Elfmeterschießen braucht man eben mindestens fünf. Ich hatte aber Vertrauen in Martin Max, er war ja unser Torjäger. Bei Marc Wilmots war es ähnlich: Er hatte Selbstvertrauen, war mit einer guten Technik ausgestattet. Es war mir aber nicht bewusst, dass sie so wenige Elfmeter geschossen haben.

Wilmots hatte einen Elfmeter verwandelt, einen verschossen. In Mailand versenkte er den entscheidenden Versuch. Im kicker-Sonderheft zum Schalke-Triumph sagten Sie, ihr erstes Ziel nach dem Titelgewinn sei es gewesen, die Spieler-Frauen auf den Platz zu bekommen.

Olaf Thons Karriere in Zahlen

  • 443 Bundesligaspiele (82 Tore)
  • 52 A-Länderspiele für Deutschland (3 Tore)
  • UEFA-Cup-Sieger mit Schalke 1997
  • DFB-Pokalsieger mit Schalke 2001 und 2002
  • Deutscher Meister mit Bayern 1989, 1990 und 1994
  • Weltmeister 1990

Nach dem Spiel war ich erst mal eine halbe Stunde beschäftigt, das irgendwie mitzuorganisieren. Die Italiener waren sehr verbohrt, enttäuscht und schlechte Verlierer. Aber es hat geklappt, auch die anderen Spieler wie der verletzte Youri Mulder waren dann unten. Dann haben wir alle zusammen gefeiert.

Den Lattentreffer von Inters Maurizio Ganz in der Verlängerung bezeichnete Wilmots als den "magischen Moment". Danach habe er gewusst, dass Schalke den Pott holen würde. Welches war Ihrer?

Das war sicherlich so eine Situation. Wir hatten immer auch das Glück auf unserer Seite - nur zehnmal Glück hat keiner, man kann es auch erzwingen. Aber der Elfmeter von Ingo war das alles Entscheidende. Das war der Türöffner, ich dachte: Jetzt kann uns nichts mehr passieren, als der erste Elfer verschossen wurde. Ich war mir sicher: Der Jens hält noch einen, das war ein Elfmeterkiller. Jens im Tor und Ingo als Schütze, das hat uns so viel Kraft gegeben. Für uns war es - im Nachhinein betrachtet - danach ein Kinderspiel.

Der Titel war auch Ihrer besonderen Interpretation der Libero-Rolle zu verdanken.

Ich spielte vor der Abwehr oder auf gleicher Höhe, eigentlich eher so eine Sechser-Position. Im heutigen Vergleich einen Tick zurückhängend. Ich konnte Bälle abfangen, einleiten. Das hat sich dann auch entwickelt mit Andreas Müller, Jiri Nemec, Marc Wilmots. Wir haben Pressing gespielt, wo wir Mann gegen Mann gespielt haben, sodass ich auf der Sechserposition war und die Positionen davor sozusagen "eins durchgereicht wurden", um vorne Pressing zu machen. Hinten konnte ich mich auf meine Abwehrspieler verlassen.

Die Geburt der Eurofighter

Gibt es so eine Rolle noch aktuell?

Makoto Hasebe hat das bei Frankfurt ähnlich gespielt, bei unser aktuellen Mannschaft seit der Übernahme von Mike Büskens auf ähnliche Weise Ko Itakura. Huub Stevens hat mir damals auch freie Hand gelassen, meine Spielweise zu interpretieren. Er hat mir die Freiräume gegeben, auch die Mitspieler entsprechend so zu stellen, dass es passt.

Stichwort Huub Stevens: Nach dem letzten Elfmeter von Mailand notierte der Trainer erst noch auf einem Zettel, wie Wilmots den Elfmeter geschossen hatte, ehe er selbst zu jubeln begann. War das eine typische Geste für ihn?

Erst Ordnung und dann Jubel. Für uns ja, das war nichts Untypisches. Auch wenn er mit seinem Laptop operiert hat. Sein Co-Trainer Hubert Neu, ein Lehrer, war ja auch sehr akribisch. Aber das sind auch menschliche Angewohnheiten. Von daher war das für uns Normalität.

20 Jahre Eurofighter: Schalker Legenden kicken wieder

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In Gelsenkirchen gab es einen riesigen Empfang, die Mannschaft feierte laut Wilmots eine Woche durch. Jens Lehmann fiel von einem Tisch, Andreas Müller gab ein Interview, in dem er laut eigener Aussage "nur noch gelallt" habe. Was ist bei Ihnen hängen geblieben?

Sicherlich das Eintragen ins Goldene Buch der Stadt, davor natürlich, wie ich den UEFA-Cup mit einer Hand hochgehalten habe. Und die Tribüne mit 20.000 Schalke-Fans zu sehen. Viele Männer, aber auch Frauen, die geweint haben vor Freude. So viele Männer heulen zu sehen, das war wirklich atemberaubend. Wenn ich an diese ganze Wand von Fans zurückdenke, mit dem Pokal in der Hand, da kommt die Gänsehaut wieder zum Vorschein.

Einer der Eurofighter hat gerade mal wieder für mächtig Furore gesorgt. Mike Büskens schaffte mit Schalke den Aufstieg. War er sehr angespannt, ehe das feststand?

Nein, eigentlich wurde er ruhiger: auf der Bank, in seinen Anweisungen. Es war aber zu beobachten, wie er ganz Schalke mitgenommen hat. Er hat umgestellt, wo Dimitrios Grammozis mit seiner Dreierkette vielleicht zu engstirnig war. Mike hat das teilweise verändert, auch mal mit Viererkette und Itakura auf der Sechs gespielt. Das hat gezogen.

Olaf Thons Karriere: Tore, Titel, Töpperwien

Büskens wird aber in der Bundesliga nicht mehr als Cheftrainer an der Seitenlinie stehen.

Das war ja von vornherein klar. Das war die Weitsicht von Peter Knäbel, Mike Büskens analog wie Hermann Gerland bei Bayern als Co-Trainer einzusetzen und damit einen Plan B zu haben - und der hat funktioniert. Egal, wer Cheftrainer ist: Mike ist eine feste Konstante im Trainerteam.

Die Negativschlagzeilen rund um Clemens Tönnies, das umstrittene Gazprom-Sponsoring - Schalke wurde sogar von den eigenen Fans für seine Vereinspolitik kritisiert. Bricht nun eine neue Ära an?

Schalke wird sich neu erfinden müssen, auch in naher Zukunft. Mit unserem neuen Sponsor "Vivawest" haben wir jetzt einen regionalen Partner, das gibt auch Synergieeffekte positiver Art, dass man dann auch gerade in der Region wieder zueinander findet mit neuen Sponsoren, die Schalke 04 helfen. Natürlich nicht in der Summe wie zuvor, aber das kann man durch Sympathiewerte wieder ausgleichen. Der Aufstieg kann das Ganze positiv befeuern.

Selbst der Schiedsrichter hat mich bei dem Spiel angefeuert.

Thon über das 6:6 gegen den FC Bayern

Ihr persönlicher Aufstieg begann mit dem legendären 6:6 im Pokal-Halbfinale gegen Bayern 1984. Sie schossen, gerade 18 Jahre alt geworden, drei Tore. Es folgte das legendäre Interview mit Rolf Töpperwien, bei dem sie beide von den Fans beinahe erdrückt worden wären.

Der Töpperwien war natürlich sehr gut vorbereitet. Er wusste, dass ich Bayern-Fan bin und dass ich in deren Bettwäsche geschlafen habe. Aber die hatte ich ja seit fünf Jahren gar nicht mehr. Er hat das aber aus mir herausgekitzelt, als hätte ich in der Nacht zuvor noch darin geschlafen. Im Nachhinein nicht schlimm: Ich musste mir zwar noch einiges von Schalke-Fans anhören, aber sie haben mir alles verziehen. Selbst der Schiedsrichter hat mich ja bei dem Spiel angefeuert.

Der Schiedsrichter?

Ich stand beim 5:6 am Mittelkreis und Wolf-Günter Wiesel sagte kurz vor Spielschluss zu mir: 'Komm Olaf, noch ein Angriff'. Heutzutage unvorstellbar. Ich habe dann das 6:6 mit einem Volleyschuss nach einem Abpraller gemacht. Jean-Marie Pfaff hatte keine Chance.

"Leute, Ruhe mal - Interview!" Sehe Sie hier, wie Töpperwien 1984 an den Schalke-Fans verzweifelte

Das zweite Tor hatten Sie mit dem Kopf erzielt. Töpperwien lobte Ihre Kopfballstärke bei nur 1,60 Metern. Sie hatten trotz der chaotischen Situation noch die Coolness, ihn zu verbessern.

Dabei bin ich ja größer als Maradona. Ich bin 1,70 Meter, da habe ich größten Wert drauf gelegt. Damit war dieses Interview abgerundet - mit den Fans, den Bodyguards, den Polizisten in voller Montur. Das ist legendär und wird immer wieder auf Youtube angeklickt. Normalerweise müsste ich dafür Tantiemen bekommen.

Assauer und Kuzorra - das sind die Lichtgestalten auf Schalke.

Olaf Thon

Sie sagten in dem Interview auch, dass Rudi Assauer so etwas wie Ihr Entdecker sei.

Eigentlich musste man mich nicht entdecken. Ich war so gut, das hätte ein Einäugiger erkannt. Aber er hat mir immer Rückendeckung gegeben. Ich erinnere mich noch an eine Geschichte vom Bayern-Spiel. Ich war ja damals 18 Jahre und einen Tag alt. Das Problem war: Wie feiere ich meinen 18. Geburtstag? Ich hatte über 100 Leute zum Reinfeiern für eine Party eingeladen. Ein paar Wochen vorher musste ich zu Assauer gehen. Er hat ein paar Züge aus seiner Zigarre genommen und gesagt: 'Olaf, feier du rein und ich komme ab 19 Uhr und zapfe für deine Gäste, bis du Geburtstag hast.' Das wäre vielleicht noch 'normal' gewesen, aber: Der 30. April war sein eigener Geburtstag. Er hat also seinen Geburtstag für meinen geopfert. Er hat gezapft bis weit in meinen Geburtstag hinein."

Vor dem Heimspiel gegen St. Pauli trafen sich fast alle Eurofighter wieder und wurden vor der Partie geehrt. Gerade jetzt beim Jubiläum: Sind sie noch häufig in Gedanken beim langjährigen Manager?

Ja, vor allem bei den Planungen dazu. Schon wenn man im Stadion ist, denkt man: Das ist dank Rudi Assauer so gebaut worden, da wird man immer dran erinnert. Rudi Assauer und Ernst Kuzorra, das sind für mich die Lichtgestalten von Schalke.

Jede Menge Eurofighter: Wilmots, Eigenrauch & Co. vor dem Heimspiel gegen St. Pauli.

Jede Menge Eurofighter: Wilmots, Eigenrauch & Co. vor dem Heimspiel gegen St. Pauli. IMAGO/Pakusch

Der Kontakt zwischen den Eurofightern ist nach wie vor rege, Sie haben auch eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe.

Darin sind sogar "Eurofighter und Freunde", wie zum Beispiel Kevin Kuranyi, Gerald Asamoah und Klaus Fischer. Ich habe sie aufgemacht im Zuge der 20-Jahrfeier. Viele Eurofighter wollten gar nicht fünf Jahre warten bis zum nächsten Wiedersehen. Auch diesmal gilt wieder: Nach dem Treffen ist vor dem Treffen.

Sie selbst verpassten das große Wiedersehen in der Arena wegen einer Corona-Infektion, obwohl Sie an der Organisation weitreichend beteiligt waren.

Ja, aber in Gedanken war ich dabei, die Arbeit wurde ja vorher gemacht. Der Tisch war gedeckt, die Mannschaft musste es gegen St. Pauli nur noch umsetzen. Dass es dann so Hitchcock-mäßig mit 3:2 nach 0:2 lief - das ist Fußball. Ich habe es zuhause so genossen, als wenn ich dabei gewesen wäre.

Im kicker-Sonderheft "Typen und Triumphe" von 2017 erfahren Sie alles über die Geburt der Eurofighter. Auf über 108 Seiten finden Sie unter anderem exklusive Interviews mit Marc Wilmots, Huub Stevens, Jiri Nemec, Martin Max und Tomasz Waldoch. Hier können Sie eines der wenigen verbliebenen Exemplare bestellen.

Interview: Christoph Laskowski