Bundesliga

"Die Schmerzen gehören dazu - ich muss sie überwinden"

Zum 70. Geburtstag von Christoph Daum

"Die Schmerzen gehören dazu - ich muss sie überwinden"

Feiert 70. Geburtstag: Christoph Daum.

Feiert 70. Geburtstag: Christoph Daum. IMAGO/GEPA pictures

Über 20 Chemotherapien hat Christoph Daum mittlerweile hinter sich, seit der "Gegner, den es zu bekämpfen gilt" ihn überfallen hat. "Am Tag danach geht es, am übernächsten Tag wird es kritisch und ab Tag drei geht es mir richtig dreckig. Das ist, als würde dir der Stecker gezogen. Nach rund einer Woche geht es dann wieder", schildert Daum die Nebenwirkungen der Substanzen, die seit Monaten seinen Körper dabei unterstützen, diese tückische Krankheit unter Kontrolle zu bekommen.

Alle drei Wochen unterzieht er sich dieser Prozedur und versucht, dem Leitsatz des 99-Tage-Kaisers Friederich III. (1831-1888) zu folgen: "Lerne leiden, ohne zu klagen." Wer sich immer als Kämpfer sah, der hört nicht auf damit, wenn es am nötigsten ist: "Die Schmerzen gehören dazu. Ich muss sie überwinden." Das ist Daums einzig gültiges Fazit. Dass es tatsächlich voran geht, können aufmerksame Beobachter im Forstbotanischen Garten in Köln mitunter beobachten, wenn der schmale Mann mit dem wieder sprießenden Haupthaar in einer "Mischung aus leichtem Jogging und schnellem Gehen" (Daum) seine Runden dreht. Mal fünf, mal sieben Kilometer sind schon wieder drin. Ein Fortschritt, der Mut macht.

Wiedersehen mit Uli Hoeneß: Der Trailer zur Daum-Doku

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Die Interviews, die er in den Wochen vor seinem 70. Geburtstag in Dauerschleife gab, halfen ihm dabei, sich abzulenken. Wie auch die Dreharbeiten zu einer 100-minütigen Doku, die er rund neun Monate lang mit großer Disziplin und sichtbarem Spaß absolvierte. Am 27. Oktober, drei Tage nach der Feier, strahlen "Sky" und der Streaming-Dienst WOW "Daum - Triumphe und Skandale" aus, worin der Trainer sein Leben Revue passieren lässt. Chronologisch werden sieben vollgepackte Jahrzehnte nacherzählt, gemeinsam mit Regisseur Marc Schlömer entstand ein Werk, das seinem Hauptdarsteller nicht unähnlich ist: Kraftvoll, sensibel, überraschend, verletzlich und selbstbewusst - wie der Mann, so der Streifen, der sein Leben beschreibt.

Daum ist seiner Zeit weit voraus

"Es war nie langweilig" - mit diesen Worten aus dem Mund des Protagonisten endet der Film und dies kann jeder nur fett unterstreichen, der Daum erlebt hat. Schon die Anfänge als Fußballlehrer zeichnen eine Spur in nur eine Richtung: nach vorne. Der junge Daum ist seiner Zeit weit voraus.

Anhand von detailliert ausgearbeiteten Konzepten und temperamentvoll präsentierten Vorträgen überzeugt der diplomierte Sportwissenschaftler in Köln Manager Karl-Heinz Thielen davon, die Nachwuchsarbeit komplett zu reformieren. Thielen lässt sich breitschlagen. Er nimmt zwar lieber Geld ein, als dass er es ausgibt. Aber kriegt er dafür junge preiswerte Profis, dann investiert er gerne.

Daum baut dem FC ein Haus, von dem der jahrelang profitieren soll. Der ehemalige E- und C2-Trainer übernimmt die A-Junioren von Klub-Legende Jupp Röhrig und installiert junge Fußballlehrer im Klub. Er arbeitet eng mit der Sporthochschule Köln zusammen, seine ehemaligen Dozenten Gunnar Gerisch und Gero Bisanz unterstützen ihn. Was die wenigsten Insider damals wissen: Daum lässt sich pro Jugendspieler, der einen Profivertrag bekommt, eine Prämie festschreiben. Mal höher, mal niedriger. Je nachdem, ob der Spieler beim FC bleibt, verkauft wird, wie nah er am Kader dran ist, wie nah an der Startelf. Ein guter Zusatz-Deal für den Mann, der zu Beginn seiner Laufbahn mit 1500 Mark brutto monatlich entlohnt wird. "Ich musste sehen, dass ich über die Leistung noch etwas reinhole."
15 Daum-Spieler werden in Köln und anderswo Profi - Bodo Illgner, Olaf Janßen oder Thomas Häßler sind nur die populärsten unter ihnen.

Christoph Daum, Pierre Littbarski

Mit Spielern wie Pierre Littbarski (re.) wird Daum in Köln beinahe Meister. imago images

Gespräche mit Christoph Daum über die vergangenen 40 Jahre bedeuten vielerlei, längst nicht nur das Schwelgen in Erinnerungen. Er vergleicht, zieht Parallelen, er ordnet ein, bewertet Fehler und Erfolge. Seine Karriere auf der großen Bühne beginnt 1985. Zunächst als Nebendarsteller. "Hannes Löhr war Cheftrainer und wollte mich als Co-Trainer haben. Einmal konnte ich ihm absagen, ein zweites Mal ging das nicht. Ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, keinen Ehrgeiz zu haben." Löhr ist ein Vorbild für den jungen Trainer, ein Mann, der den Fußball liebt, der mit jungen Spielern arbeiten will. Dem ehemaligen Jugendtrainer begegnet er auf Augenhöhe.

Als Löhr kündigt, kommen Daum die Tränen

Doch Weiberfastnacht 1986 ist Schluss mit Löhr. Monatelange Diskussionen um eine vorzeitige Vertragsverlängerung münden in der Kündigung des Vereinsidols, das um die Topspieler Pierre Littbarski, Klaus Allofs und Toni Schumacher ein Team der Namenlosen auf Platz drei geführt hat. Daum erinnert sich: "Plötzlich kam Hannes in die Kabine und begann seinen Spind auszuräumen. Auf meine Frage, was er da mache, antwortete er lapidar: 'Ich hab' gekündigt. Ich bin weg.' Ich war völlig fassungslos. Aber er ließ sich nicht umstimmen. Ich musste heulen."

Noch trauen die Verantwortlichen Daum den Chefposten nicht zu. Einen Tag nach der Trennung von Löhr kommt ein älterer Herr auf ihn zu und brüllt eher, als dass er spricht: "Kessler mein Name! Herr Daun (er nannte ihn wirklich so; d. Red.), ich kann Ihnen nur so viel sagen: Bisher ist aus jedem Assistenztrainer von mir etwas geworden!" Eine Begrüßung wie auf dem Kasernenhof. "Immerhin" lacht Daum, "hat er ja recht behalten." Georg Kesslers Zeit in Köln ist nach ein paar Monaten vorbei. Im September 1986 übernimmt Daum. Zunächst als Übergangslösung gehandelt, bleibt er fast vier Jahre Trainer.

All diese lang zurückliegenden Episoden sind Daum präsent wie gerade Erlebtes: "Ich habe", erklärt er, "diese Zeit sehr intensiv erlebt. Und je intensiver du etwas erlebst und es mit Emotionen verbindest, desto stärker ist die Erinnerung." Beim FC fällt ihm das leicht: "Das war meine Erst-Familie. Ich habe 80 Prozent meiner Wach-Zeiten mit dem FC verbracht."

Es passiert so viel in diesen Jahren. Daum, der den FC nach oben führt. Daum, der Bayern-Jäger. Der Lautsprecher. Der Hoeneß-Feind. Der Bessermacher. Vier seiner Spieler stehen im Kader des Weltmeisters von 1990, Illgner, Häßler und Littbarski holen den Titel auf dem Rasen, Paul Steiner sitzt auf der Bank.

Als Motivation klebt Daum die Siegprämie an die Kabinentür

Diese WM bedeutet die erste große Zäsur im Leben des Trainers Christoph Daum. Aus dem zurückhaltenden Neuling ist längst ein Schwergewicht der Branche geworden. Viel gelernt hat er von Udo Lattek, der während seiner Zeit als Sportdirektor in Köln erkennt, welch ein Potenzial in diesem Überzeugungstäter schlummert. "Öffentlichkeitsarbeit bedeutete ja Neuland für mich. Als Jugend- und Co-Trainer hatte ich doch nichts zu kamellen." Unter Latteks Anleitung ändert sich das behutsam, aber stetig. Der alte Trainerfuchs wird zum Mentor des Neulings. Es folgen viel mehr Siege als Niederlagen, das legendäre Sportstudio und der verbale Infight mit Uli Hoeneß. Es folgen Aktionen wie die in Bremen, als Daum vor einem Spiel 35 nagelneue 1000-Mark-Scheine an die Kabinentür klebt und seine Profis anfaucht: "Das ist eure Prämie, die wollen euch die Bremer klauen." Es sind verrückte Zeiten, aber erfolgreicher wird der FC nie mehr sein.

Auch an seinem letzten Abend als Trainer des 1. FC Köln sind Lattek und Daum zusammen. Der Trainer hat ein Haus gemietet, unweit von Erba, wo die deutsche Delegation während der WM 1990 logiert. Freunde kommen zum Grillen, viele Journalisten sind da. Es wird gegessen, getrunken, gelacht. Ein paar Stunden später geschieht etwas, von dem Daum damals sagte: "Sollte ich einmal im Leben eine schwere Erkrankung bekommen, dann wurde die Saat an diesem Tag gelegt."

Eine der denkwürdigsten Entlassungen - vorgenommen durch die Bosse des Klubs im Quartier der Nationalelf im Hotel "Castello di Casiglio" - schockt Fußball-Deutschland. Und zieht dem Betroffenen den Boden unter den Füßen weg. Bis heute weiß Daum nicht wirklich, was dazu führte. "Alles, was ich getan habe, habe ich für den 1. FC Köln getan. Mir ging es nur darum, so nah wie möglich an die Bayern heranzurücken. Ich habe immer gesagt: Wenn es möglich ist, einen Grippebazillus zu verbreiten, dann muss es auch möglich sein, einen Erfolgsbazillus zu verbreiten." Klubchef Dietmar Artzinger-Bolten ist immun dagegen.

Daums Abgang leitet Kölns Niedergang ein - Er kehrt zurück

"Zeit heilt Wunden", ordnet Daum die Geschehnisse von damals im Heute ein. Doch er sagt auch: "Es wird immer eine Narbe zurückbleiben. Und je nachdem, welche Gedanken sich treffen, dann siehst du sie, dann schmerzt sie, dann wird etwas ausgelöst." Was glaubt er, was Artzinger-Bolten damals ritt? "Sie wollten einen neuen FC. Einen ohne Christoph Daum. Das war kein großer Akt für ihn, weil er nicht wusste, wie bedeutsam ein Trainer für eine Mannschaft sein kann." Nach außen wird es dem Klubchef wohl zu viel Daum. Der junge Trainer wird ihm zu mächtig, zu beliebt. Also entlässt er ihn. Und leitet damit den Niedergang des 1. FC Köln ein, der bis heute anhält.

Der Titel unterscheidet den guten vom Meistertrainer.

Christoph Daum

Was der Katze nachgesagt wird, gilt auch für Daum. Mehrere Leben hat er gelebt während dieser vier Jahrzehnte, es sollen noch welche dazukommen. Sieben sind es allemal. Verleugnen will er nichts. Natürlich nicht die Titel mit dem VfB Stuttgart ("Die erste Meisterschaft ist die wertvollste, der Titel unterscheidet den guten vom Meistertrainer"), mit Austria Wien, mit Fenerbahce, mit Besiktas. Nicht den Aufstieg mit dem FC 2008 nach seiner Rückkehr im November 2006. Damals kommen fast 20.000 Menschen zum ersten Training ins Stadion, nach der Einheit sitzt er völlig fertig in der Kabine und stöhnt: "Dieser Erwartungshaltung kann ich nicht gerecht werden." Er kann. Eineinhalb Jahre später steigt er mit dem Klub seines Herzens auf. Und verlässt ihn vor Vertragende per Ausstiegsklausel Richtung Istanbul.

Seine Abschiede verlaufen selten ohne Nebengeräusche. In Stuttgart zieht es sich nach einem Wechselfehler im Qualifikationsspiel zur Champions League gegen Leeds United über ein Jahr hin, ehe der Kredit des Meistermachers aufgebraucht ist. Tatsächlich gilt: Wer heute an diese Trennung denkt, bringt sie automatisch mit diesem formalen Fauxpas (Daum wechselte den seinerzeit noch verbotenen vierten Ausländer ein) in Verbindung. So kann man irren.

Das tragische Saisonfinale 2000 mit Leverkusen nimmt er auf seine Kappe

Als Dritter der Meisterschaft trennt sich der Trainer 1996 von Besiktas Istanbul. Leverkusen holt den Ex-Kölner und startet mit ihm eine Erfolgsgeschichte. Bayer belegt nacheinander die Plätze zwei, drei, zwei und noch mal zwei. Die letzte Vizemeisterschaft trägt den Titel "Unterhaching" und ist eine der tragischsten Geschichten der Liga-Historie. Daum klagt sich später selbst an, nimmt das 2:0 für die Spielvereinigung auf seine Kappe: "Ich habe das Tempo zu sehr hochgehalten, der Mannschaft zu viel Druck gemacht."

Dennoch: Der innovative Trainer mit den mitunter seltsam anmutenden Motivationspraktiken ist anerkannt, und er wird auserwählt, Bundestrainer zu werden. Ein Traum für Daum, aus dem er brutal herausgerissen wird. Auf das, was als "die Kokainaffäre" in die deutsche Geschichte eingeht, darf er - 23 Jahre später - nicht reduziert werden. "Es war ein großer Fehler, den ich eingestanden und für den ich mich entschuldigt habe", sagt er. Und dass er sich weigert, davor wegzulaufen: "Wer kann schon von sich behaupten, dass sein Leben komplett fehlerfrei abgelaufen ist? Ich auf jeden Fall nicht." Diese Ereignisse im Oktober 2000 seien eine "Zäsur gewesen, die mich sehr stark belastet hat und unter der meine Familie sehr lange zu leiden hatte. Aber letztendlich ist es wichtig, Fehler einzusehen, sie zu korrigieren und es dann besser zu machen. Das ist doch, was Menschsein auszeichnet. So ordne ich das heute ein".

Aber ist es nicht die große verpasste Chance seines Lebens, den Bundestrainerposten nicht bekommen zu haben? "Klar", sagt Daum, "das ist so." Mit Uli Hoeneß, der den Stein ins Rollen brachte, hat er ein langes Gespräch geführt, ein paar Jahre ist das her: "Über eine Stunde haben wir gesprochen, es war ein wunderbares Gespräch, für das ich mich ehrlich bedanke." Im Rahmen der Dreharbeiten traf man sich erneut, die Gewissheit, dass hier zwei ihren Frieden miteinander gefunden haben, wurde vertieft.

Christoph Daum

Intimfeind, das war einmal: Mit Uli Hoeneß hat sich Daum ausgesprochen. picture-alliance / Sven Simon

Die Jahre nach 2000 sind geprägt von Erfolgen in Wien und Istanbul. Doch irgendwann reißt der Faden: Besiktas, Frankfurt, Brügge, Bursa, die rumänische Nationalmannschaft - die Ergebnisse halten sich zuletzt in engen Grenzen. "Es waren wichtige Erfahrungen", sagt der nunmehr 70-jährige, "das hat alles seinen Sinn." Was aktuell belegt wird durch die Tatsache, dass er überall mit großer Herzlichkeit begrüßt wurde, als er für die Dreharbeiten an die Stätten der Vergangenheit reist.

Fünf Jahre ist es her, da unterhielt sich Daum vor seinem 65. Geburtstag lange mit dem kicker. Was er dabei über die Nationalmannschaft sagte, klingt heute wie eine Weissagung. Schon damals vermisst er "das Revolutionäre", das, wofür ein Jürgen Klinsmann immer stand." Den Schwaben hält Daum für einen "mutigen Erneuerer". Deutlich wird seinerzeit, dass Daum nichts dagegen hätte, wenn so einer den deutschen Fußball wiederbeleben würde. "Ich habe das Gefühl, dass rund um die Nationalmannschaft viele Baustellen und Probleme existieren, die wir gar nicht kennen."

Das müsse auch nicht alles an die Öffentlichkeit. Aber intern solle man schnellstens zu Potte kommen und die Baustellen angehen, so Daums Einschätzung im Oktober 2018 nach der missratenen Weltmeisterschaft in Russland. "Die Zeiten haben sich verändert, und wir sollten die Wurzeln, die Seele des Fußballspiels, nie nachrangig betrachten. Die Ich-AGs, egal ob als Spieler, Trainer, Funktionär oder Mitarbeiter, müssen sich in die übergeordneten Ziele einreihen."

Daum würde Nagelsmann mit Völler kombinieren

Es folgen zwei weitere frustrierende Großturniere, erst geht Jogi Löw, dann Hansi Flick. Und nun kommt Julian Nagelsmann. Der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt? "Seine Fachkompetenz ist unbestritten", sagt Daum. Vom Trainer erwartet er den "Matchplan", aber er macht deutlich, dass der nur gelingen kann in einer Symbiose mit Rudi Völlers "Menschenplan". Völler habe ihm damals in Leverkusen sehr geholfen, seine große Akzeptanz bei den Spielern könne auch heute für eine vielversprechende Entwicklung sorgen, "diese menschliche Komponente, die zu einer verschworenen Gemeinschaft führt."

70 Jahre Christoph Daum. Ein ruhiger Geburtstag wird es nicht. Zunächst die Uraufführung des Films, dann ein Abend mit Freunden in einem Kölner Restaurant. Möglicherweise hätte er es gerne stiller, privater. Andererseits wird es ein Abend, der ihm unter anderem dies sagt: "Richtig viel falsch gemacht hast du nicht!" Damit kann er sicher leben.

Frank Lußem

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