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Fünf Geschichten zu Brasiliens WM-Titelverteidigung 1962

Wie Brasilien 1962 Weltmeister wurde

Die FIFA drückte beide Augen zu: Fünf Geschichten zur letzten WM-Titelverteidigung

Brasilien wird Weltmeister und Pelé (re.) schaut zu. Viliam Schrojf, Torhüter von Finalgegner Tschechoslowakei (Mi.), auch.

Brasilien wird Weltmeister und Pelé (re.) schaut zu. Viliam Schrojf, Torhüter von Finalgegner Tschechoslowakei (Mi.), auch. picture alliance (2), imago images

Mit ihm und ohne ihn

Dreimal Weltmeister als Spieler ist nur der große Pelé geworden, dessen Gesundheit der Fußballwelt während der WM in Katar Sorgen bereitet. Während der inzwischen 82-Jährige 1958 und 1970 überragte, war er bei der Titelverteidigung 1962 aber unfreiwillig nur eine Randfigur gewesen.

In der wohl besten Phase seiner außergewöhnlichen Karriere hatte der damals 21-Jährige den zähen WM-Auftakt gegen Mexiko (2:0) mit einer Vorlage und einem feinen Solo-Treffer noch maßgeblich geprägt, im zweiten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei (0:0) verletzte sich der Angreifer jedoch so schwer, dass das Turnier für ihn beendet war.

Zum Pelé-Ersatz wurde der junge Amarildo, der dennoch ein Jahr älter war als der Ausnahmekönner - mit Erfolg. In vier Spielen gelangen dem späteren Milan-Stürmer drei Tore, unter anderem der schnelle Ausgleich im Finale - wieder gegen die Tschechoslowakei (3:1). Pelé war zu diesem Zeitpunkt längst zum Star-Gast auf der Tribüne geworden, ähnlich wie vier Jahre später bei der WM in England, wo er rabiat aus dem Turnier gefoult wurde.

Ein Fummelkönig zieht alle Register

Positioneller Pelé-Ersatz war Amarildo, doch die Rolle des Weltmeistermachers übernahm der kongeniale Partner von "O Rei", Rechtsaußen Garrincha. Eigentlich als Fummelkönig fast nur auf dem Flügel beheimatet, zog der später dem Alkohol verfallene Dribbler bei der WM in Chile alle Register.

Der damals 28-Jährige tauchte in der gegnerischen Hälfte plötzlich fast überall auf, spielte für seine Verhältnisse ungewohnt sachlich, erzielte auf einmal Kopfballtore oder Weitschuss-Kracher mit beiden Füßen. Am Ende eines von Defensivfußball und hässlicher Härte geprägten Turniers wurde Garrincha - als einer von sechs Spielern mit vier erzielten Toren - sogar zum alleinigen Torschützenkönig gelost.

Garrincha bei der WM 1962

Kaum zu verteidigen: Garrincha (re.). imago/Horstmüller

Eine Ausnahme für den Lichtblick

Jenseits der Auftritte der chilenischen Auswahl hatten die Menschen in der Andenrepublik nur zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben von Valdivia offenbar nur bedingte Begeisterung für den Fußball übrig. Die Spiele anderer Mannschaften wurden bei der WM 1962 nicht sonderlich gut besucht.

Womöglich spielte auch die angesprochene "Schönheit" der teilweise brutalen Partien eine Rolle, gipfelnd in der "Schlacht von Santiago", als Italien und Gastgeber Chile Faustschläge, Sprungtritte und sonstige Nettigkeiten austauschten. Wenige Jahre später kam dem überforderten Schiedsrichter dieses Spiels, dem Engländer Ken Aston, die Idee mit den Gelben und Roten Karten.

Weil der überragende Garrincha in all dieser Tristesse einen Lichtblick darstellte, ließ sich die FIFA sogar zu einem Final-Einsatz des Ballzauberers erweichen - obwohl dieser sich, genervt von etlichen Fouls, in der Schlussphase des Halbfinals gegen Chile zu einer Tätlichkeit hatte hinreißen lassen, die ihm einen Platzverweis einbrachte.

Daraufhin mischte sich sogar Brasiliens politische Führung ein, der brasilianische Fußballverband argumentierte derweil mit Garrinchas ansonsten angeblich überaus fairem Verhalten. Wohl auch im Sinne des Fußballs drückte die FIFA schließlich beide Augen zu und erteilte dem Spieler des Turniers die Erlaubnis, im Finale aufzulaufen - in dem er, gezeichnet von einer Fiebererkrankung, allerdings kaum eine Rolle spielte.

Der Dritte wird der Erste sein

Pelé verletzt, Garrincha erkrankt - und doch war diese brasilianische Spielergeneration so stark, dass sie auch derlei Schwächungen relativ souverän kompensieren konnte. Amarildo traf, Gleiches galt für Mittelfeld-Abräumer Zito - und auch auf Edvaldo Izidio Neto, genannt Vava, war einmal mehr Verlass. Sein Tor zum 3:1 bedeutete den Endstand und die erfolgreiche Titelverteidigung.

Hinter Pelé und Garrincha spielte der spielstarke Mittelstürmer, der in diesen Jahren auch für Atletico Madrid auflief, im brasilianischen Ausnahme-Angriff oft nur die dritte Geige, obwohl er einen kaum geringeren Anteil an den großen Erfolgen hatte. Nach seinem Doppelpack im Endspiel 1958 (5:2 gegen Schweden) wurde Vava 1962 zum ersten Spieler, der in mehreren WM-Finals traf.

Bis heute folgten nur noch Pelé (1958 und 1970), Paul Breitner (1974 und 1982) und Zinedine Zidane (1998 und 2006). Und am Sonntag auch Antoine Griezmann oder Kylian Mbappé?

WM-Finale 1962

Zito (#4) wird gleich das 2:1 köpfen, Schlussmann Schrojf (schwarzes Trikot) ist längst geschlagen. picture-alliance / dpa

Ein Finale zum Vergessen

Viliam Schrojf, der Tschechoslowake, wurde durchaus verdient als bester Torhüter der WM 1962 ausgezeichnet - bei der übrigens auch ein gewisser Lew Jaschin mitgespielt hatte. Doch ausgerechnet im Finale, in dem seine Mannschaft über weite Strecken gut mithielt und alle Möglichkeiten hatte, erwischte der Schlussmann einen rabenschwarzen Tag.

Bei Amarildos Ausgleich kurz nach der Führung des Außenseiters hatte sich Schrojf im kurzen Eck überraschen lassen, vor Zitos Kopfballtreffer irrte er im Niemandsland seines Fünfmeterraums umher, und Vava ließ er den Ball nach einer Flanke - wohl geblendet von der Sonne - direkt vor die Füße fallen. Auch das ist ein Teil der Geschichte jener Mannschaft, der als bis dato letzter die WM-Titelverteidigung gelang. Vor inzwischen 60 langen Jahren.

Niklas Baumgart

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