Bundesliga

"Da wussten wir, es gibt kein Zurück mehr"

Vor 40 Jahren flüchteten Falko Götz und Dirk Schlegel in den Westen

"Da wussten wir, es gibt kein Zurück mehr"

Falko Götz (li.) und Dirk Schlegel im Trikot von Bayer Leverkusen.

Falko Götz (li.) und Dirk Schlegel im Trikot von Bayer Leverkusen. imago images

Er ist 21 und hat im Grunde noch sein ganzes Leben vor sich, aber in diesem Moment drängt die Zeit. Falko Götz weiß, was er will - und jetzt sieht der DDR-U-21-Nationalspieler die Gelegenheit gekommen. "In einer halben Stunde", sagt Jürgen Bogs, der Trainer des BFC Dynamo, zu seinen Spielern, "sehen wir uns wieder hier am Bus."

Es ist Mittwoch, der 2. November 1983, und Bogs gewährt der Mannschaft und den Betreuern am Vormittag noch einen Einkaufsbummel im Zentrum von Belgrad. Die bei Auslandsreisen übliche Stasi-Entourage ist immer in der Nähe. Am Abend steht für den DDR-Meister BFC das Zweitrunden-Rückspiel im Europapokal der Landesmeister bei Partizan Belgrad an. Götz und sein Mitspieler Dirk Schlegel kehren nicht zum Bus zurück.

Mein Plan war, nicht als junger, unbedarfter Spieler mit 18 rüberzugehen, sondern ich wollte mir erst eine Visitenkarte in der DDR aufbauen.

Falko Götz

Bereits in der 1. Runde des Wettbewerbs, in der ihre Mannschaft im September 1983 auf den luxemburgischen Meister Jeunesse Esch trifft, planen sie ihre Flucht. Doch ein eingeweihter Freund, der beiden helfen soll, erhält kein Visum für Luxemburg. Der Plan platzt. Götz und Schlegel nehmen sich vor, es beim nächsten Mal auf eigene Faust zu probieren. Beide haben es beim BFC trotz Westverwandtschaft in die erste Mannschaft geschafft. Sie bekommen trotz Eignung nicht die Zulassung zur Sportschule, aber sie setzen sich dennoch durch. Sie werden DDR-Meister, aber sie spüren die Enge im Klub, in der Mauer-Stadt Berlin und im ganzen Land: räumlich, gedanklich, perspektivisch.

Jeden Samstag schauen sie die ARD-Sportschau. Die Bundesliga wird ihre Endstation Sehnsucht. "Sie war irgendwann mein klares Ziel", sagt Götz. "Mein Plan war, nicht als junger, unbedarfter Spieler mit 18 rüberzugehen, sondern ich wollte mir erst eine Visitenkarte in der DDR aufbauen. Die Eigenverantwortung mit der Möglichkeit, die eigene Karriere selbst zu gestalten, war ein Hauptgrund für meine Flucht. Ich wollte weiterkommen und mich an mein Limit bringen."

Beide wollen ihr waghalsiges Unterfangen in Belgrad am liebsten gleich nach dem Abschlusstraining am Vorabend des Spiels in die Tat umsetzen. Aber Schlegel hat Balldienst, er muss nach dem Training die Bälle einsammeln, aufpumpen und mit Lederfett polieren und ist dabei nicht allein. Am nächsten Tag, in der Belgrader Innenstadt, sind beide während der Shopping-Tour einige Minuten unbeaufsichtigt. Sie betreten einen Schallplattenladen, verlassen ihn durch einen Seitenausgang, springen in ein Taxi und nennen dem Fahrer als Ziel die im Herzen Belgrads an einem breiten Boulevard gelegene Botschaft der Bundesrepublik. "Das war der eine Augenblick, vier, fünf heftige Herzschläge, als mir die Tragweite klar wurde", sagt Götz 40 Jahre danach. "Da wussten wir, es gibt kein Zurück mehr. Da hatte ich ganz kurz Schnappatmung."

Reise nach München auf eigene Faust

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Götz und Schlegel erklären dem Pförtner die Dringlichkeit, der lässt sie zu einem Sachbearbeiter durch. Der Botschafter wird eingeweiht und entscheidet, Götz und Schlegel mit einem PKW ins drei Stunden entfernte Generalkonsulat der Bundesrepublik nach Zagreb zu bringen. Es ist ein Politikum. Jede Flucht aus der DDR ist ein hochriskantes Unterfangen. Nach der Wende erfahren Götz und Schlegel in ihren Stasi-Akten, dass sie nach der geglückten Flucht auch im Westen nahezu lückenlos überwacht werden und die Stasi zeitweise eine Entführung erwägt.

Dass sich nach Lutz Eigendorf, der 1979 nach einem Freundschaftsspiel in Kaiserslautern in der Bundesrepublik bleibt und im März 1983 unter nie vollends geklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben kommt, die nächsten BFC-Spieler absetzen, empfindet Erich Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, das den BFC protegiert, als persönlichen Verrat. Im Belgrader Hotel "Jugoslavija" wird Bogs von der Delegationsleitung des BFC instruiert, den Spielern in der Teamsitzung zu sagen, Götz und Schlegel seien beim Ladendiebstahl erwischt worden.

Falko Götz, Dirk Schlegel

Falko Götz (li.) und Dirk Schlegel im Trikot des BFC Dynamo vor ihrer Flucht. imago images

Am Abend verliert der BFC bei Partizan mit 0:1 und kommt nach dem 2:0-Hinspielsieg weiter, den vakanten Platz von Stammspieler Götz nimmt vor 55.000 Zuschauern der 18-jährige Europapokal-Debütant Andreas Thom ein. Götz und Schlegel bekommen im Konsulat Ersatzpässe und das Angebot, zehn Tage später mit einem Diplomaten-Transport in die Bundesrepublik zu reisen. So lange wollen beide nicht warten, sie wissen: Jeder Tag länger auf dem Boden des blockfreien Jugoslawien erhöht die Gefahr, entdeckt zu werden. Sie lassen sich mit dem Auto nach Ljubljana bringen und besteigen dort den Nachtzug nach München. Kranj, Lesce Bled, Jesenice, der Grenzbahnhof nach Österreich - so heißen die Stationen auf dem Weg durch die Dunkelheit in die Freiheit.

In Jesenice betritt ein Polizist das Zugabteil und kontrolliert die Pässe. "Er hat länger drauf geschaut, aber nichts beanstandet", erzählt Schlegel. Als der Zug, der sie in neues Leben bringen soll, die Grenze nach Österreich passiert hat, umarmen sich die beiden Freunde euphorisiert und schlafen nach Tagen maximaler Anspannung bald darauf ein. BFC-Coach Bogs beantwortet in der Pressekonferenz nach dem Spiel bei Partizan keine Fragen zu dem abtrünnigen Duo. Als jugoslawische Reporter nachhaken, steht er auf und geht. Um 21.44 Uhr am Mittwochabend meldet ADN, die staatliche Nachrichtenagentur der DDR: "Die Fußballspieler Falko Götz und Dirk Schlegel vom BFC Dynamo wurden von Profimanagern der BRD mit hohen Geldsummen abgeworben. Vor dem Spiel des Europapokals der Landesmeister in Belgrad haben sie ihre Mannschaft verlassen und verraten."

Als Götz und Schlegel am Morgen des 3. November 1983 in München eintreffen, lesen sie am Kiosk die Schlagzeile der "Bild"-Zeitung: "DDR-Fußballstars geflohen!" Beide kleiden sich in einem Kaufhaus neu ein und stoßen mit einem Hefeweizen an.

Falko Götz, Dettmar Cramer, Dirk Schlegel

Falko Götz (li.) und Dirk Schlegel (re.) mit ihrem ersten Bundesliga-Trainer Dettmar Cramer. imago sportfotodienst

Im Osten Berlins klingeln Beamte bei Götz' Eltern und seiner Ex-Freundin. Seine Mutter und seine Ex-Freundin werden in Berlin-Hohenschönhausen getrennt voneinander stundenlang verhört. Für Götz und Schlegel geht es mit dem Zug weiter ins Aufnahmelager Gießen, wo sie über einen Verbindungsmann Kontakt zu Jörg Berger aufnehmen, 1979 ebenfalls über Jugoslawien in den Westen geflüchtet und 1983 Trainer von Zweitligist Hessen Kassel.

Gemeinsames Debüt in Bielefeld

Elf Bundesligisten strecken ihre Fühler nach Götz und Schlegel aus, beide entscheiden sich für Bayer Leverkusen. Während ihrer einjährigen FIFA-Sperre, die ihre Flucht nach sich zieht, trainieren sie mit und arbeiten nebenher in einem Kaufhaus. Am 3. November 1984 wird der Traum von der Bundesliga wahr. Leverkusen spielt bei Arminia Bielefeld 1:1. Dirk Schlegel steht in der Startelf, Falko Götz wird für Herbert Waas eingewechselt.

Noch heute nennen beide Dettmar Cramer, ihren ersten Trainer im Westen, einen Glücksfall. "Wie er sich um Dirk und mich gekümmert hat, auch in dem Jahr nach der Flucht, als wir die FIFA-Sperre absaßen, war sensationell", sagt Götz. "Als unsere Sperre abgelaufen war, hat uns Cramer direkt reingeworfen - nach einem Jahr ohne Spielpraxis! Welcher Trainer würde heute so ein Risiko eingehen? Als ich an dem Tag gespielt habe, wusste ich: Das wird was, ich komme sportlich zurecht. Das hat mir einen großen Schub gegeben. Fünf, sechs Wochen später war ich Stammspieler."

Ich wollte nicht im Konsum versumpfen.

Falko Götz

Götz schreibt Geschichte mit Bayer 04 und gewinnt 1988 den UEFA-Pokal. Im Elfmeterschießen des Finalrückspiels gegen Espanyol Barcelona ist er als fünfter Schütze eingeteilt, aber seine Kollegen regeln es vorher. Im Osten Berlins geht Götz' Vater während der entscheidenden Minuten vor Aufregung auf die Straße. "Ich hatte mein ganzes Leben die totale Rückendeckung meiner Eltern. Das war für mich mit ein Antrieb, die Geschichte und meinen Weg im Westen zu einem guten Ende zu bringen. Ich hatte einen klaren Plan und viel Ehrgeiz und Konzentration auf den Sport. Ich wollte nicht im Konsum versumpfen", erzählt Götz, der nach seiner Zeit in Leverkusen 1988 zum 1. FC Köln wechselt, mit dem er zweimal Vizemeister wird und 1991 ins DFB-Pokalfinale einzieht. Mit Galatasaray Istanbul gewinnt er 1993 das Double und wird 1994 nochmals türkischer Meister, ehe er in Saarbrücken und bei Hertha BSC seine Profi-Karriere beschließt, die er als Stürmer beginnt und als Libero beendet.

Schlegel wird in Leverkusen mit Cramers Nachfolger Erich Ribbeck nicht warm. Im Sommer 1986 kehrt er nach einer Leihe zum VfB Stuttgart zurück ins geteilte Berlin und unterschreibt einen Vertrag bei Bundesliga-Aufsteiger Blau-Weiß 90. Er ist in der Heimat - und doch nicht da. Er lernt den Westteil der Stadt kennen, aber seine Eltern, die Schwester und den zehn Jahre jüngeren Bruder, die im Ostteil wohnen, sieht er nach einer Amnestie erst 1988 - ein Jahr vor dem Mauerfall - in Prag wieder.

Schlegel formte später bei Hertha Toptalente

Der Außenverteidiger kommt auf 54 Bundesliga- und 107 Zweitligaspiele, "mit etwas mehr Seriosität hätten es ein paar Bundesligaspiele mehr sein können". Beide zieht es später in die Akademie von Hertha BSC, zeitweise ist Schlegel Götz' Co-Trainer bei der U 23. Götz schafft auch als Coach den Sprung in die Bundesliga, erst bei Hertha, später bei 1860 München.

Schlegel fördert in Herthas U 19 Toptalente wie Jerome Boateng, Sejad Salihovic und Ashkan Dejagah. Später scoutet er für eine Spielerberater-Agentur, seit Ende 2018 arbeitet Schlegel als Scout für Zweitligist Holstein Kiel. Vor allem bei U-Länderspielen trifft er Götz, der Scout bei Bayer Leverkusen ist, häufiger. Auch privat halten die beiden bis heute engen Kontakt. "Wir kennen uns seit der F-Jugend", sagt Götz. "Ich wäre damals zur Not auch allein geflüchtet, aber nie mit jemand anderem als Dirk."

Schlegel sieht es genauso. "Wir waren beide an dem Punkt, dass wir wegwollten", sagt er. "Ich bin froh, dass wir es durchgezogen haben." An einem November-Tag in Belgrad, der ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt und über den Falko Götz 40 Jahre später sagt: "Es war eine Mischung aus Mut und jugendlichem Leichtsinn."

Steffen Rohr