Bundesliga

Brych, Dingert, Ittrich: Krisenmanager ohne Pfeife

Schiedsrichter und ihr Alltag in der Corona-Pause

Brych, Dingert, Ittrich: Krisenmanager ohne Pfeife

Statt auf dem Platz derzeit als Krisenmanager gefragt: Schiedsrichter Christian Dingert.

Statt auf dem Platz derzeit als Krisenmanager gefragt: Schiedsrichter Christian Dingert. imago images

Auf nach Indien! FIFA-Schiedsrichter Christian Dingert leitet in Guwahati und Goa mit einheimischen Assistenten zwei Spiele der Indian Super League. Der indische Verband AIFF will im Rahmen einer Kooperation in allen Bereichen vom DFB lernen - Globalisierung in Reinform. Dingert beeindruckt die AIFF-Verantwortlichen, sammelt selbst "wahnsinnig viele spannende Eindrücke" in dieser ganz anderen Kultur. Eine Fortsetzung ist geplant. Stand: Mitte Februar 2020.

Vier Wochen später ist alles anders. Die Corona-Pandemie versetzt den gesamten Erdball in einen noch nie da gewesenen Ausnahmezustand. Mit Kontaktverboten, Ausgangsbeschränkungen und geschlossenen Grenzen, viele Menschen sterben an COVID-19, andere geraten in akute Existenznot. An einen Indien-Trip und Fußball ist nicht zu denken.

Das betrifft auch Dingert und die 25 weiteren Bundesliga-Schiedsrichter, die allerdings finanziell gut dastehen. Aktuell fehlen zwar die Einsatzprämien: 5.000 Euro in der Bundesliga, 2.500 in der 2. Liga und 1.000 in der 3. Liga; ein Ausfall wäre vor Sommer 2012 aber deutlich schmerzlicher gewesen. Damals führte der DFB Grundhonorare (von 80.000 Euro für "First-Class"-FIFA-Schiedsrichter bis 4.500 Euro für 3. Liga-Schiedsrichter) für seine Spitzen-Schiedsrichter ein, vor allem für den Krankheits- oder Verletzungsfall - eine Rückversicherung auch in dieser unvorhergesehenen Krise. Angestellt sind die Referees aber nicht, offiziell ist es ein Honorar zur Nutzung der Persönlichkeitsrechte. Die Mehrheit der Gilde geht noch anderen Berufen nach, meist in Teilzeit.

Dingert konfrontiert mit Sorgen und Nöte der Unternehmer und Selbstständigen

Dingert arbeitet seit 2001 in der Kreisverwaltung Kusel in der Westpfalz, mit rund 70 000 Einwohnern einer der kleinsten Landkreise der Republik. Seit über zwei Jahren verkörpert der Diplom-Verwaltungswirt die Ein-Mann-Stabstelle Wirtschaftskoordination, ist Ansprechpartner für alle Gewerbetreibenden. Es ist kein besonders spektakulärer Job, zumal ihn Dingert mit einer 65-Prozent-Stelle ausübt, um genug Zeit für das tägliche Training in den verlängerten Mittagspausen zu haben.

Doch am 16. März ändert sich auch das entschleunigte Landleben schlagartig. Die Bundesregierung ordnet die Schließung von Freizeit- und Sporteinrichtungen sowie erster Einzelhandelsverkaufsstellen an. Bald sind weitere Betriebe vom Erlass betroffen, eine Woche später kommt das bundesweite Kontaktverbot. Dingert ist plötzlich Krisenmanager - ohne Pfeife und für weit kniffligere Probleme als auf dem Fußballplatz: "Das Telefon hat ununterbrochen geklingelt und das E-Mail-Postfach ist übergelaufen", berichtet er.

Die Sorgen, Nöte und Fragezeichen der Unternehmer und Selbstständigen sind riesig. Wie soll es weitergehen? Welche Geschäfte dürfen noch öffnen? Darf der Physiotherapeut die wichtige Lymphdrainage bei Krebspatienten durchführen, obwohl er keinen Mundschutz mehr hat? Dürfen Handwerker zu dritt im Auto fahren? Wie funktioniert Kurzarbeit? Und, und, und ...

Dingert gibt Auskunft, ist Ratgeber und Seelsorger. Tränen und Emotionen am Telefon muss er mit großer Empathie begegnen: "Ich bin gern für die Leute da und versuche zu helfen, wo ich kann." Viele Menschen, deren Existenz bedroht ist, kennt er persönlich. Es melden sich auch besorgte Bürger: Muss ich den Schornsteinfeger noch reinlassen? Der könnte ja Corona mitbringen …

Auch wenn es wie in jeder Krise Profiteure gibt - eine Firma für Lebensmittelverpackungen läuft auf Hochtouren - ist die Stimmung gedrückt. Was Dingert dennoch freut: Der Umgang der Menschen bleibt verständnis- und rücksichtsvoll, hilfsbereit. Der Krisenstab des Ordnungsamtes, dem Dingert auch angehört, musste bei der Überprüfung der Einhaltung der Regeln bisher nicht durchgreifen. Letztlich geht es vor allem um eins: Wie kommt man an die vom Bund zugesagten finanziellen Hilfen?

In der Woche der Schließungen hat Dingert sieben Tage durchgearbeitet, am Wochenende von daheim E-Mails und umgeleitete Anrufe beantwortet. Den vom Athletiktrainer der DFB-Schiris empfohlenen Trainingsumfang konnte er nicht einhalten. Keiner wird's ihm übelnehmen. Vorigen Donnerstag ist die Welle der Hilferufe vorerst ein wenig abgeebbt. Dingert kann wieder mehr trainieren und Videoszenen auswerten, um fit zu sein für den Tag X. Da die Sportplätze gesperrt sind, ist Improvisation gefragt, da wird die Koordinationsleiter eben auf den Feldweg gelegt. "Aber das ist gerade das kleinste Problem, wenn es um die Gesundheit aller Menschen geht", betont Dingert.

Ittrich spielt "Verkehrskasper" - Petersen unterstützt ältere Menschen

Patrick Ittrich

Patrick Ittrich betreibt als "Verkehrskasper" Verkehrserziehung per Podcast. picture-alliance

Die Corona-Krise dominiert den Alltag und erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Auch bei Patrick Ittrich (41, seit 2015 in der Bundesliga), im Hauptberuf Polizist bei der Verkehrsdirektion in Hamburg. Als "Verkehrskasper" tritt er normalerweise mit Handpuppen in Vorschulen auf. Da diese aber geschlossen sind, hat Ittrich kurzerhand einen Verkehrserziehungs-Podcast für Kinder ins Leben gerufen.

Martin Petersen (35, 2017) setzt wie einige Kollegen voll auf die Karte Elite-Referee. Derzeit ist er also "arbeitslos" und managt die Krise auf seine Weise. Mit seiner Frau gründete er in Stuttgart eine Initiative für Menschen der Risikogruppe, hilft ihnen beim Einkaufen von Lebensmitteln und Medikamenten, führt Hunde Gassi oder erledigt Botengänge. Dafür gibt das Paar auf der Internetseite aniundpeter.de und auf Flyern für die "Generation offline" sogar seine Festnetznummer preis. Welcher Schiri würde das in der Normalität tun? Aber was ist gerade schon normal?

Felix Brych beschäftigt sich mit dem Stopp des Spielbetriebs

So gut wie nichts. Auch beim Bayerischen Fußball-Verband. Dort arbeitet Dr. Felix Brych (44, 2004) als Abteilungsleiter Talentförderung und Schiedsrichter. Doch derzeit pfeift nirgendwo ein Schiri Spiele mit Talenten an. Ende Februar stellte der Jurist in der Partie Neapel gegen Barcelona mit seinem 57. Einsatz noch den alleinigen Rekord in der Champions League auf. Jetzt muss sich der Top-Referee mit dem Stopp des Spielbetriebs im BFV auseinandersetzen - und gleichzeitig Strategien entwerfen für den Tag, an dem der Ball wieder rollen darf.

Alle sehnen ihn herbei, auch die Schiris - bei allen Improvisationskünsten und guten Taten. Das hieße nämlich, dass die Corona-Krise größtenteils überstanden wäre. Mit weiterem Abstand könnte dann auch eine Indien-Dienstreise eines Unparteiischen wieder zu einem Thema werden.

Carsten Schröter-Lorenz