Bundesliga

50 Jahre Büchsenwurf: Rainer Bonhof im Interview

Das legendäre Büchsenwurf-Spiel wird 50

Bonhof im Interview: "Ich sage: Die Dose war leer"

Rainer Bonhof und die originale Büchse, ausgestellt in der FohlenWelt, dem Vereinsmuseum von Borussia Mönchengladbach.

Rainer Bonhof und die originale Büchse, ausgestellt in der FohlenWelt, dem Vereinsmuseum von Borussia Mönchengladbach. imago images/Jan Huebner

Für das Interview mit Rainer Bonhof gibt es nur einen passenden Ort: Im Raum "Büchsenwurf" im Erdgeschoss des Borussia-Parks trifft der kicker Gladbachs Vizepräsidenten, um mit ihm über das legendäre 7:1 der Fohlenelf gegen Inter Mailand zu sprechen. Bonhof nippt anfangs noch entspannt an seiner Tasse Kaffee, doch schnell wird deutlich, wie sehr ihn die Ereignisse von damals auch heute beschäftigen. "Es kommen beim Erzählen eine Menge Emotionen wieder hoch. Selbst 50 Jahre später ist man immer noch ein bisschen sauer", sagt Bonhof. "Dass dieses Spiel aus den Statistiken gelöscht wurde, tut weh. Man hat uns diesen fantastischen Abend genommen."

Selbst 50 Jahre später ist man immer noch ein bisschen sauer. Dass dieses Spiel aus den Statistiken gelöscht wurde, tut weh.

Rainer Bonhof

Als "Büchsenwurf-Spiel" wurde das 7:1 gegen Inter am 20. Oktober 1971 zum Mythos. Es gilt als das beste Spiel in der Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach. Die junge Truppe um Günter Netzer überrollt im Achtelfinale des Europapokals der Landesmeister die Star-Auswahl von Inter und bekommt den Triumph von der UEFA am grünen Tisch aberkannt. Inter-Stürmer Roberto Boninsegna wird in der 28. Minute von einer aus den Zuschauerrängen geworfenen Cola-Dose vermeintlich am Kopf getroffen und geht zu Boden. Auf einer Trage wird der angeblich bewusstlose Angreifer vom Platz gebracht.

Schauspielerei? Ja, sagt die Borussen-Seite. Auf Betreiben der Italiener aber annulliert die UEFA das 7:1, Gladbach scheidet nach einem 2:4 in Mailand und einem 0:0 im Wiederholungsspiel in Berlin aus. Bonhof, damals 19 Jahre alt und als Mittelfeldspieler auf dem Platz, sagt: "Alle, die an diesem Abend auf dem Bökelberg dabei waren, müssen die Geschichte vom 7:1 und dem Büchsenwurf erzählen, solange es eben geht. So lebt diese unglaubliche Leistung weiter, auch wenn das Ergebnis in keiner offiziellen Statistik auftaucht."

Herr Bonhof, Gladbach hat seit dem Bundesligaaufstieg 1965 über alle Wettbewerbe verteilt 2289 Pflichtspiele bestritten. Was schätzen Sie, wie viele davon haben Sie als Aktiver miterlebt oder als Zuschauer verfolgt?

Vielleicht 1100? Sogar 1200 oder noch mehr? Im vierstelligen Bereich lande ich ganz sicher, wenn ich über die Jahrzehnte alles zusammenzähle.

Eine Nacht, in der der Bökelberg bebte, eine Leistung wie im Rausch.

Rainer Bonhof

Dann können Sie uns sicherlich verraten, welches Borussen-Spiel denn wirklich das beste aller Zeiten war.

Es gab so viele fantastische Auftritte, dass es mir schwerfällt, ein einzelnes Spiel herauszupicken. Denken Sie an das historische 12:0 gegen Borussia Dortmund, legendäre Europapokalschlachten gegen den FC Liverpool oder Real Madrid, und auch in den anderen Dekaden waren immer wieder denkwürdige Partien dabei. Aber wenn ich mich auf ein einzelnes Spiel festlegen müsste: Ja, das 7:1 gegen Inter Mailand war wahrscheinlich das beste Spiel in Borussias Vereinsgeschichte überhaupt. Das war eine Nacht, in der der Bökelberg bebte, eine Leistung wie im Rausch.

Sitzt der Stachel immer noch tief, dass der Mannschaft und dem Klub dieses 7:1 weggenommen wurde?

Dass die UEFA dieses 7:1 gegen Inter aus allen Annalen gelöscht hat, das ist eine Enttäuschung, die niemals vergehen wird - und genauso bleibt bis heute auch das Gefühl, betrogen worden zu sein. Das 7:1 taucht in keiner offiziellen Ergebnisliste auf, es ist, als ob dieses Spiel nie stattgefunden hätte. Eigentlich wäre das Jubiläum doch der passende Anlass, dieses Spiel in die Statistik aufzunehmen mit dem Hinweis, dass es anschließend annulliert wurde. Aber ich fürchte, das passiert wohl nie. Deshalb verspüren wir alle, die damals dabei waren, auch die Verpflichtung, darüber zu sprechen. Die Geschichte dieses einmaligen Spiels muss erzählt und den nächsten Generationen überliefert werden. Das ist unser Auftrag.

Man spürt, dass Sie das Thema auch nach 50 Jahren noch richtig bewegt.

Blickt man zurück, regt man sich immer noch auf. Die Schmerzen haben über die Jahre nachgelassen, aber die Geschichte tut heute noch weh.

Ich habe Roberto verziehen. Aber es tut heute noch weh.

Rainer Bonhof

Wie groß ist 50 Jahre danach die Wut auf Roberto Boninsegna, den vermeintlichen Schauspieler?

Ich habe Roberto verziehen bei einem Telefonat im vergangenen Jahr. Wenn wir uns sehen, werden wir uns ganz normal begrüßen. Nichtsdestotrotz bleibt es dabei, dass jeder seine eigene Sicht der Dinge hat. Daran hat auch unser Telefonat nichts geändert.

Roberto Boninsegna wird vom Platz getragen.

Roberto Boninsegna wird vom Platz getragen. imago images/Horstmüller

Und die unterschiedlichen Meinungen lauten?

Roberto ist bei seiner Version geblieben, dass er bewusstlos und die Dose voll war. Ich sage: Die Dose war leer. Luggi Müller, der im Juni leider verstorben ist, hatte die Dose damals auch in die Hand genommen und festgestellt, dass höchstens ein paar Tropfen drin sind.

Müller sprach später von einer "herausragenden schauspielerischen Leistung" Boninsegnas.

Wir spielten damals Mann gegen Mann, Luggi war Boninsegnas Gegenspieler. Er war direkt an ihm dran in dem Moment, als es passierte, und versuchte anschließend, Boninsegna hochzuhelfen - der sich aber dagegen wehrte und liegen blieb. Dann kamen Inter-Kapitän Sandro Mazzola und Günter Netzer, und es ging drunter und drüber. Wie gesagt: Jeder hat da seine eigene Meinung zu dieser Szene.

Wir konnten uns an unserem eigenen Spiel berauschen und waren dann nicht mehr zu stoppen, von niemandem.

Rainer Bonhof

Wie blicken Sie aufs Spiel selbst, Borussias Torrausch, zurück?

Inter gehörte damals zur Crème de la Crème im europäischen Vereinsfußball, eine Mannschaft voll mit Nationalspielern, während wir mit Borussia gerade erst am Aufblühen waren. Und ganz ehrlich: Die Inter-Weltstars wussten doch gar nicht, wo Mönchengladbach liegt. Das haben wir ihnen dann gezeigt. Wir sind sofort mit Vollgas raus und merkten ziemlich schnell, dass die Mailänder keinen Schimmer hatten, was da gerade abgeht. An den Gesichtern konnte man ablesen, dass sie sich fragten: Wo sind wir denn hier reingeraten? Das gehörte ja zu unseren Stärken, wir konnten uns an unserem eigenen Spiel berauschen und waren dann nicht mehr zu stoppen, von niemandem. Ein Tor schöner als das andere. An diesem Abend hätten wir jede Mannschaft der Welt geschlagen.

Wie stellte sich die Situation nach dem Abpfiff dar?

Es herrschte eher gedämpfte Freude über diesen grandiosen Sieg, weil sich wohl jeder fragte, wie die UEFA reagieren würde.

Warum konnte das Team im Rück- und im Wiederholungsspiel nicht an die 7:1-Leistung anknüpfen?

In Mailand lief es gar nicht so schlecht - bis wir in dieser endlos langen Nachspielzeit das 2:4 kassierten. Zwei Tore gegen Inters Weltklassemannschaft aufzuholen, die nur das eigene Tor dicht machen muss, bedeutete eine Herkulesaufgabe. Als in Berlin Klaus-Dieter Sieloff in der ersten Hälfte noch den Elfer verschoss, ging die Überzeugung allmählich verloren, dass wir die Sache drehen können.

Meine Güte, was wurde in San Siro hingelangt.

Rainer Bonhof

In den beiden Spielen nach dem 7:1 ging es mächtig zur Sache.

Schon in San Siro hieß es: Jeder gegen jeden! Meine Güte, was wurde da hingelangt. In Mailand, das hatte wenig mit Fußball zu tun.

Rainer Bonhof jubelt beim 7:1 gegen Inter. Vergeblich.

Rainer Bonhof jubelt beim 7:1 gegen Inter. Vergeblich. imago images/Horstmüller

Und steigerte sich nochmals in Berlin, als wieder Boninsegna eine Hauptrolle spielte.

In Berlin sind wir nach der Wut über die Annullierung und dem Ärger über das 2:4 mit pochender Halsschlagader eingelaufen. Und dann kam es zu diesem folgenschweren Zweikampf zwischen Boninsegna und Luggi Müller, in dem sich Luggi das Bein brach. Danach war Fußball endgültig Nebensache, das Motto auf dem Platz lautete nur noch: Du oder ich.

Das 7:1 wurde zwar annulliert, doch wie der Pfostenbruch gegen Werder, ebenfalls 1971, trug der Büchsenwurf dazu bei, dass rund um die Borussia und den Bökelberg ein Mythos entstand.

Entscheidend ist aus meiner Sicht: Nach dem 7:1 kannte Mönchengladbach, die Stadt mit diesem unaussprechlichen Namen, die ganze Welt. Und natürlich auch die exzellente Borussen-Mannschaft, die später noch einige fußballerische Glanzlichter gesetzt hat, auch auf internationaler Ebene. Europa war ab diesem Moment gewarnt, dass dieses kleine niederrheinische Dorf guten Fußball spielen kann. Das Inter-Spiel bedeutete in vielerlei Hinsicht einen Startschuss.

Vorige Saison traf die Borussia in der Champions League wieder auf Inter. Gab es zu diesem Anlass Kontakt zu früheren Inter-Spielern?

Bei der Übergabe der Gast-Geschenke an die Vertreter von Inter Mailand erwähnte ich beiläufig, dass ich 1971 selbst auf dem Platz stand. Das wurde von den Offiziellen aber höflich ignoriert - sie werden wissen, warum. (lacht)

Interview: Jan Lustig

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