2. Bundesliga

Braunschweig vs. H96 - Bicici: Drama um den Derby-Helden

Ex-Mitspieler Martin Groth spricht über seinen Freund

Bicici: Drama um den Derby-Helden

Hakan Bicici im Trikot von Hannover 96.

Hakan Bicici im Trikot von Hannover 96. imago sportfotodienst

Im Normalfall wäre der kommende Sonntag ein besonderer Tag für Hakan Bicici. Einer, den er sich rot im Kalender anstreichen würde. Eintracht Braunschweig empfängt Hannover 96 im Niedersachsen-Derby. Ein Duell, das der Startschuss für seine Profi-Karriere war und er mehrfach geprägt hat. Doch im Leben des 52 Jahre alten Deutsch-Türken ist nichts mehr normal, seit er am 26. November 2012 einen Autounfall hatte und dabei schwere Kopfverletzungen, innere Blutungen sowie Bein- und Rippenbrüche erlitt. Der einstige Mittelfeld-Regisseur mit dem wallenden schwarzen Haar und den fast aufreizend eleganten Bewegungen ist seit rund zehn Jahren im Wachkoma. Und keiner weiß genau, was er wirklich noch von seiner Umgebung mitbekommt.

Bicici wohnt bei seiner Mutter Fatma in einer barrierefreien Wohnung im Hannoveraner Stadtteil Bothfeld. Vor allem sie und seine Tante Hülya Häseler kümmern sich neben dem Pflegedienst um ihn, registrieren hoffnungsfroh jede Regung, seine Blicke. "Er ist warm und sein Herz schlägt", sagt seine Tante, die bemüht ist, dass Bicici nicht in Vergessenheit gerät, und auf Spenden hofft, damit ihr Neffe Therapien machen kann, die seine Lebensqualität erhöhen. Sie waren in der Slowakei, bei einer Delfintherapie in der Türkei, doch die Erfolge sind zumeist nur kurzfristig. Die Krankenkasse kommt lediglich für den Lebenserhalt auf, also für Physio- und Ergotherapie, Logopädie, viermal täglich kommt eine Pflegekraft, die ihn umlagert, die Sonden wechselt.

Martin Groth ist wie Bicici gebürtiger Hannoveraner, hat mit ihm schon in der A-Jugend von 96 zusammengespielt. Mit Frank Obermeyer, dem Teamchef der 96-Traditionself, hält der einstige Kapitän des Hamburger SV Kontakt - und besucht Bicici, obwohl das zunächst durchaus Überwindung gekostet hat. Groth sagt: "Es war schwer, Hakan so zu sehen, und tat weh. Er war ein total lustiger, fröhlicher Typ. Einer, der gut für jede Mannschaft war. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Kabine." Sie kommen zumindest einmal im Jahr, meist rund um Bicicis Geburtstag im August. "Zu Beginn hat man sich gefragt, wie man sich richtig verhält, was passiert? Er sieht mich an, aber keiner weiß, was er am Ende wirklich wahrnimmt. Ich spreche zu ihm, halte seine Hand. Aber manchmal schläft er auch." Dabei war Bicici überaus unterhaltsam, gehörte zum Typus Profi, der offen seine Meinung äußerte. Er könnte so viel erzählen. Gerade auch über das Derby.

Meine Spielweise war es, das direkte Duell zu suchen. Dass einige das als arrogant bezeichneten, finde ich schade.

Hakan Bicici

Es war ein warmer Sommerabend im Juli 1989, als Bicici im Alter von 18 Jahren ein denkwürdiges Debüt erlebte. Im Eintracht-Stadion. 96 war Bundesliga-Absteiger, lag zur Pause 0:1 hinten und brauchte Impulse. Trainer Slobodan Cendic wechselte ihn ein - und wieder aus, weil der kleine Techniker ihm zu ballverliebt agierte. Auch das war Bicici. "Meine Spielweise war es, das direkte Duell zu suchen, um dadurch Räume zu öffnen, Überzahlsituationen zu schaffen. Dass einige das als arrogant bezeichneten, finde ich schade", hat er mal gesagt.

"Hakan ist immer schnell wieder aufgestanden"

Groths Erinnerungen an diesen Abend sind noch lebendig. Vor allem auch an den Umgang des damaligen Debütanten mit der vernichtenden Trainer-Maßnahme. "Ich weiß noch genau, wie Cendic wild mit den Armen gerudert und seinen Namen gerufen hat, dann hat er Richtung Tribüne gezeigt, um anzuzeigen, dass Hakan auf der anderen Seite des Spielfeldes rausgehen sollte. Am Anfang war er natürlich total geknickt, aber Hakan war kein Typ, den solche Sachen zu Boden gerissen haben. Er hat relativ schnell selbst über die Episode lachen können. Und er konnte die Armbewegungen von Cendic herrlich nachmachen." Dann macht Groth eine kurze Pause. Weil ihm die Bedeutung seines folgenden Satzes in diesem Moment scheinbar selbst klar wird. "Hakan ist immer schnell wieder aufgestanden." Bis zum 26. November 2012.

Zwischen 96 und Eintracht herrscht regelrechter Hass. Ich finde es schlimm, aber das wird sich in der Region nicht mehr ändern.

Hakan Bicici

Bicici erholte sich tatsächlich gut von dem bitteren Einstand, machte für seine große Liebe insgesamt 118 Spiele, 82 davon in der 2. Liga, dazu 1992 zwei Europapokalpartien. Seinen größten Derby-Moment aber erlebte er auf der "falschen Seite". 1996 wechselte der Spielmacher von TuS Celle für ein Jahr nach Braunschweig, 96 war gerade abgestiegen, aus der 2. Liga in die Regionalliga Nord, und es war wieder ein warmer Sommer-Freitag: Bicici, selbst 1,67 Meter klein, schraubte sich bei einer Rechtsflanke in die Luft, köpfte mustergültig gegen seine Hannoveraner ein und stand wenige Augenblicke später in Siegerpose vor der Eintracht-Kurve, die am Ende einen 3:2-Triumph feierte. Eine Gefühlsexplosion auf beiden Seiten. Prägnant war: Die 96-Fans nahmen ihm seinen "Seitensprung" kaum übel. Und die Eintracht-Fans liebten ihn nicht, respektierten und schätzten ihn aber als Fußballer. Über die Rivalität zwischen den beiden Klubs hat er damals gesagt: "Zwischen 96 und Eintracht herrscht regelrechter Hass. Ich finde es schlimm, aber das wird sich in der Region nicht mehr ändern, dazu ist es zu spät."

Hakan Bicici

Hakan Bicici (Mitte) im Dress von Eintracht Braunschweig gegen Hannover. imago sportfotodienst

Zwischen Unfall und künstlichem Koma vergingen zwölf Tage

Von Braunschweig ging er nach einem Jahr zurück zu den Roten, und so denkwürdig seine Karriere in "seinem" Verein begann, so glanzvoll endete sie 1998 mit dem Wiederaufstieg in die 2. Liga im Relegations-Rückspiel gegen Tennis Borussia Berlin. Als die aktive Laufbahn vorbei war, jobbte er in einem Wettbüro, in der Fußballschule von 96 - und wollte eine Spielerberater-Agentur gründen. Dann kommt alles anders: Im November 2012 ist er bei seinem alten Freund Fabian Ernst, zu diesem Zeitpunkt Profi bei Kasimpasa Istanbul. Von ihm leiht er sich den Wagen, mit dem in der Nähe von Adana, nahe der syrischen Grenze, der tragische Unfall passiert, der alles verändert. Bicici kommt mit dem VW von der Straße ab, stürzt in den Abgrund auf ein trockenes Kanalbett. Zwölf lange Tage vergehen, in denen er nicht in ein künstliches Koma versetzt wird. Erst als seine Familie das Geld für die Überführung zusammen hat und die Professoren der Medizinischen Hochschule Hannover bereit sind für das Risiko, wird Bicici aus der Türkei ausgeflogen, in der Heimat in ein künstliches Koma versetzt. Die Maßnahme kommt zu spät, um ihn ins richtige Leben zurückzuholen.

Hakan Bicici liegt im Wachkoma, muss versorgt werden.

Hakan Bicici liegt im Wachkoma, muss versorgt werden. picture alliance/dpa

Groth erinnert sich an "eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Die Nachricht war ein totaler Schock, es hat sich unvorstellbar angefühlt". Zumal der Kontakt zwischen den beiden A-Jugend-Kumpels in dieser Zeit fast intensiver denn je war. "Wir haben sehr viel in der 96-Traditionsmannschaft gespielt, und es hört sich vielleicht komisch an: Aber ich habe da gemerkt, wie sehr ich den Typen Hakan als Mitspieler eigentlich vermisst habe." Jetzt besucht er den ehemaligen Mitspieler zwar noch, vermisst aber wieder den "Typen Hakan".

"Ich wünsche mir, dass Hakan niemals vergessen wird"

Seine Familie sagt, er reagiere vor allem dann stark, wenn seine Tochter zu Besuch ist. Sie war zehn, als ihr Vater verunglückte. Manchmal bringen sie ihn im Rollstuhl zum Fußball an naheliegende Sportplätze, auch zu 96. "Im Stadion", sagt seine Tante, "zeigt er starke Reaktionen." Groth erzählt von einem Video, das ihm Fatma Bicici mal auf dem Handy gezeigt habe. Auf diesem habe sie ihn gefragt, wo seine Nase sei, und er habe sich tatsächlich dorthin gefasst. Der heute 53-jährige Jugendkumpel hat derartige Interaktionen mit Bicici noch nicht wieder erlebt und sagt: "Es ist ein Scheiß-Gefühl." Er findet es "bewegend, was seine Familie für ihn auf die Beine stellt", und erzählt, dass er im Freundes- und Bekanntenkreis oft gefragt werde, "wie es Hakan geht". Dass er noch oft nach ihm gefragt werde, sagt Groth, fühle sich gut an. "Hakan war in Hannover in den späten 80er und 90er Jahren schon eine große Nummer, und es ist schön, dass immer noch viele an ihn denken." Dann macht er wieder eine kurze Pause. "Ich wünsche mir, dass Hakan niemals vergessen wird."

Sebastian Wolff