Offensives Auftreten der U23
Grundsätzlich steht der HSV im 4-4-2-System – aber keine andere Mannschaft spielt es so konsequent offensiv. Die Akteure sind absolut fit, können auch in der 85. Minute zur Not noch einen Sprint nach hinten gewinnen. So agiert der Hamburger SV bei Ballbesitz fast mit einer Zweierkette in der Abwehr, lediglich Kapitän Sven Mende holt sich als Mittelfeldspieler mal einen Ball hinten ab. Ihm fällt die Rolle des Taktgebers zu, der zweite entscheidende Faktor ist die hängende Spitze, meistens Tolcay Cigerci. Auf dieser Position darf kreativ fast alles gemacht und riskiert werden. Fast wie in den 70er-Jahren Günter Netzer ist Cigerci von Deckungsaufgaben weitgehend befreit, kann um die eine feste Spitze herumspielen und so immer für neue Überraschungseffekte sorgen.
Klub setzt auf Erfahrung
Darüber hinaus stimmt die individuelle Qualität, was allerdings bei vielen zweiten Mannschaften von Bundesligisten der Fall ist. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Erfahrung. Der Klub, allen voran der als Nachfolger von Rodolfo Cardoso verpflichtete Trainer Joe Zinnbauer, holte hauptsächlich Spieler, die nicht direkt aus der A-Jugend kamen. Sieben Zugänge aus dem 1993er- und 94er-Jahrgang bilden das Gerüst des Teams – und dieses eine Jahr Herren-Erfahrung ist Gold wert. Die Zweikampfführung und die Spielvorbereitung ist eine ganz andere als im Jugendbereich, zudem waren fast alle Nachwuchskicker bei ihren Ausbildungsklubs schon mal gescheitert beziehungsweise chancenlos und wissen, dass sich nun ihr vielleicht letztes Türchen in Richtung Profifußball öffnen kann.
Ahmet Arslan aktuell Toptorjäger
„Die Jungs wollen alle in die Bundesliga und sind Konkurrenten untereinander. Aber sie können nur als Team funktionieren“, formulierte Zinnbauer sein Rezept. Die Siegesschlachtrufe und Kabinenpartys sind inzwischen schon legendär, die Gemeinschaft stimmt. "Wir machen auch in der Freizeit viel zusammen, sind menschlich alle auf einer Wellenlänge“, erklärt Ahmet Arslan, der sportlich einen etwas anderen Weg gegangen ist: Er kämpfte sich durch kleinere Vereine im Norden, wechselte als B-Jugendlicher zum VfB Lübeck und schoss in der Vorsaison im ersten Herrenjahr 18 Tore in der Schleswig-Holstein-Liga. Inzwischen führt er als Mittelfeldspieler mit zwölf Treffern die Torschützenliste der Regionalliga an.
Wir machen auch in der Freizeit viel zusammen, sind menschlich auf einer Wellenlänge.
Ahmet Arslan über den Zusammenhalt in der Mannschaft.
Frage der Nachhaltigkeit
Nur: Wie nachhaltig ist das alles für den HSV? Da die Mannschaft aus allen Himmelsrichtungen zusammengeholt wurde, kann sie sich schnell auch wieder zerstreuen. Die Talentspäher und Berater bevölkern inzwischen die Tribüne an der Hamburger Hagenbeckstraße. Es fehlen noch die Strukturen, um auf Dauer eine Durchlässigkeit von der B-Jugend bis zur Bundesliga zu garantieren, wie sie eigentlich die DFB-Talentförderung vorsieht. Daran arbeitet besonders der neue Sportdirektor Bernhard Peters – aber die Früchte werden wohl erst die heute 15- oder 16-Jährigen ernten. Dieser 94er-Jahrgang wird dann vielleicht einmal die überfällige Basis gelegt haben, denn immerhin gab der Klub nun die Garantie, im Zweifelsfall auch die 3. Liga in Angriff nehmen zu wollen.
Harald Borchardt