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Spurensuche im Wald: Wie Frankreich so viele Superstars ausbildet

Was die französische Nachwuchsförderung erfolgreich macht

Spurensuche im Wald: Wie Frankreich so viele Superstars ausbildet

Drei Weltklassespieler - und nicht die einzigen im französischen Kader: Karim Benzema, Kylian Mbappé und N'golo Kanté streben den EM-Titel an.

Drei Weltklassespieler - und nicht die einzigen im französischen Kader: Karim Benzema, Kylian Mbappé und N'golo Kanté streben den EM-Titel an. Getty Images (3)

Etwa 900 Einwohner zählt Clairefontaine-en-Yvelines. Mitten im Forêt Domaniale de Rambouillet, einem Waldstück rund 50 Kilometer südwestlich von Paris, liegt der kleine Ort mit der großen Bedeutung. Die meisten Häuser liegen an der Hauptstraße, der letzte Bus hält um halb neun. Thierry Henry und Kylian Mbappé haben hier einen beträchtlichen Teil ihrer Teenagerzeit verbracht.

Hier, mitten im Wald, bereitet sich die A-Nationalmannschaft häufig auf Länderspiele vor, hier hat das Team auch während der Europameisterschaft ihr Quartier aufgeschlagen - und vielen ist der Ort schon vor ihrer ersten Nominierung bestens bekannt. 1988 hat der französische Fußballverband in Clairefontaine das "Centre National du Football" (CNF) installiert, ein Leistungszentrum, für das er europaweit beneidet wird. Was der DFB mit seiner Ende 2021 öffnenden Akademie plant, gibt es in Frankreich schon seit über 30 Jahren.

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Ohne Clairefontaine, so sagen viele in Frankreich, hätte es den WM-Titel 1998 mit Sicherheit nicht gegeben. Und den 2018 vielleicht auch nicht.

2018 hätte Frankreich zwei Teams zur WM schicken können

Das Turnier vor drei Jahren hat die Früchte der Nachwuchsarbeit des französischen Fußballverbands in beeindruckender Weise zur Schau gestellt. Manifestiert aber nicht nur durch die Dominanz der Equipe Tricolore. Fast ebenso bemerkenswert mit Blick auf das große Ganze: Bei der Endrunde in Russland gab es insgesamt mehr in Frankreich geborene Spieler, die nicht Weltmeister wurden.

Einer Untersuchung des australischen Wissenschaftlers Darko Dukic zufolge wurden 52 WM-Teilnehmer von 2018 in Frankreich geboren und größtenteils dort ausgebildet. Nur 22 von ihnen standen im französischen Kader, 30 liefen für andere Nationalmannschaften auf. Frankreich hätte, könnte man sagen, gleich zwei Teams zum weltgrößten Nationenturnier schicken können. Zum Vergleich: Auf Platz zwei dieses "Rankings" folgt Brasilien mit 28 Spielern (23+5).

Ein riesiger Pool an Top-Spielern

Noch beeindruckender wird diese Statistik, wenn man bedenkt, dass Nationalcoach Didier Deschamps damals Spieler wie Karim Benzema, Alexandre Lacazette, Anthony Martial oder Kingsley Coman gar nicht nominierte. Und dass in Eden Hazard ein Akteur den "Silbernen Ball" für den zweitbesten Spieler des Turniers bekam, der zwar nicht in Frankreich geboren, aber ab dem 14. Lebensjahr in Lille ausgebildet wurde.

Karim Benzema

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Zum Start der EM-Endrunde galt der amtierende Weltmeister wieder als Top-Favorit, die Kaderliste las sich wie ein All-Star-Team des europäischen Vereinsfußballs: Varane, Pogba, Kanté, Coman, Dembelé, Griezmann, Mbappé - und auch wieder Benzema. Für Leipzigs Dayot Upamecano, Milans Theo Hernandez oder Rennes' Mega-Talent Eduardo Camavinga war schlichtweg kein Platz im 26er-Kader, hochveranlagte Bundesliga-Profis wie Ibrahima Konaté, Christopher Nkunku oder Moussa Diaby haben bis jetzt noch kein einziges A-Länderspiel absolviert. Der Pool an Top-Spielern ist riesig.

Zurück nach Clairefontaine. Jedes Jahr im Oktober startet das dort ansässige Institut National du Football (INF), ein Teil des CNF, einen Rekrutierungsprozess. Er dauert bis April an. Rund 2000 talentierte Nachwuchsspieler im Alter von 12 bis 13 Jahren aus dem Großraum Paris bewerben sich auf einen Platz in der Akademie, maximal 25 werden pro Jahrgang ausgewählt, bleiben dann zwei Jahre dort. In diesem Alter sollen Jugendliche in ihrer motorischen Entwicklung am schnellsten dazulernen. "Préformation" wird dieser Prozess genannt.

Sogar das Alter der Knochen wird bestimmt

In der letzten Stufe des Auswahlprozesses werden sogar Röntgenaufnahmen der Handgelenke der "Bewerber" angefertigt, um das "Alter der Knochen" zu bestimmen. So soll das physische Potenzial der Jugendspieler erfasst werden, damit Spätentwickler nicht durchs Raster fallen. Zufall ist in Clairefontaine ein Fremdwort.

Centre national du football in Clairefontaine

Talentschmiede mitten im Wald: Die Abgeschiedenheit des Centre national du Football in Clairefontaine leistet ihren Beitrag zum Erfolg der französischen Nachwuchsförderung. Getty Images

Beim französischen Verband weiß man nicht nur genau, wie die hochbegabten Spieler zu fördern sind. Man weiß auch, wo man sie findet. Es scheint makaber, doch der große Erfolg des französischen Fußballs hängt zumindest teilweise auch mit dem Misserfolg der französischen Sozialpolitik zusammen.

"Hier bekommen wir die talentierten Spieler her"

Tom Farrey, Geschäftsführer des "Sports & Society Program" beim renommierten Aspen Institute, berichtet in einem 2018 veröffentlichten Report von einem Treffen mit André Merelle, dem Direktor für Nachwuchsförderung des französischen Fußballverbands. Merelle habe in seinem Büro in Clairefontaine einen Punkt auf einen Notizblock gemalt und darum einen Kreis gezogen. Der Punkt stehe für Paris, der Kreis für die Vororte, die sogenannten Banlieues. "Hier", soll Merelle ihm beim Schraffieren des Kreises gesagt haben, "bekommen wir die talentierten Spieler her." Dort, in den Hochhaussiedlungen um Paris, ist der soziale Unfrieden groß, die Perspektive gerade für Einwandererkinder schlecht.

Eine WM unter Städten wäre ziemlich einseitig

"Es gibt dort nur Fußball", sagte Paul Pogba 2018 der "Financial Times". "Ob in der Schule oder in der Nachbarschaft, jeder spielt Fußball. Es hilft den Menschen im Viertel, nichts Dummes zu tun." Pogba muss es wissen, er stammt selbst aus der Banlieue von Paris. Wie Kylian Mbappé. Wie N'golo Kanté. Wie Thierry Henry. Auch wie Kingsley Coman, Moussa Diaby oder Riyad Mahrez, der für Algerien spielt. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Alleine elf der 26 Spieler aus dem aktuellen EM-Kader stammen aus der Metropolregion Paris.

Betrachtet man die letzten sechs Weltmeisterschaften, kamen der Untersuchung von Wissenschaftler Dukic zufolge sogar 60 Spieler gebürtig aus Paris - mit weitem Abstand die meisten. Wenn eine WM nicht unter Herkunftsländern, sondern unter Herkunftsstädten ausgespielt werden würde, sie wäre wohl ziemlich einseitig. Die Banlieues sind eine Triebfeder für Talente. Und so bitter die Gründe aus gesellschaftlicher Sicht sein mögen - der Verband weiß das genau.

Keine Smartphones für die Auserwählten

In Clairefontaine werden die "Auserwählten" von Montag bis Freitag nach der Schule von den besten Jugendtrainern des Landes gecoacht. Es fehlt an nichts. Am Wochenende geht es zu den Heimatklubs, nur für die Spiele. Die Abgeschiedenheit des Ortes weit weg von den Versuchungen der Großstadt trägt ihren Teil dazu bei, dass sich die Jugendlichen "vollkommen auf ihre Ziele konzentrieren können", wie der ehemalige INF-Leiter Jean-Claude Lafargue letztes Jahr in einem Verbands-Interview sagte. Smartphones? Werden morgens eingesackt und erst um 20 Uhr ausgegeben.

Die Liste der Top-Spieler mit Clairefontaine-Vergangenheit ist lang. Neben Henry und Mbappé waren etwa Nicolas Anelka, Blaise Matuidi oder Alphonse Areola hier, auch aktuelle Bundesliga-Profis wie Raphael Guerreiro, Jerome Roussillon, Marcus Thuram oder Nkunku durchliefen das Elite-Programm am INF. Dabei werden hier "nur" die besten Spieler aus dem Großraum Paris rekrutiert. Die Idee der Elitenförderung durch die "Préformation" wird aber landesweit eingesetzt. Über ganz Frankreich verteilt gibt es insgesamt 15 dieser Stützpunkte.

Die Eckpfeiler für die Ausbildung dort sind aber überall die gleichen: Tempo und Technik. "Die Geschwindigkeit mit und ohne Ball ist sehr wichtig für uns", erklärt Lafargue. Kevin Volland dürfte ihm zustimmen. Als der deutsche EM-Teilnehmer, in der Bundesliga wahrlich nicht als langsamer Spieler bekannt, im vergangenen Jahr in die Ligue 1 wechselte, habe er anfangs "gepumpt wie ein Maikäfer" ob des hohen Tempos. "Es gibt sehr viele schnelle Spieler auf dem Platz, viele Eins-gegen-eins-Situationen", erklärte Volland damals im Podcast "kicker meets DAZN". "Aus Deutschland ist man es eher gewohnt, mannschaftstaktisch zu verschieben."

Warum kann die Ligue 1 nicht profitieren?

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt: Wenn diese Nation doch einen schier unerschöpflichen Pool an Top-Talenten zur Verfügung hat, warum hinkt die Ligue 1 dann den anderen "großen" Ligen ein Stück hinterher? Warum spielten nur sechs der 26 Nominierten des EM-Kaders in der heimischen Liga? Warum verlassen die Comans, die Dembelés, die Upamecanos Frankreich noch im Teenager-Alter?

Lucas Hernandez, Benjamin Pavard, Corentin Tolisso, Michael Cuisance, Kingsley Coman

French Connection: Der FC Bayern gewann die Champions League 2020 mit gleich fünf französischen Spielern im Kader. imago images

Kurz könnte man antworten: Weil es nicht anders geht.

Sicher könnte die Ligue 1 zu den restlichen großen Ligen aufschließen. Rein theoretisch. Denn vielen Klubs bleibt schlicht keine andere Wahl, als ihre vielen Top-Spieler ins Ausland zu verkaufen. Der damalige Champions-League-Halbfinalist Olympique Lyon etwa gab Stammspieler Lucas Tousart nach Berlin ab, weil er auf das Geld angewiesen war.

Finanziell hinken die Vereine - mit Ausnahme der fremdfinanzierten Klubs aus Paris und Monaco - den Klubs der anderen europäischen Top-Ligen teilweise weit hinterher. Mit Lille OSC wurde in diesem Jahr ein Verein Meister, der trotz regelmäßiger Teilnahme an europäischen Wettbewerben im vergangenen Winter nur knapp einer Insolvenz entgangen war.

Dass man sie holt, zeigt die Qualität unserer Ausbildung und die Fähigkeit unserer Spieler.

Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps über die Deutschland-Legionäre

Die Zuschauereinnahmen der Vereine sind in Frankreich bei weitem nicht so hoch wie anderswo, gerade im Süden des Landes genießt der Fußball aufgrund der hohen Popularität des Rugby-Sports nicht die absolute Monopolstellung bei den Zuschauern wie in England oder Deutschland. Dass die Ligue-1-Saison 2019/20 wegen der Pandemie als einzige Top-5-Liga vorzeitig abgebrochen wurde und dass ein TV-Deal im Anschluss platzte, dürfte die Situation für die Zukunft nicht gerade rosiger gestalten. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation vieler Klubs wird die Ligue 1 ab 2023 auf 18 Klubs verkleinert.

Die vielen Talente sind in dieser Situation das Kapital der Klubs, der Weiterverkauf nach Deutschland, Spanien oder England die Existenzgrundlage. "Dass man sie holt, zeigt die Qualität unserer Ausbildung und die Fähigkeit unserer Spieler", sagte Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps im Mai im kicker-Interview. Es zeigt aber auch das hohe Investment, das in Frankreich in die Jugendarbeit fließt - verglichen beispielsweise mit Deutschland.

"Wir haben hier das Geschäftsmodell, dass du einen im Ausland top ausgebildeten jungen Spieler kaufen kannst und ihn dann wieder teuer verkaufst", sagte U-21-Erfolgstrainer Stefan Kuntz Ende 2020 bei "kicker meets DAZN". Und "im Ausland" hätte er genauso gut mit "in Frankreich" ersetzen können ob der Fülle an jungen französischen Spielern in der Bundesliga.

Gleich zwölf Franzosen im Alter von 21 oder jünger, rechnete Kuntz vor, würden etwa in der Marktwert-Rangliste der Innenverteidiger bei "transfermarkt.de" vor dem teuersten deutschen Spieler dieser Altersklasse landen. Das sei, so Kuntz, bei aller berechtigter Kritik an diesen konstruierten Marktwerten doch irgendwo aussagekräftig - zumal fünf der zwölf Franzosen in der Bundesliga unter Vertrag stehen.

Der zu diesem Zeitpunkt von Kuntz angesprochene teuerste deutsche Spieler dieser Rangliste war übrigens Bochums Armel Bella Kotchap. Er wurde geboren in Paris.

(Dieser Text erschien erstmals am 15. Juni 2021)

Michael Bächle