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OSC Lille: Was macht den Tabellenführer der Ligue 1 so außergewöhnlich?

Was macht den Tabellenführer so außergewöhnlich?

Wie Lille die Ligue 1 aufmischt - und jetzt doch alles anders machen will

Ein Mann und seine Transfers: Lilles ehemaliger Sportdirektor Luis Campos (Mitte) mit Renato Sanches (li.) und Burak Yilmaz (re.).

Ein Mann und seine Transfers: Lilles ehemaliger Sportdirektor Luis Campos (Mitte) mit Renato Sanches (li.) und Burak Yilmaz (re.). imago images (3)

Renato Sanches im Sturmzentrum? Wenn es läuft, dann funktioniert sogar das. 20 Minuten nach Einwechslung lief der Portugiese, der beim FC Bayern nie so wirklich Fuß gefasst hatte, am vergangenen Wochenende in Nantes im Angriff auf, legte seinem Sturmpartner Jonathan David den Treffer zum 2:0-Endstand auf. Der sechste Liga-Sieg in Folge, Tabellenführung verteidigt. Der OSC Lille ist die Mannschaft der Stunde in der Ligue 1 und hat reelle Chancen auf den Titel.

Zu verdanken hat der Verein das zu einem beträchtlichen Teil einem Mann, der gar nicht mehr da ist.

Spielersteckbrief David
David

David Jonathan

Spielersteckbrief B. Yilmaz
B. Yilmaz

Yilmaz Burak

Spielersteckbrief José Fonte
José Fonte

da Rocha Fonte José Miguel

Spielersteckbrief Renato Sanches
Renato Sanches

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Spielersteckbrief Botman
Botman

Botman Sven

Lille OSC - Die letzten Spiele
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12

Luis Campos: Der Architekt hinter dem Lille-Erfolg

Den "meist unterschätzten Sportdirektor der Welt" nannte das Fußball-Analyse-Portal "Breaking The Lines" Luis Campos im Jahr 2019. Betrachtet man seinen Werdegang der letzten Jahre, scheint das gar nicht mal so hoch gegriffen. Der Portugiese, ein Vertrauter und ehemaliger Scout José Mourinhos, hat während seiner Zeit bei der AS Monaco (2013-2016) unter anderem James Rodriguez, Falcao, Fabinho, Anthony Martial oder Bernardo Silva ins Fürstentum geholt.

Am anderen Ende von Frankreich setzte er ab 2017 gemeinsam mit Trainer Christophe Galtier sein Erfolgsrezept fort. Junge, entwicklungsfähige Spieler ein- und dann mit hohem Gewinn an Topklubs verkaufen. So lief das mit Nicolas Pepé, der für zehn Millionen aus Angers geholt und für die achtfache Summe zum FC Arsenal transferiert wurde. So lief das mit Victor Osimhen, der einst in Wolfsburg nicht glücklich wurde und über den Umweg Charleroi nach Lille kam, ehe er im vergangenen Sommer für 70 Millionen Euro nach Neapel wechselte. So lief das mit Rafael Leao (jetzt Milan), Gabriel (jetzt Arsenal) und Thiago Mendes (jetzt Lyon).

Lille lehnte wohl 70-Millionen-Angebot für Renato Sanches ab

Und so hätte es im vergangenen Sommer auch mit Renato Sanches laufen können, den die Bayern nach seiner erfolglosen Zeit 2019 mit Verlust nach Lille abgegeben hatten. Nach einem Jahr, so der damalige Klubeigentümer Gerard Lopez gegenüber der "L'Equipe", schwirrten Angebote in Höhe von 70 Millionen Euro für den Portugiesen ins Haus.

Umso bemerkenswerter erscheint es da, dass der Verein trotz der vielen namhaften Abgänge die Ligue 1 aufmischt, nach immerhin schon 24 Spieltagen vor den beiden Big Playern aus Lyon und Paris steht und die AC Milan in der Europa League mit 3:0 aus dem San Siro schoss. Das liegt einerseits an den jungen Nachverpflichtungen wie Stürmer Jonathan David (KAA Gent) oder Innenverteidiger Sven Botman (Ajax), für die Teile der Osimhen-Millionen reinvestiert wurden. Vor allem aber auch an zwei Akteuren, die sich eigentlich schon im Spätherbst ihrer Karriere befinden.

Fonte und Yilmaz erleben den x-ten Frühling

Da wäre einerseits Innenverteidiger José Fonte, einer der vier von Portugiese Campos verpflichteten Portugiesen im Kader. Fonte stand im EM-Finale 2016 über 120 Minuten auf dem Platz, wechselte 2018 von West Ham United nach China - und die Karriere schien vorbei. Doch Campos überzeugte den Abwehrmann zur Rückkehr nach Lille. Dort ist er nun mit 37 Jahren Kapitän, Führungsspieler, Anker des Erfolgs. Die von ihm angeführte Defensive ist das Prunkstück des Teams, zuletzt blieb Lille in der Liga viermal in Folge ohne Gegentor.

Ein bisschen ähnlich liest sich die Biografie von Burak Yilmaz. Über Jahre hinweg traf der Stürmer in der SüperLig nach Belieben, ging dann nach China, kehrte zurück in die Türkei - und landete dann im Sommer im stolzen Alter von 35 Jahren plötzlich ablösefrei in Lille. Wie auch Fonte eigentlich kein typischer Campos-Transfer - aber irgendwie dann doch. Denn: Er schlug ein. Neun Saisontore erzielte der Angreifer, bis ihn Anfang Januar eine Wadenverletzung außer Gefecht setzte. Die Sturmposition im "Team der Hinrunde" der Ligue 1, das die "L'Equipe" im Januar wählte, besetzte nicht etwa Neymar, Mbappé oder Ben Yedder, sondern - genau - Burak Yilmaz.

In Rechtsverteidiger Zeki Celik findet sich in der "L'Equipe"-Elf übrigens noch ein zweiter Türke und der dritte, Angreifer Yusuf Yazici, erzielte beim 3:0 über Milan alle drei Treffer. Es sind diese Märkte, in denen Campos in den letzten Jahren enorm viel Qualität gefunden hat: Portugal, Türkei, Belgien. Für die Spieler ist die Ligue 1 oft der perfekte Zwischenschritt vor dem Wechsel in eine höhere Liga - und Campos hat genau das erkannt.

Umsturz im Dezember - "Die Insolvenz hat gedroht"

Nachdem er sich 2016 aus Monaco verabschiedet hatte, wurde das größtenteils von ihm zusammengestellte Team im Jahr darauf Meister und brach die PSG-Dominanz in der Liga. Nun könnte sich Geschichte wiederholen. Denn seit Dezember ist Campos nicht mehr in Lille angestellt.

Christophe Galtier, Luis Campos

Die Männer hinter dem Erfolg: Trainer Christophe Galtier (li.) und Ex-Sportdirektor Luis Campos (re.) gehen aber seit Dezember getrennte Wege. imago images

Während die Mannschaft ihre erfolgreichste Phase seit Jahren auf den Platz bringt, hat es hinter den Kulissen den kompletten Umsturz gegeben. Bereits seit längerer Zeit ist der Klub finanziell angeschlagen, im Dezember verkaufte Eigentümer Lopez den Verein an den Investmendfonds Merlyn Partners. Ohne den Deal, stellte der neu eingesetzte Präsident Olivier Letang bei seinem Antritt klar, "hätte im Januar eine Insolvenz gedroht" - und damit vermutlich auch der Ausverkauf.

Geht Campos jetzt in die Premier League?

Letang ist nun der neue starke Mann in Lille, Campos hat sich gemeinsam mit Lopez, der ihn einst zum LOSC holte, verabschiedet. Er soll bei den Tottenham Hotspur, Manchester United und Olympique Marseille hoch im Kurs stehen.

Und Lille? Will nun von dem Weg abrücken, der es an die Spitze der Liga gebracht hat. "Spieler tauschen" nennt Letang die Philosophie, die Campos mit den vielen Käufen und teuren Verkäufen gefahren hat. "Von diesem sehr präsenten Modell wollen wir weg", stellte Letang in Aussicht, ein "eher klassischer Weg" solle eingeschlagen werden.

Was das genau heißt, ließ er offen. Angesichts seiner vorherigen Station Stade Rennes, ein für seine Nachwuchsarbeit bekannter Klub, scheint die Schlagrichtung für viele Beobachter aber klar. Schließlich hat Lille aktuell nur einen Spieler aus der eigenen Jugend im Profikader - den dritten Torwart. Große Talente hat der Verein seit Campos' Amtsantritt nicht mehr selbst hervorgebracht, sie wurden von außen geholt.

Das war auch mal anders. Der Akademie des LOSC entspringen unter anderem Benjamin Pavard, Franck Ribery und Eden Hazard. Da will Lille nun wohl wieder hin. Aber zuvor gäbe es da ja noch etwas zu gewinnen.

Michael Bächle