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Schweers über die EM: "Es wird ein Ausbruch aus nicht mehr zeitgemäßen Strukturen"

Kolumne zum Frauenfußball

Schweers über die EM: "Es wird ein Ausbruch aus nicht mehr zeitgemäßen Strukturen"

England ist bereit für die EM.

England ist bereit für die EM. Getty Images

Liebe Fußballfans, in zwei Tagen ist es endlich soweit! Dann eröffnet England gegen Österreich die Europameisterschaft der Frauen auf der Insel.

Mit über 500.000 verkauften Tickets, folglich vielen ausverkauften Stadien und hoffentlich auch vielen spannenden Partien, kann diese Europameisterschaft das Turnier werden, das den Fußball nachhaltig verändert.

Welche Rolle kann unser deutsches Team von Martina Voss-Tecklenburg einnehmen? Was erwartet unsere Mannschaft in ihrer Gruppe? Wie ist die generelle Einordnung und die Vorfreude auf das Turnier zu bewerten? Einige Fragen, auf die ich in meiner ersten EM-Kolumne eingehen möchte. Im Laufe des Turniers bekommt ihr weitere Updates.

In diesen zehn Stadien wird bei der Frauen-EM gespielt

Es gibt viele starke Mannschaften: Frankreich, Norwegen, Spanien und natürlich auch die deutsche Mannschaft. Mein Favorit auf den Titel ist aber England. Sie sind im eigenen Land, bekommen starke Unterstützung der Fans und der gesamten Öffentlichkeit. Vielleicht vergleichbar mit der Situation unserer Mannschaft bei der WM 2011. Im Unterschied wirkt England aber auf mich viel gefestigter. Sie spielen tollen Fußball, haben starke Persönlichkeiten und sind breiter aufgestellt als wir damals bei unserer Heim-WM. Aus meiner Sicht sind sie deshalb in der Lage, den Heimvorteil für sich zu nutzen.

Der deutsche Kader

Nach einer gelungenen Generalprobe gegen die Schweiz (7:0) flog die Mannschaft mit einem guten Gefühl und sehr positiver Stimmung an Bord am Sonntag nach England. Die Bundestrainerin hat einen Kader mit Erfahrung, Spielwitz und jungen Wilden zusammengesetzt. Vor Beginn der beiden Lehrgänge gab es sehr unterschiedliche Leistungsstände, mit Dzsenifer Marozsan (Kreuzbandriss) und Melanie Leupolz (schwanger) stehen zwei Stützen nicht zur Verfügung. Dazu der Corona-Fall von Kapitänin Alexandra Popp - allesamt Herausforderungen, auf die Voss-Tecklenburg reagieren musste und reagiert hat.

Noch vor der Zusammenkunft des erweiterten Kaders hat die erfahrene Trainerin mit Merle Frohms, Kathrin Hendrich und Popp drei Spielerinnen in die erste Elf gesetzt. Ein Signal der Sicherheit, aber auch ein gewagtes Vorgehen, da es Spielerinnen auf den jeweiligen Positionen, die sich auf einen offenen Konkurrenzkampf gefreut haben, sicherlich nicht zwingend motiviert und der ganzen Gruppe somit auch ein Korsett gibt.

Das ist Deutschlands endgültiger EM-Kader

Hinter Frohms reiht sich Almuth Schult als ungewohnte Nummer 2 ein. Nach ihrer starken Saison war sie also schon vorab chancenlos. Ich hätte mir einen offeneren Konkurrenzkampf gewünscht. Aber - so wie oft bei deutschen Teams - auch eine Art Luxusproblem. Merle wird ihren Job sicherlich gut machen, Almuth ist mit ihrer Art jetzt umso wichtiger für das Team und die Stimmung. Sie ist ein Vorbild für viele Spielerinnen und hat immer etwas zu sagen. Ann-Kathrin Berger vom FC Chelsea macht das starke Torwart-Trio perfekt.

Neben der ebenfalls gesetzten Hendrich ist mit Marina Hegering eine sehr wichtige Stütze der Mannschaft rechtzeitig fit geworden. Bei der WM 2019 war sie angeschlagen und spielte, überzeugen konnte weder sie noch das ganze Team. Dass sie aber ein wichtiger Bestandteil im aktuellen deutschen Team ist, stellt Voss-Tecklenburg immer wieder heraus. Wenn sie fit ist, dann wird auch sie gesetzt sein und mit ihrer robusten Gangart dem Team versuchen zu helfen. Mit Giulia Gwinn und Felicitas Rauch auf den Außen wird die Viererkette aller Voraussicht nach komplettiert.

Der Konkurrenzkampf im Zentrum ist extrem groß

Im Mittelfeld tummeln sich die üblichen Verdächtigen. Spielstark, dominant und mit einer gewissen Lockerheit können sich die Fans auf eine breite Anzahl an Spielerinnen freuen. Ich gehe davon aus, dass Sara Däbritz und Lina Magull den "spielerischen Part" übernehmen, und Lena Oberdorf ihnen in der Zentrale mit ihrer Robustheit den Rücken freihalten wird.

Klara Bühl

In bestechender Form: Klara Bühl. IMAGO/Karina Hessland

Der Konkurrenzkampf im Zentrum ist extrem groß, daher sind Prognosen schwierig. Sowohl Sydney Lohmann, Linda Dallmann als auch Lena Lattwein sind starke Spielerinnen, die man auf dem Schirm haben muss und die alle in der ersten Elf stehen könnten. Auf den Flügeln werden Klara Bühl und Svenja Huth ihr Bestes geben und die Stürmerinnen mit guten Flanken bedienen oder selbst zum Abschluss kommen. Vor allem Klara hat im letzten Spiel gegen die Schweiz bewiesen, in welch bestechender Form sie ist. Dazu kommt mit Jule Brand ein weiteres "Mega-Talent".

Im Sturm läuft Poppi, wie bereits oben geschrieben, bei ihrer ersten Europameisterschaft als Kapitänin auf. Sie ist ein Leader, ein Typ, der vorangeht und auch mal ein Zeichen setzt. Auch neben dem Platz macht sie sich nicht so viele Gedanken und spricht unangenehme Dinge an. Wieviel Einsatzzeit am Ende auf dem Papier steht, wird man sehen. Mit der Torschützen-Königin Lea Schüller oder auch Tabea Waßmuth und Laura Freigang hat Voss-Tecklenburg die Qual der Wahl.

Sicher wird sie in ihrer Aufstellung variabel bleiben und es auch vom Gegner abhängig machen.

Ich finde, insgesamt eine gute Truppe. Wie ich höre, ist auch neben dem Platz die Stimmung locker und die Vorfreude steigt. Ob Deutschland die Stabilität wieder gefunden hat und sportlich wieder das zeigen kann, was wir Fans gewohnt waren, das kann aber wohl erst nach den ersten beiden Gruppenspielen gegen Dänemark und Spanien beantwortet werden.

Die "deutsche" Gruppe

In Gruppe B trifft Deutschland auf Dänemark, Spanien und Finnland - insgesamt keine leichte Gruppe für uns. Schon im ersten Spiel treffen die Mädels auf Dänemark. In der Vorbereitung zur EM gewannen die Däninnen gegen Brasilien (2:1) und verloren gegen Norwegen (1:2). Es wird ein interessantes Aufeinandertreffen am Freitagabend gegen die eher defensiv stehenden und im Mittelfeld-Pressing agierenden Däninnen. Mit der deutschen Offensivpower kann man die dänische Defensive aber sicher aushebeln. In unserer Defensive müssen wir sehr wach agieren und die Angriffe von Pernille Harder, Signe Bruun und Co. im Verbund unterbinden.

Deutschlands Vorrunden-Spiele

In Brentford trifft Deutschland dann am 12. Juli auf Spanien. Bei dem Kader der Spanierinnen mit Sicherheit die spielstärkste Truppe in Gruppe B, womöglich auch bei der ganzen EM. Viele Spielerinnen des FC Barcelona treffen sich auch in der Nationalmannschaft wieder. Allen voran Weltfußballerin Alexia Putellas. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt in Spaniens Spiel. Im letzten Vorbereitungsspiel konnten sie sich aber nicht gegen Italien durchsetzen (1:1), daher wird es spannend zu sehen sein, ob die Spanierinnen ihr Tiki-Taka-Spiel auf den Platz bringen.

Im letzten Spiel gegen Finnland (16. Juli) dürfen sich die Mädels wahrscheinlich keine Schwächen erlauben, aber bis dahin informiere ich euch in einer weiteren Kolumne.

Harder, Bronze und Co.: Die Stars der Frauen-EM

Der Ausblick

Ein Fußballfest in England erwartet uns alle. Eines, das es so womöglich noch nicht gegeben hat. Es wird ein Ausbruch aus diesen "alten", nicht mehr zeitgemäßen Strukturen. Es wird ein ganz neues und viel professionelleres Umfeld sein, viele (leider nicht alle) gute Stadien, starke TV-Produktionen, Vor- und Nachberichte - und das alles in ganz Europa. Ich hoffe hier besonders auch auf Deutschland, wir müssen uns weiter dem Frauenfußball öffnen.

Der DFB hat heute, mit dem richtigen Timing, das Strategie-Konzept "FF 27 - Fast Forward Frauenfußball" herausgegeben. Daran kann und muss der Verband sich messen lassen, am besten schon in den nächsten vier Wochen.

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Und das deutsche Team? Ich hoffe, dass unsere Mädels gut ins Turnier starten und wieder zeigen, dass mit Deutschland zu rechnen ist. Dass sich unser Charakter als Turniermannschaft wieder neu bildet. Es wird nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Mit einer gewissen Lockerheit und der Rückbesinnung auf eigene Stärken ist für die Mannschaft vieles möglich. (Noch) nicht den Titel, aber das Halbfinale traue ich ihnen zu! Jetzt müssen sie einfach losgelassen werden.

Verena Schweers

Verena Schweers hat in der Bundesliga für den SC Freiburg und die Top-Klubs VfL Wolfsburg und Bayern München gespielt. Unter anderem gewann sie je zweimal die Champions League und die deutsche Meisterschaft. Die Verteidigerin absolvierte zudem 47 Länderspiele für die DFB-Auswahl. Im Sommer 2020 beendete sie ihre aktive Laufbahn.