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Neymar: Ein verschleudertes Phänomen

Vom Nationalheld zur tragischen Figur

Neymar: Ein verschleudertes Phänomen

Neymar erlebte eine Karriere, die so viel größer hätte werden können.

Neymar erlebte eine Karriere, die so viel größer hätte werden können. IMAGO/Power Sport Images

Es war am Nachmittag des 9. November 2011, als Neymar in den Presseraum des Trainingszentrums des FC Santos kam, um zu verkünden - ja, so wurde das damals in Brasilien aufgefasst: Verkündung -, dass er seinen Vertrag mit seinem Verein bis 2014 verlängert hat. Im Alter von 19 Jahren hatte der Stürmer Angebote aus Barcelona, von Real Madrid oder Chelsea ausgeschlagen, um für monatlich drei Millionen Reais (umgerechnet heute gut 550.000 Euro) bei seinem Stammverein zu bleiben. Vorerst. Der Deal gilt noch heute als Meilenstein in der Geschichte des brasilianischen Fußballs und als Beweis dafür, dass es trotz der Konkurrenz durch Weltklubs möglich ist, Talente länger im Land zu halten.

Trotz seiner Jugend wurde Neymar schon damals als Phänomen gehandelt. Er hatte den brasilianischen Pokal gewonnen, vor allem aber seinen Verein, eben keinen geringeren als den legendären Pelé-Klub Santos, 2011 zum Triumph in der Copa Libertadores geführt, vorentscheidendes Tor im Final-Rückspiel inklusive. Außerdem war er bereits Teil der Selecao, hatte im Nationaldress schon 2010 im Alter von 18 debütiert, gleich mit einem Tor beim Sieg in den USA. Das passte also komplett, denn Neymar wollte und sollte ja zu einer Weltmarke werden.

Die Nummer 10 als Statement

Damals war der Youngster der einzige nicht in Europa spielende Spieler unter den Nominierten für die Wahl zum Weltfußballer des Jahres. Als er am 9. November bei Santos den Interviewraum betrat, trug das Toptalent ein T-Shirt, auf dem in englischer Sprache herausfordernd geschrieben stand: It’s good to be the king. "Es gibt nur einen König. Ich habe nur vergessen, wie er heißt", scherzte er bei der Bekanntgabe seines neuen Vertrags. Am nächsten Tag ehrte ihn sogar der wahre König Pelé und erklärte: "Neymar ist technisch besser als Messi." Bei der Weltfußballer-Abstimmung wurde der Gelobte dann aber doch auf die Plätze verwiesen, Messi gewann vor Cristiano Ronaldo und Xavi. Neymar wurde Zehnter, immerhin.

Die vorherrschende Sicht in der Fußballwelt war jedoch: Wer, wenn nicht Neymar, kann eines Tages die Vorherrschaft von Messi und/oder Ronaldo brechen! In Brasilien war die Öffentlichkeit zudem überzeugt und in Vorfreude gleichermaßen: Der neue Star sei geradezu prädestiniert, eines Tages die Selecao zum sechsten WM-Titel zu führen.

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Diese Empfindung wurde noch dadurch verstärkt, dass Neymar ab Juni 2013 und dem 2:2 gegen England bei der Wiedereröffnung des Maracana von Rio de Janeiro nach den Pro-WM-Umbauarbeiten auch im Selecao-Dress fix die "10" trug. Als er gar noch einen Tag später als Neuzugang beim FC Barcelona präsentiert wurde, war gefühlt klar: Bis zur Königskrönung ist es nur eine Frage der Zeit.

Rund 90 Millionen Euro Ablöse kostete er Barca. Wegen vermeintlicher Verschleierung von Transferkosten gab es aber schon damals Ärger - und der wirkt im Rückblick wie der Vorbote so vieler Streitigkeiten, die auf und neben dem Rasen folgen sollten.

Ein Star im Abklingbecken

Statt an der Seite von Messi, Xavi und Andres Iniesta zum unwiderstehlichen Weltstar zu reifen, reifte übe die Jahre hinweg selbst bei vielen Fans Widerstand gegen den schillernden Star, der sein Talent vermeintlich nicht ausreize. Und in der Tat: Die Krönung zum König, sie fand nie statt.

Heute meinen nicht wenige seiner Landsleute: Neymar, mit knapp 32 durchaus noch im guten Fußballeralter, sei die größte Talentverschwendung in der Geschichte Brasiliens, ja sogar des Weltfußballs. Angestellt bei Al-Hilal in Saudi-Arabien statt wie einst beim FC Barcelona oder, zumindest, bei Paris Saint-Germain. Fußballerischen Ruhm gibt es in der Saudi Pro League nicht zu verdienen, dafür fast unzählige Millionen Petro-Dollars.

Seit Oktober aber laboriert der Umstrittene an einem Kreuzbandriss. Rückkehr: offen. Ein Star im Abklingbecken.

Neymar

Neymar musste verletzt abtransportiert werden. IMAGO/nogueirafoto

Die Verletzung ist nur eine von vielen, insgesamt fast drei Dutzend, die der verhinderte Superstar in seiner Karriere erlitt. "Es ist komplex. Aufgrund seiner früheren Verletzungen wird er einen langen Rehabilitationsprozess durchlaufen, dessen ist er sich bewusst", erklärte Selecao-Arzt Rodrigo Lasmar. Nach Angaben aus Neymars Umfeld ist nur der Wirbelbruch, den er sich bei der WM 2014 gegen Kolumbien zuzog, in der Auswirkung vergleichbar. Damals, so Neymar selbst, lief er Gefahr, gelähmt zu bleiben. Die geschockte Selecao verspielte ohne ihren Anführer beim 1:7 im Halbfinale gegen Deutschland Ruf und WM-Titel.

Neymar aber kam zum Glück zurück, doch schien er mitunter das Leben so sehr zu genießen, dass es der Form abträglich war. Und wenn er auf dem Platz tanzte, dann nicht selten zu ballverliebt, die Folge: Er zog Fouls an, weitere Verletzungen folgten. Oder Schauspieleinlagen. Spätestens bei der WM 2018 sorgte er mit übertriebenen Leidensgesten weltweit für Unmut. Aus im Viertelfinale gegen Belgien. 2022 folgte das Viertelfinal-Aus im Elfmeterschießen gegen Kroatien. "Ich betrachte dies als meine letzte Weltmeisterschaft, weil ich nicht weiß, ob ich mental fit genug bin, weiter Fußball zu spielen", hatte er bereits 2021 bei DAZN mit Blick auf die WM 2022 gesagt. WM-Titel also Fehlanzeige, bislang zumindest. Ob es Neymar 2026 doch noch einmal versucht, ist ungewiss.

Doch mit Meisterschaften allein, selbst einem Champions-League-Sieg 2015 an der Seite Messis mit Barca, wird man kein König, schon gar nicht einer in der Ahnengalerie von "Rei" Pelé. Selbst wenn er den mit 79 Treffern mittlerweile als Rekordtorschütze der Selecao abgelöst hat. Denn es war ja so: Als Neymar 2015 auf dem Weg zum Triumph in der Champions League über sich hinauswuchs und, Messi hin oder her, oft Barcas entscheidender Mann war, war der Zenit auch schon erreicht.

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Wegweiser für die Nachkommen?

Die Aussage von Interims-Nationaltrainer Fernando Diniz, wonach Neymar "die schönsten Seiten seiner Geschichte noch schreiben" werde, ist Diplomatie. Immerhin besteht die Hoffnung, dass er bei einer Rückkehr der jüngeren Generation wie Vinicius Junior, Rodrygo und Endrick mit seiner Erfahrung und technischen Extraklasse als Wegweiser dient. Viele in Brasilien aber wollen diesen Neymar gar nicht mehr in der Nationalelf sehen. Schließlich hat die Selecao nichts gewonnen mit diesem Kapitän. Denn beim Sieg in der Copa America 2019 in der Heimat hat der Topstar verletzt gefehlt. Außer mit dem Olympiasieg 2016 in Rio im Finale gegen Deutschland hat er die Karriere nicht vergoldet. Und Olympia war eben nur Zeitgeschichte: Damals zwar ein Highlight, Neymars entscheidender Elfer im Shoot-out inklusive, und eine Art Wundenlecken nach der WM-Schmach 2014. Aber es war, gerade für die Selecao und Brasilien, eben nur Olympia.

Brasilien diskutiert daher seit Jahren: warum an einem Spieler festhalten, der weit von einstiger Topverfassung entfernt ist? Und der zudem abseits des Spielfelds oft mit Kontroversen auffällt? Selbst bei PSG, das 2017 die bis heute gültige Weltrekord-Ablösesumme von 222 Millionen Euro an Barca überwiesen hatte, waren sie irgendwann all dieser Unwägbarkeiten müde und ließen die 10 im Sommer 2023 für rund 90 Millionen Euro Ablöse nach Saudi-Arabien ziehen.

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Einer der Hauptkritiker in Brasilien, Ex-Nationalspieler Walter Casagrande, vermisst bei Neymar eine Anpassung seines Spielstils: "Alle Spieler, die sich im Laufe der Zeit verändert haben, verfügten über fußballerische Intelligenz. Neymar hat keine fußballerische Intelligenz. Er weiß, wie man Fußball spielt, was etwas anderes ist, als das Spiel zu verstehen. Wenn ein Spieler taktische Intelligenz hat, weiß er, was er zu tun hat. Er erkennt, wo er aufgrund seines Alters Defizite hat, und wechselt die Position, weil er sich selbst kennt und das Spiel versteht. Cristiano Ronaldo hat das brillant gemacht." Neymar aber wolle nicht einmal eine Taktik lernen, so Casagrande: "Er hat sich immer auf sein großes Können und seine Technik verlassen. Er hat immer darauf vertraut, dass er den Ball bekommt, sich gegen drei oder vier Jungs durchsetzt und dribbelt. Aber mit seinem Alter und dem mangelnden Training denkt jetzt zwar sein Kopf, aber sein Körper folgt ihm nicht mehr."

Dass Neymar für Kritik praktisch nie empfänglich war, wird von vielen in der Heimat des Top-Stars als "Peter-Pan-Syndrom" bezeichnet, also als Weigerung, erwachsen und reif zu werden. Abgeschottet durch seinen Vater Neymar Santos und das Umfeld, lebt der Profi Kritikern zufolge in einem, erneute Anspielung auf Peter Pan, "Nimmerland", in einer Parallelwelt, in der ihn nur das Lob seiner Freunde erreiche.

Für meine Familie, meinen engsten Kreis, bin ich der Batman.

Neymar

Und Neymar? Spielt durchaus mit dieser Polarisierung rund um sein Image: In einer Netflix-Dokumentation über sein Leben ist in seinem Haus ein Gemälde zu sehen: ein Gesicht, halb Batman, halb Joker. "Für meine Familie, meinen engsten Kreis, bin ich der Batman. Für diejenigen, die mich nicht kennen, der Joker", sagt Neymar. "Die Leute ärgern sich ein bisschen darüber, dass ich ein Typ bin, der sein Leben lebt."

Dabei mahnen viele nur, andere wiederum kritisieren konkret. Und Kontroversen gab es abseits des Spielfelds ja durchaus. 2019 wurde er von einem brasilianischen Model der Vergewaltigung und Körperverletzung beschuldigt, aber am Ende der Ermittlungen freigesprochen. Als er im Oktober 2023 Vater einer Tochter wurde (ein Sohn aus einer früheren Beziehung ist mittlerweile zwölf Jahre alt), wurde ihm, auch aus dem engsten Umfeld, vorgeworfen, während der Schwangerschaft mit anderen Frauen gefeiert zu haben: "Ein Mann, der sich weigert, ein Mann zu sein, weigert sich, zu reifen und die Schuld für seine Taten zu übernehmen. Was bringt es, die Familie bei der Babyparty um Verzeihung zu bitten und sich weiterhin wie ein Kind zu benehmen?", lautete ein Post aus der Familie von Neymars Partnerin im Netz.

Ein Scherbenhaufen

Nicht nur solches hat den Stern des einstigen Hoffnungsträgers sinken lassen. In einem Land, das politisch extrem gespalten ist, hat der Angreifer den mittlerweile abgewählten Rechtsausleger-Präsidenten Jair Bolsonaro gestützt, der offiziell des Putschversuchs und anderer Vergehen beschuldigt wird. Die Folge: Ablehnung durch Millionen der anderen Seite.

Bis 2025 läuft Neymars Vertrag bei Al-Hilal, Weltfußballer wird er dort eher nicht, der Auszeichnung kam er 2015 und 2017 mit dem 3. Platz am nächsten. Was also kann noch kommen? Doch der WM-Titel? Quasi als Geschenk des Himmels? Als eines von Batman oder gar dem Joker?

Ähnlich wie Messi in Argentinien kann auch Neymar das Ende seiner Nationalelf-Karriere (noch) selbst bestimmen. Doch Messi ist mittlerweile Weltmeister, und Neymar hat mit dem Selbstbestimmen oft seine Schwierigkeiten gehabt. Die Giganten-Karriere, die dem Großtalent einst sogar Pelé zugetraut hatte? Verschleudert. Sie gleicht aktuell eher einem Scherbenhaufen.

Dieser Artikel erschien erstmals in der kicker-Ausgabe vom 28. Dezember 2023 (auch als eMagazine erhältlich).

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