Formel 1

Jackie Stewart: 80 Jahre Wettfahrt gegen den Tod

Formel-1-Legende feiert runden Geburtstag

Jackie Stewart: 80 Jahre Wettfahrt gegen den Tod

Feiert Jubiläum: Der dreimalige Formel-1-Weltmeister Jackie Stewart wird 80.

Feiert Jubiläum: Der dreimalige Formel-1-Weltmeister Jackie Stewart wird 80. picture alliance

Wäre man gezwungen, das am Dienstag dieser Woche 29.220 Tage währende Leben des Sir John Young "Jackie" Stewart auf lediglich zwei Tage zu reduzieren, um diesen Mann zu beschreiben und einzuordnen, dann wäre dies zwar nicht sehr umfassend, aber zumindest auch nicht ganz unmöglich. Heranzuziehen wären dann der 12. Juni 1966 und der 4. August 1968. An diesen beiden Tagen trat nicht nur der herausragende Rennfahrer Jackie Stewart hervor, an diesen beiden Tagen nahm sein Leben Wendungen, die ihn auch heute im Alter von 80 Jahren noch immer beschäftigen.

Zwei Tage nur, dabei wurden über Stewart Dutzende Bücher geschrieben. Doch selbst sie konnten lediglich Bruchstücke aus einem überreich gefüllten Rennfahrerleben nacherzählen. Spa-Francorchamps 1966 aber und der Nürburgring 1968 ragen heraus - das erste Rennen wegen eines bizarren Unfalls, das zweite wegen eines triumphalen Sieges.

Auf der zu dieser Zeit auch von den mutigsten Männern gefürchteten Berg-und-Tal-Bahn in den belgischen Ardennen geht am 12. Juni 1966 nach dem Start im Trockenen noch in der ersten Runde ein heftiger Regenschauer hernieder. Acht Autos kreiseln von der Fahrbahn, darunter befindet sich in seinem BRM P261 auch Jackie Stewart. "Wir fuhren in eine Wand aus Wasser", schildert der von Startplatz 3 losgefahrene Schotte später die Sekunde des Unfalls, bei dem er unvermittelt von der Straße abkommt und - heute kaum zu glauben - gegen einen Telegrafenmast (!) prallt. Auch Jo Bonnier (Cooper), Mike Spence (Lotus), Graham Hill (BRM), Jim Clark (Lotus), Bob Bondurant (BRM), Denis Hulme (Brabham) und Jo Siffert (Cooper) können ihre Autos auf dem patschnassen Asphalt nicht mehr unter Kontrolle behalten und segeln ins Grüne.

Stewart: "Ich fürchtete um meine Kronjuwelen"

Ab diesem Moment durchlebt Stewart nur einen Tag nach seinem 27. Geburtstag die schlimmsten 25 Minuten seines Lebens. Der harte Aufprall hat den mit 200 Litern zum Bersten gefüllten Tank leckgeschlagen, die aggressive Brühe ergießt sich über die Beine des in seinem Cockpit eingesperrten Stewart. Das verbogene Lenkrad verhindert nicht nur ein Aussteigen, sondern auch die ersten Versuche seiner weitgehend unverletzt gebliebenen Rennfahrerkollegen, den Hilflosen von außen aus dem Cockpit zu zerren. Deutlich zu hören aber ist, dass die Benzinpumpe noch läuft, und der geringste Funke kann jetzt zu einer gewaltigen Explosion führen. Mit britischem Humor scherzte Stewart im Rückblick immer wieder: "Ich fürchtete um meine Kronjuwelen."

Maulschlüssel mit Klebeband in Griffweite fixiert

Mithilfe von Werkzeug eines in der Nähe stehenden Zuschauers können Graham Hill und der nach einem Überschlag nur leicht verletzte Bob Bondurant den entsetzten Stewart nach einer gefühlten Ewigkeit bergen. Rettungsfahrzeuge? Ärzte? Bergungsteams? All das gibt es nicht in der Formel 1 der 60er Jahre. Von diesem Tag an nimmt Stewart im Cockpit stets einen Maulschlüssel als Notfallwerkzeug mit, den er mit Klebeband in Griffweite fixiert.

Abgelegt "mitten in Hunderten von Zigarettenkippen"

Stewart wird nach der Bergung durch die Kollegen auf die Pritsche eines Pick-ups gelegt und wartet dort auf das Eintreffen eines Krankenwagens. Im Nothospital der Rennstrecke gibt es keine Ärzte (!), man legt Stewart auf seiner Trage ohnehin erst einmal auf dem Asphalt ab, "mitten in Hunderten von Zigarettenkippen", wie Stewart später gerne erzählt. Sein Glück: Neben Verätzungen der Haut hat er nicht mehr als einen Schlüsselbeinbruch davongetragen. An diesem Tag jedoch beginnt sein bis heute andauernder Kampf um mehr Sicherheit in der Formel 1 - übrigens nicht zur Freude aller Rennfahrerkollegen, die ihm teilweise unterstellen, ein Weichei zu sein.

Eine unglaubliche Demonstration an Fahrkunst

Da der Fortschritt jedoch eine Schnecke ist, wird auch der Deutschland-Grand-Prix am 4. August 1968 unter äußerst fragwürdigen Umständen ausgetragen. Er entwickelt sich zu jenem Formel-1-Rennen, von dem es heißt, es gebe von ihm weniger Fotos als von jedem anderen GP der bald 70-jährigen Formel-1-Geschichte. Grund: dichter Nebel in den Eifelhügeln des Nürburgrings. Eine äußerst dicke Suppe in einem sehr tiefen Teller. Stewart, wenige Wochen zuvor schon Sieger im Regen von Zandvoort, fährt nach chaotischen Verhältnissen im Training nur als Sechster los, kommt aber als Führender mit vier Sekunden Vorsprung aus der ersten Runde zurück. Am Ende des Rennens wird Stewart mehr als vier Minuten vor Graham Hill abgewinkt. Es ist eine unglaubliche Demonstration an Fahrkunst, und trotzdem sagt Stewart: "Dieses Rennen hätte niemals stattfinden dürfen." Bis heute erzählt man sich an den Lagerfeuern rund um die Rennstrecke die Legende, dass es im letzten Renndrittel, als längst nur noch alle versuchten, nicht von der Strecke abzukommen, Überholmanöver gegeben haben soll, von denen weder der Überholende noch der Überholte etwas mitbekam ...

Noch heute packt Stewart die Wut

Mit seiner herausragenden Erfolgsbilanz (nur 99 Rennen, 27 Siege, drei WM-Titel) zählt er nach wie vor zum winzigen Kreis der Super-Champions, doch in Bezug auf die persönliche Beeinflussung der Entwicklung des Formel-1-Sports steht Jackie Stewart ziemlich alleine da. Sein Ein-Mann-Kreuzzug macht den Sport viel sicherer. Seine ausgezeichneten Kommunikationsfähigkeiten tragen dazu bei, dass er immer beliebter und einflussreicher wird. Er setzt neue Maßstäbe in der Professionalität der Fahrer und ist auch ein Pionier bei der Nutzung des wirtschaftlichen Potenzials des Formel-1-Rennsports. Stewart gilt als erster Fahrer, der Millionen-Gagen aushandeln kann. Sicher, seine scharfe Intelligenz und unermüdliche Energie helfen ihm, aber er hätte nie einen solchen Einfluss ausüben können, wenn er nicht gleichzeitig ein wirklich großer Fahrer gewesen wäre. Noch heute packt ihn die Wut, wenn er an die damaligen Umstände denkt: "Es war einfach lächerlich. Hier gab es eine Sportart, die von schweren Verletzungen und Todesfällen gekennzeichnet war, aber es gab keine Infrastruktur und nur sehr wenige Sicherheitsmaßnahmen, um sie zu verhindern. Also fühlte ich, dass ich etwas tun musste." Der Einbau von Sicherheitsgurten, die Einführung der Integralhelme, das Vorhandensein ärztlicher Notfallteams, das Anbringen von Leitschienen, das Entfernen von zu nahe an der Ideallinie stehenden Bäume und das Beseitigen gefährlicher Gräben an den Formel-1-Rennstrecken geht ganz wesentlich auf Stewarts Hartnäckigkeit zurück.

Das Thema Tod überschattet auch das Ende seiner eigenen Karriere. Ursprünglich plant Stewart, beim Saisonfinale 1973 ohne Druck den USA-GP in Watkins Glen zu bestreiten, seinen 100. und letzten. Zwei Wochen zuvor hat er sich beim Kanada-GP zum dritten Mal den WM-Titel gesichert. Doch im Training zum US-Rennen verunglückt sein Rennfahrerfreund und Tyrrell-Teamkollege François Cevert tödlich - für Stewart das Zeichen, den über Monate gereiften, aber seiner Frau Helen verschwiegenen Entschluss zum Rücktritt sofort in die Tat umzusetzen. Für den nach dieser Tragödie von seinem väterlichen Freund, Karriereförderer und Teambesitzer Ken Tyrrell verkündeten Rückzug vom Rennen zeigt Stewart vollstes Verständnis - Jubiläum hin oder her.

Stewart und diese permanente Bedrohung durch den Tod - auch im Privatleben verschont sie ihn nicht. So kämpft ausgerechnet in einer Phase, in der Stewart Ende der 90er Jahre einen eigenen Formel-1-Rennstall aufbaut, sein Sohn und Geschäftspartner Paul mit dem Krebs. Monate des Bangens vergehen, ehe die gute Nachricht kommt, dass Paul Stewart über den Berg ist.

"Das ist meine größte Schlacht"

Als vor sechs Jahren seine Ehefrau Helen einen eher unerklärlichen Autounfall hat, macht sich Stewart auf die Suche nach der wirklichen Ursache. Am Ende bekommt er die erschütternde Erklärung: eine beginnende frontotemporale Demenz (FTD), eine degenerative Störung, die die Zellen in den Schläfen- und/oder Frontallappen des Gehirns schädigt. Beinahe wie zu Zeiten seiner aktiven Laufbahn überlässt Stewart dem anklopfenden Tod nicht kampflos das Feld. Auch - oder gerade - im Wissen um die Aussichtlosigkeit, an Heilung denken zu dürfen, gründet Stewart eine Stiftung, die er mit Millionensummen ausstattet und mit hohem persönlichen Einsatz unterstützt. Mit der Weisheit seiner 80 Jahre sagt der Mann, der wegen einer schweren Legasthenie zeitlebens nur wenig lesen und schreiben konnte, Worte von großer Klarheit: "Das ist meine größte Schlacht. Wir müssen gegen diese Krankheit kämpfen, auch wenn mein Leben zu kurz sein wird, um den Sieg über sie noch mitzuerleben."

Stefan Bomhard

Drei Titel, zwei legendäre Rennen und ein echter Vorreiter