Champions League

Im Baum entdeckt und zum Joggen Bielsa: Das ist Jorge Sampaoli

Sevillas neuer alter Coach im Porträt

Im Baum entdeckt und zum Joggen Bielsa: Jorge Sampaolis erstaunliche Karriere

Klein, aber oho: Jorge Sampaoli ist kein Allerweltstyp.

Klein, aber oho: Jorge Sampaoli ist kein Allerweltstyp. IMAGO/Gonzales Photo

So manchem Fan verhalf er schon dazu, seine Lieblingsmannschaft auch ohne Ticket sehen zu können. Jorge Sampaoli verhalf ein Baum sogar zum entscheidenden Karriereschritt. Denn er war ein Kiebitz der besonderen Art. Sampaoli schaute das Spiel seiner eigenen Mannschaft.

Der Argentinier hatte noch nicht allzu viel in seiner Trainerkarriere vorzuweisen gehabt, und eigentlich wollte er lange auch gar kein Trainer sein. Als Spieler hatte er in der Jugend bei Newell's Old Boys gekickt, wegen eines Schien- und Wadenbeinbruchs war der Traum Profifußballer jäh geplatzt. Der junge Sampaoli arbeitete in seiner Heimatstadt Casilda als Kassierer in einer Bank und trat als Friedensrichter in Erscheinung. Der Fußball spielte nur noch eine Nebenrolle, zu tief saß offenbar der Frust nach der geplatzten Karriere.

Vorschau und Spielbericht

Umso erstaunlicher ist es, dass Sampaoli als Trainer des Amateurklubs Almuni auf diesen Baum kletterte, nachdem ihn der Schiedsrichter vom Platz geschickt hatte. Von dort aus coachte er das Spiel weiter, ein Foto von der skurrilen Szene landete in der Zeitung. Diese hatte auch ein Funktionär der Newell's Old Boys, seines Ex-Klubs, gelesen, und ihm gefiel diese Art von Übereifer. So wurde Sampaoli als Trainer der Newell's-Reserve angestellt.

Doch wie kam es zu der Wandlung vom Fußball-Verschmäher zum Fußball-Verrückten? Die Antwort ist so einfach wie plausibel: Marcelo Bielsa. 

400 Kilometer zu Bielsa mit dem Feldstecher im Gepäck

Nicht umsonst wird der Argentinier schließlich "El Loco", der Verrückte, genannt. Bielsa wurde zum Idol Sampaolis und er eiferte ihm auch in Bezug auf Versessenheit nach. So häuften sich nach und nach auch über Sampaoli wahnwitzige Geschichten. Wie er laut "SZ" 400 Kilometer nach Buenos Aires reist, um Bielsas Trainingseinheiten als argentinischer Nationaltrainer aus 400 Metern Distanz mit einem Feldstecher zu verfolgen. Wie er mitten in der Nacht aufsteht, um sich wie schon am Vorabend endlos lange Videos über die eigenen Spiele und den nächsten Gegner anzuschauen. Sampaoli rief um fünf Uhr früh mal einen Spieler an und sagte ihm: "Ich weiß jetzt, wer den Fehler gemacht hat. Wir sehen uns morgen."

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Oder wie er Bielsa-Pressekonferenzen aufnimmt und beim Joggen anhört. Noch vor seinem Durchbruch unternahm er eine Reise nach Europa, um sich bei Klubs aus den Niederlanden, Italien und Spanien fortzubilden. Sampaolis Reisekasse war aber zu knapp bemessen, so dass er laut eigenen Aussagen auch mal mit den Obdachlosen auf öffentlichen Plätzen schlafen musste. 

Die Strapazen sollten sich lohnen. Sampaoli machte sich zunächst im peruanischen Vereinsfußball einen Namen, beim Klub Juan Aurich wurde er mit seinem Team übrigens bei der örtlichen Feuerwehr einquartiert. Auch in Chile und Ecuador verdingte er sich, ehe er schließlich bei Universidad de Chile landete und zwei Meisterschaften sowie die Copa Sudamericana 2011 gewann. Bei der WM 2014 war er schon Nationaltrainer Chiles. Vier Jahre zuvor in Südafrika hatte der Trainer noch Bielsa geheißen.

Die Südamerikaner ließen Spanien in Brasilien mit 2:0 abblitzen und schmissen den Titelverteidiger damit aus dem Turnier. Beinahe hätte Sampaoli dafür gesorgt, dass es das 1:7 Brasiliens im Halbfinale gegen Deutschland nie gegeben hätte. Erst im Elfmeterschießen setzte sich der WM-Gastgeber im Achtelfinale gegen Chile durch. 2015 holte Sampaoli bei der Copa America den ersten Titel mit Chile.

Womit wir in Sevilla wären, dort, wo Sampaoli nun Trainer ist und es schon in der Saison 2016/17 war. Eigentlich hatte er vor seinem ersten Halt ja schon einen Vorvertrag bei Getafe unterschrieben, doch er entschied sich um. Nach einem erfolgreichen Jahr mit Platz vier konnte er allerdings dem Angebot, Nationaltrainer seines Heimatlandes zu werden, nicht widerstehen - 1,5 Millionen Euro zahlte der Verband, um ihn von Sevilla freizukaufen. Die WM 2018 verlief allerdings durchwachsen für Argentinien, im Achtelfinale gegen Frankreich (3:4) war Schluss. Über die Stationen FC Santos, Atletico Mineiro und Olympique Marseille - wegen unterschiedlicher Transfervorstellungen erfolgte trotz Rang zwei nach Saisonende 2021/22 die Trennung - ist er nun nach Andalusien zurückgekehrt.

Sampaoli verspielt Sympathien schon vor Amtsantritt

Es wird eine Herkulesaufgabe. Das liegt zum einen an der Trennung von Vorgänger Julen Lopetegui, der als quasi entlassener Coach noch gegen Dortmund ran musste und dieses unwürdige Schauspiel mit Würde über sich ergehen ließ. Dass er von den Fans trotz des Misserfolgs gefeiert und Sampaoli als eine Art kreisender Geier betrachtet wurde, darf nicht weiter verwundern. "Der Druck auf die Spieler ist groß, dies ist ein Kampf und kein Spiel", sagte er vor der Partie gegen Bilbao. Nicht nur auf die Spieler, dachten wohl die meisten.

Es endete 1:1. Sampaoli hatte Marko Dmitrovic für Bono ins Tor, Isco auf links und Oliver Torres auf die Zehn beordert, Ajax-Leihgabe Kasper Dolberg durfte zum zweiten Mal überhaupt von Beginn an im Sturm ran. Der 1,67 Meter große Fitnessstudiofan und Tattooliebhaber lobte danach Einsatz und Moral, sagte aber auch: "Die Mannschaft war am Ende ausgelaugt, weil sie schlecht gespielt hat, und wenn man schlecht spielt, wird man ausgelaugt."

Ausgerechnet Oliver Torres fehlt in Dortmund

Die Mannschaft muss sich aber wohl auch erst einmal auf den akribischen Stil des 62-Jährigen einstellen. "Der Trainer ist seit zwei Tagen im Amt und es ist ein völlig anderes Konzept. Wir müssen uns nach und nach mit seinen Ideen und Konzepten vertraut machen", sagte Torschütze Oliver Torres danach. Viel Arbeit also noch für Sampaoli, der in Dortmund ausgerechnet auf seinen einzigen Torschützen verzichten muss. Der lange verletzte Torres ist für die Champions League nicht gemeldet.

Doch das Vertrauen ist groß in den Fußball-Fanatiker, der selbst seinen eigenen Mentor übertrumpft hat - glaubt man dem Mentor. "Ich gebe nicht nach, wenn es um meine Ideen geht, und er tut es, weil er eine Anpassungsfähigkeit hat, die ich nicht habe", sagte Bielsa mal im Jahr 2018. "Er ist besser als ich. "

Christoph Laskowski