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Warum Milan-Lenker Sandro Tonali auch "Gattirlo" heißen könnte

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Die Mischung macht's: Warum Milan-Lenker Tonali auch "Gattirlo" heißen könnte

Ein besonderer Mittelfeldmann: Milans Sandro Tonali.

Ein besonderer Mittelfeldmann: Milans Sandro Tonali. Getty Images

Dass Sandro Tonali ein Kind des italienischen Nordens ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Geboren in der kleinen lombardischen Stadt Lodi spielte er in der Jugend von Piacenza Calcio 1919 sowie in der Nachwuchsabteilung von Brescia Calcio. Bei den Rondinelle, "den kleinen Schwalben", schaffte Tonali zugleich den Durchbruch zum Profi der damaligen Zweitliga-Mannschaft - als 17-Jähriger.

Sein Debüt: am 26. August 2017, als er bei der 1:2-Auswärtsniederlage gegen US Avellino in der zweiten Halbzeit eingewechselt worden war. Sein erstes Tor auf Profiebene: am 28. April 2018 beim 2:4 gegen US Salernitana.

Ausgestattet mit der individuellen Auszeichung zum Serie-B-Spieler der Jahre 2017/18 sowie 2018/19 folgte der souveräne Aufstieg ins italienische Oberhaus - und sogleich der direkte Wiederabstieg. Ein Abstieg für Tonali selbst kam aber nicht infrage. Vielmehr hatte sich der Mittelfeldmann damals längst einen Namen gemacht - und vor allem die AC Mailand auf den Plan gerufen. Über 30 Millionen Euro blätterten die Rossoneri 2020 hin, verlängerten den Vertrag 2022 bis ins Jahr 2027 und stachen namhafte Konkurrenz aus. Laut Brescias Präsident Massimo Cellino hatte Tonali damals Offerten von Inter Mailand, dem FC Barcelona und ManUnited abgelehnt.

Warum er sich damals für den rot-schwarzen Teil Mailands und gegen Rekordmeister Juventus entschieden hatte? Das verriet Tonali direkt auf seiner Antrittspressekonferenz im September 2020: "In Mailand, wo ich herkomme, unterstützen mehr oder weniger alle diese Mannschaft. Auch mein Vater, der diese Leidenschaft auf mich übertragen hat, als ich noch ein Kind war. Ich wollte mir dieses Trikot schon eine ganze Weile überstreifen. Ich musste nach Mailand gehen. Ich musste es einfach tun!"

Und er durfte. Auch weil Brescias Präsident Cellino etwaige finanzielle Interessen des Klubs nicht über Tonalis Gefühlswelt nach dessen Leistungen für den kleinen norditalienischen Verein stellte: "Er sagte mir, dass er mich meine Entscheidung selbst treffen lässt - und er hielt Wort."

Doch was genau zeichnet den jungen Italiener nun aus? Was macht ihn speziell? Wie hebt er sich von anderen Talenten ab? Ganz einfach: Der heute mit 23 Jahren immer noch junge Mittelfeldmann gibt auf dem Spielfeld nicht nur eine Art Spielmacher. Er ist nicht nur dafür da, mit seinem großartigen Spielverständnis und Auge Angriffe einzuleiten, Möglichkeiten zu erkennen. Und ganz sicher auch nicht, um seinen starken rechten Fuß bei jeglicher Art von Standardsituation gewinnbringend einzusetzen.

Tonali zeigte schon damals mit 17, 18 Jahren wie heute absolute Führungsqualitäten. Mit dem Ball am Fuß wirkt der nur 40 Kilometer von Mailand entfernt aufgewachsene Stratege gelassen, hält den Kopf oben, scannt die Szenerie und findet auch in schier ausweglosen Situationen einen Korridor.

Prominente Vergleiche und die "ideale Position"

Kein Wunder, dass Tonali ob dieser Qualitäten und dieser ruhigen Ausstrahlung am Ball bereits in jungen Jahren mit einem gewissen Andrea Pirlo verglichen wurde. Die Mittelfeldlegende des Calcio stammt wie Tonali aus der Jugend von Brescia und verkörperte selbst jahrzehntelang die Rolle des weisen Regisseurs - so wie Tonali es nun zu tun scheint. Ganz nebenbei ähneln sich bei beiden Statur, Aussehen und Ausstrahlung auf dem Spielfeld.

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Für Milan-Coach Stefano Pioli, der auch heute noch die Geschicke der Rossoneri leitet, war der damalige Wechsel Tonalis in sein allgemein jung aufgestelltes Team ein Goldfund. "Er ist jung, aber so stark", führte Pioli gegenüber DAZN 2020 aus und überließ seinem Schützling nach der Ankunft am Milanello Sports Center selbst die Wahl seiner Position auf dem Feld: "Am ersten Tag bereits fragte ich Sandro nach seiner idealen Position."

Und weiter: "Er sagte: 'Die Leute vergleichen mich mit Andrea Pirlo, aber ich betrachte mich eher als Gennaro Gattuso.' Ich denke, wenn wir Daniele de Rossi zu dieser Mischung hinzufügen, vervollständigt ihn diese Beschreibung." Tonali hatte sich unter Pioli über die Jahre weiterentwickelt, Schritte nach vorn gemacht, das Stellungsspiel verbessert und zwangsläufig durch die viele Spielzeit auch auf internationaler Ebene (124 Pflichtspiele für die AC) immense Erfahrung hinzugewonnen.

Die Nationalmannschaft und emotionale 30 Sekunden

Sandro Tonali

Auch in der Nationalmannschaft angekommen: Sandro Tonali. Getty Images

Dazu gehört natürlich auch die italienische Nationalmannschaft, in der der Spieler selbst nochmals über die Vergleiche zu großen Vorbildern sprach. Nach seinem Länderspiel-Debüt vor über drei Jahren (Oktober 2019) beim 5:0 in Liechtenstein in der EM-Qualifikation sagte Tonali gegenüber "Rai Sport" nämlich: "Es ist schwer, einen dieser Champions zu picken. Vielleicht wäre eine Mischung aus allen perfekt. Ich schätze, es gibt Ähnlichkeiten mit Pirlo, aber ich füge meinem Spiel auch viel Biss hinzu, also vielleicht mehr Gattuso."

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Also "Gattirlo", wenn man so will.

Sein damaliges Azzurri-Debüt hinterließ beim Mittelfeldspieler übrigens besonderen Eindruck: "Es fühlte sich wundervoll an, gerade weil nicht jeder die Chance bekommt, für die Nationalmannschaft aufzulaufen. Deswegen war ich für 30 Sekunden oder so auch etwas emotional, dass das nun wirklich passiert ist." Und noch mehr: Aktuell steht Tonali bereits bei 14 Einsätzen für die Squadra Azzurra, war bei der erfolgreichen EM in England mit dem großen Finalsieg im Elfmeterschießen aber nicht Teil von Roberto Mancinis Kader.

Titel und ein imaginärer Teil des "großen Milan"

Dafür durfte sich Tonali in jungen Jahren schon zum Meister krönen. Nach dem Ende der vergangenen Serie-A-Spielzeit nämlich thronten die rot-schwarzen Mailänder mit 86 Punkten vor dem schwarz-blauen Stadtrivalen (84) und vor Rekordmeister Juventus (70), der nach zuvor neun Scudetti in Serie vom Thron gestoßen wurde. Zugleich war dieser der erste Meistertitel für Milan seit 2011.

Andrea Pirlo (li.) und Gennaro Gattuso

Haben für Sandro Tonali quasi Modell gestanden: die Weltmeister Andrea Pirlo (li.) und Gennaro Gattuso. AFP via Getty Images

Die damalige Meisterschaft sollte das Ende der großen Rossoneri-Jahre etwa mit den Champions-League-Erfolgen 2003 und 2007 bedeuten. Als noch Stars wie Kaka oder Clarence Seedorf die Bälle zu Filippo Inzaghi oder Andriy Shevchenko zauberten. Als Paolo Maldini und Alessandro Nesta noch mit das beste Abwehrgespann des europäischen Fußballs bildeten. Und als eben im Mittelfeld Gattuso arbeitete und Pirlo neben ihm Regie führte.

Für Trainerlegende Fabio Capello wäre ein Tonali mit seinen Fähigkeiten auch im damaligen Starensemble Stammkraft gewesen. Gegenüber der "Gazzetta dello Sport" sagte der Altmeister vor dem Milan-Scudetto im letzten Jahr: "Tonali hätte auch beim "großen Milan" gespielt. Er hat die Persönlichkeit und die Stärke dafür - und er ist schlau. Er verteidigt stark und verfügt über die Fähigkeit, den Ball nach vorn zu bringen. Er hat das Verständnis und das Auge."

Die Zeitung "Tuttosport" war sogar einmal noch weiter gegangen und schrieb bezüglich seiner Ballaktionen von "außerirdischen Sphären". Dabei ist Sandro Tonali gar nicht außerirdisch. Er ist einfach nur ein immer reifer gewordenes Kind des italienischen Nordens - mit einer Prise "Gattirlo".

Markus Grillenberger

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