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Wie Marcelo Bielsa das schöne Spiel prägt: Der Mythos vom Verrückten

"Der beste Trainer der Welt" im großen Porträt

Der Mythos vom Verrückten: Wie Marcelo Bielsa das schöne Spiel prägt

"Denkst du jemals darüber nach, dich nach einer Niederlage umzubringen?" Marcelo Bielsa.

"Denkst du jemals darüber nach, dich nach einer Niederlage umzubringen?" Marcelo Bielsa. Getty Images

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 13. November 2019.

Manchmal ist es nicht einfach, den Einstieg in einen Text zu finden, in dem es so viel zu erzählen gibt. Bei Marcelo Bielsa ist das definitiv der Fall. Ein 65-jähriger Mann, der während des Spiels auf einem Eimer sitzt; der mitten in der Nacht Joggen geht und dabei Taktik-Tapes hört; der der Spionage überführt wird und es trotzdem schafft, von der FIFA den Fair-Play-Award zu erhalten. Und so weiter und so weiter.

Also, wo fangen wir an?

Am besten nicht am Anfang, sondern in Rosario, Argentinien, mit einem Fiat 147. Es ist das Auto, das schon lange nicht mehr verkauft wird, aber die erste von unzähligen Geschichten über Marcelo Bielsa prägt.

Bielsa ist damals, Anfang der 80er Jahre, gerade vom Trainer der Universitätsmannschaft Buenos Aires' zum Jugendcoach bei seinem Herzensverein Newell's Old Boys befördert worden, weil er, selbst erst 25, mit ein paar Studenten ein Unentschieden gegen das Reserveteam von Boca Juniors geholt hatte.

Nachts um 2 Uhr klingelt Bielsa auf dem Bauernhof der Pochettinos

Bielsa fragt sich, ob Newell's vielleicht nicht alle Talente des Landes im Blick hat und befördert sich kurzerhand zum Chefscout. Mit seinem Assistenten Jorge Griffa teilt er die Landkarte Argentiniens in 70 Abschnitte und arrangiert in jedem einzelnen ein Probetraining für angehende Fußballer.

Das Problem: Bielsa hat Flugangst und Argentinien fast drei Millionen Quadratkilometer Fläche. Also nimmt er das Auto und fährt alle Sektoren ab. Da passiert es auch, dass er um 2 Uhr nachts auf dem Bauernhof von Hector und Amalia Pochettino in Murphy auftaucht, die beiden aus dem Bett klingelt und Sohn Mauricio sehen will. Er schleicht sich in dessen Schlafzimmer, schaut unter die Bettdecke und verspricht: "Das sind die Beine eines Fußballers."

Nach rund 8000 Kilometern kommt Bielsa wieder in Rosario an. Es ist der Anfang einer außergewöhnlichen Beziehung zu einem Klub, dessen Fan er nur wurde, weil sein Vater den Erzrivalen Rosario Central anfeuerte. Aus Prinzip anders eben.

"Die Tafel voll von Pfeilen, dass du kaum erkennen konntest, wo der eine anfing und der andere endete"

Auch als Spieler hatte er es bei Newell's versucht, war dem Vernehmen nach aber zu langsam und kopfballschwach. Und außerdem flog er als 15-Jähriger, nachdem er gerade zum ersten Mal sein Elternhaus verlassen hatte, schon nach zwei Tagen wieder raus, weil er sich weigerte, sein Motorrad draußen stehen zu lassen.

Marcelo Bielsa

"Mein Fußball ist sehr einfach - ich bin besessen vom Angreifen": Marcelo Bielsa malt dazu gerne Pfeile. Getty Images

Bielsa macht sich als Jugend- und später Reservetrainer bei Newell's einen Namen, auch weil er seine Spieler, teilweise noch Kinder, mit dem förmlichen "Usted", Sie, anspricht. 1990 ersetzt er José Yudica und übernimmt die Profis. Mittelfeldspieler Juan Manuel Llop ist "misstrauisch", wie er später zugeben wird, weil der neue Trainer alles anders macht als zuvor. Mittelfeldspieler Gerardo "Tata" Martino fragt sich kurz, ob "die Indianer kommen". Zuvor hatten sich die Profis die Kabine mit dem Reserveteam von Bielsa geteilt, und jedes Mal "war die Tafel voll von Pfeilen, dass du kaum erkennen konntest, wo der eine anfing und der andere endete. Und jetzt war dieser Typ unser Trainer!"

Es dauert nicht lange, und seine Spieler folgen ihm blind.

Wie er "der Verrückte" wurde? Da gibt es verschiedene Versionen

Inspiriert von Rinus Michels und dem niederländischen "Totaalvoetbal" der 70er Jahre, setzt auch Bielsa auf ein 4-3-3- oder 3-4-3-System mit vollem Fokus auf offensiven Außenverteidigern. "Mein Fußball ist sehr einfach", sagt Bielsa selbst. "Ich bin besessen vom Angreifen. Wenn ich Videos schaue", und das macht er selbst an Heiligabend, "geht es dabei ums Angreifen und nicht ums Verteidigen."

Bielsa saugt alles auf, abonniert auch heute noch über 40 Sportmagazine und studiert jeden Gegner und jeden Spieler bis ins letzte Detail. Er passt sich aber auch an. Gegen Teams mit einem Angreifer formiert sich sein Team in einem 4-1-4-1, bei Gegnern mit zwei Angreifern stellt er ein 3-3-1-3 auf. Jenes System, das ihm in Argentinien den Spitznamen "El Loco" einbringt, der Verrückte. Andere wiederum behaupten, "El Loco" sei entstanden, weil Bielsa einst zu Verteidiger Fernando Gamboa sagte, er würde sich sogar einen Finger amputieren, wenn es einen Sieg seines Teams garantieren würde.

Wer ein Trainer werden will, muss vorher mit ihm geredet haben.

Pep Guardiola

Newell's wird in der ersten und zweiten Saison unter Bielsa Meister, und der Verrückte, wie es das Magazin "FourFourTwo" so schön formuliert, zum Architekten des Chaos. Sein Pressing-Fußball sorgt für überfallartige Szenen, wie man sie heute von Manchester City oder Liverpool kennt. "Wenn der Gegner den Ball hat", erklärt Bielsa, "presst das ganze Team und versucht, das Spiel so nah wie möglich am gegnerischen Tor zu halten." Der Gegner darf keine Zeit haben, keine Anspielstationen und keinen Raum. Deshalb müssen seine Spieler fit sein und "laufen, laufen, laufen".

Bevor Pep Guardiola seine Karriere bei Barcelona begann, hatte er seinem Guru Bielsa einen Besuch auf dessen Ranch in Maximo Paz abgestattet. Aus einem kleinen Austausch wurde eine elfstündige Taktikschulung, die den Fußball veränderte. "Er beeinflusst Spieler und das gesamte Spiel", sagt Guardiola über Bielsa. "Darum ist er der beste Trainer der Welt. Wer ein Trainer werden will, muss vorher mit ihm geredet haben."

Marcelo Bielsa

Ihr Treffen in Maximo Paz veränderte vielleicht den Fußball: Marcelo Bielsa und Pep Guardiola. Getty Images

Bielsa fordert maximale Hingabe von seinen Spielern. So wie er sie vorbereitet, mögen sie es ihm bitteschön zurückzahlen. Deshalb gibt er seinen jüngsten Akteuren auch Hausaufgaben auf, sie sollen so viel Material wie möglich zum nächsten Gegner sammeln; wie der zuletzt gespielt hat, wer ein- und ausgewechselt wurde und wer die Ecken und Freistöße trat. "Es hat geholfen", sagt Pochettino, damals Abwehrspieler bei Newell's. "Aber all die Hausaufgaben... Ich wünschte, meine Freunde könnten wenigstens ein Prozent von dem erleben, was ich alles machen musste."

Bielsa besteht auf einen Computer, der Screenshots kann - das war 1997

Bei Newell's passiert nach den zwei Meisterschaften und dem verlorenen Copa-Libertadores-Finale gegen Sao Paulo genau das, was sich später als Muster erkennen lässt. Der Fußball ist ansehnlich und zunächst erfolgreich, ehe seine Spieler das Tempo nach einer gewissen Zeit in der Saison nicht mehr halten können und völlig ausbrennen.

Bielsa tritt zurück und zieht weiter nach Mexiko, erst zu Atlas, dann zu CF America. 1997 winkt die Rückkehr nach Argentinien, Velez Sarsfield lädt ihn zum Vorstellungsgespräch ein. Bielsa erscheint mit 51 Video-Tapes, um den Verantwortlichen haargenau aufzuzeigen, wie und wo er das Team besser machen wird. Er besteht darauf, nachdem er den Job bekommen hat, in seinem Büro einen Computer zu haben, der Screenshots machen kann, um die Video-Analyse zu vereinfachen. Das mag heute plausibel klingen, aber vor über 20 Jahren?

Wenn Spieler nicht menschlich wären, würde ich nie verlieren.

Marcelo Bielsa

Auch Velez wird sofort Meister, danach geschieht das Gleiche wie in Rosario. "Wenn Spieler nicht menschlich wären", moniert Bielsa, "würde ich nie verlieren." Einmal fragt er Argentiniens Ikone Jorge Valdano während eines Flugs: "Jorge, denkst du jemals darüber nach, dich nach einer Niederlage umzubringen?" Bielsa ist völlig besessen.

Nach einem Zehn-Spiele-Intermezzo bei Espanyol Barcelona wird er 1998 argentinischer Nationaltrainer und hat es zunächst nicht leicht. Einer seiner zentralen Spieler ist Mittelfeldmotor Diego Simeone, doch die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. 2000 wird Simeone mit Inter Meister in der Serie A, in ähnlicher Art und Weise, wie er es später auch als Trainer mit Atletico in Spanien schafft. "Aber", fragt Bielsa, "verstehst du nicht, dass sich außer den Fans niemand an diesen Titel erinnern wird? Das kannst du doch nicht Fußball nennen."

Sogar Simeone schwärmt - dabei könnten beide nicht unterschiedlicher sein

Die WM 2002 geht völlig in die Hose, Argentinien scheidet bereits in der Gruppenphase aus. Bielsa ruft eine Besprechung ein, entschuldigt sich bei der Mannschaft für sein Scheitern - und wird von den Spielern umarmt. "Das sagt alles über seinen Charakter", sagt Simeone. "Wie er jeden zusammenhält in guten und schlechten Zeiten. Er ist ein Genie, du musst ihm einfach folgen."

Marcelo Bielsa

In Marseille überforderte er in erster Linie die Übersetzer: Marcelo Bielsa. Getty Images

Seine Spieler verehren ihn, nur die argentinischen Medien bleiben skeptisch. Weil ihm einmal eine verdeckte Aufnahme zum Verhängnis wurde, lehnt er bis heute Einzelinterviews mit Journalisten ab. Über 20 Jahre, bis zur Amazon-Serie "Take Us Home", der Dokumentation über Bielsas jetzigen Verein Leeds United, hält sein Vorhaben.

Als er die Albiceleste 2004 ins Finale der Copa America und kurz danach zur Olympischen Gold-Medaille führt, sind auch letzte Skeptiker besiegt. Es ist bis heute Bielsas letzter Titel als Trainer, wenig später endet auch die Zeit in Argentinien wieder.

13 Schritte in Bilbao, vier Übersetzer in Marseille, zwei Tage in Rom

Bielsa geht drei Monate ins Kloster, lässt sein Telefon zu Hause und nimmt 30 Bücher mit, ehe er als Trainer weitermacht. Seinen Stil behält er bei; ob bei Athletic Bilbao, Olympique Marseille oder der chilenischen Nationalmannschaft. Dass er keine Medaillen oder Pokale mehr holt, nehmen sie ihm kaum übel, weil er jeden Verein oder Verband umkrempelt - und sich als Typ nie verstellt. In Bilbao, bei den stolzen Basken, geht er aus Aberglaube in seiner Coaching-Zone jedes Mal 13 Schritte vor und zurück. In Marseille suchen vier Übersetzer binnen einer Saison das Weite, weil Bielsa sie überfordert. Manchmal hält er Pressekonferenzen über mehrere Stunden, weil es ihm wichtig ist, jede Frage eines Journalisten bis ins letzte Detail zu beantworten.

Bei Lazio Rom kündigt er nach zwei Tagen wieder, weil die versprochenen Neuzugänge nicht kommen. Und in Chile revolutioniert er das Verständnis von Fußball, formt den Außenseiter bei der WM 2010 mit seinem "Bielsa-Ball" zu einer der ansehnlichsten Mannschaften und legt den Grundstein für Jorge Sampaoli und die zwei Copa-Erfolge 2015 und 2016.

Marcelo Bielsa

Hauptsache Eimer! Marcelo Bielsa auf seinem inzwischen gesponserten Lieblingsplatz. Getty Images

In einer ergebnisorientierten Sportwelt, in der TV-Verträge völlig ausarten und Spieler nur noch wertvoll sind, wenn sie für einen dreistelligen Millionenwert gekauft werden, ist es Bielsa vor allem wichtig, dass sein Team das schöne Spiel am Leben erhält. Währenddessen sitzt er in jeder Partie am Seitenrand auf einer Kühlbox oder einem Eimer. (Das mit dem Eimer ist so ein Renner, dass sich sogar ein Sponsor dafür findet.)

In Leeds geht er im Trainingsanzug in den Supermarkt und verlost ein Auto

Seit 2018 ist Bielsa nun Trainer bei Leeds United und hat den Zweitligisten nach Jahren der Bedeutungslosigkeit von einer Lachnummer zum Aufstiegskandidaten Nummer eins geformt. Die Einwohner Yorkshires haben ihn ins Herz geschlossen, weil er im Leeds-Trainingsanzug im Supermarkt erscheint; weil er selbst seine Assistenten vom Training verbannt, wenn sie nicht hundertprozentig konzentriert wirken; weil er beim Spionieren des Gegners erwischt wird und die 200.000-Pfund-Strafe aus eigener Tasche bezahlt; weil er Konkurrent Aston Villa mitten im Aufstiegsrennen ein Tor schenkt und dafür später den Fair-Play-Award der FIFA erhält; weil er vor Weihnachten von seinem Geld ein Smartphone, einen Laptop, einen Fernseher und einen VW Polo kauft und alles unter seinen Mitarbeitern verlost. Das Auto gewinnt übrigens der Zeugwart, verkauft es und teilt die 11.000 Pfund mit seinen Kollegen.

Seine Spieler haben ihn ins Herz geschlossen, weil er sie besser macht; weil er so trainieren lässt, wie er das Spiel sehen möchte; weil selbst beim Training jeder Grashalm gleich lang sein muss; weil er auf und abseits des Feldes nahbar bleibt - und weil sie einen schönen Fußball spielen.

Am Klubzentrum ließ er sich Wohnzimmer und Küchenzeile einbauen

Jeden Morgen geht Bielsa die 45 Minuten von seinem Haus in Wetherby zum Trainingszentrum in Thorp Arch zu Fuß, mit Kopfhörern und Rucksack bewaffnet. Journalisten, die vorbeifahren und anbieten, ihn mitzunehmen, sagt er höflich ab. "Ich gehe gerne." Oft zu Hause ist er sowieso nicht. Bei den Renovierungsarbeiten am Klubzentrum hat er sich ein kleines Wohnzimmer und eine Küchenzeile in sein Büro setzen lassen, damit er nach stundenlangem Video-Studium gleich am Arbeitsplatz übernachten kann.

"Es ist nicht wichtig, wie viele Titel er gewonnen hat", sagt Guardiola über seinen Lehrmeister. "Wichtig ist, was er für einen Einfluss auf den Fußball und seine Spieler hat."

In Rosario haben sie das nicht vergessen. Seit 2009 trägt das Stadion von Newell's seinen Namen. Und als der Klub sein Gelände umbauen will, spendet Bielsa "seinem Verein" über zwei Millionen Euro. "Das ist keine Spende", sagt er. "Das ist der Klub, der mich geformt hat. Das ist mehr wert als mein Geld."

Mario Krischel