Champions League

Mauricio Pochettino im Porträt: Es begann mit einer Bettdecke

Tottenhams Trainer im Porträt

Mauricio Pochettino: Es begann mit einer Bettdecke

"He's Magic, you know?" - Mauricio Pochettino.

"He's Magic, you know?" - Mauricio Pochettino. Getty Images

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 28. Mai 2019 vor dem Champions-League-Finale zwischen Tottenham und Liverpool.

Es gibt da die Geschichte von einem Fußballer, der heute leider keiner mehr sein kann. 2014 stand er bei der Passkontrolle am Flughafen in Seattle neben Mauricio Pochettino und unterhielt sich mit seinem Trainer, der ihn kaum kannte. Ryan Mason, damals 23, war bei Tottenham noch gar nicht zum Zug gekommen, spielte auf Leihbasis in Yeovil, Doncaster, Millwall, Lorient und Swindon. "Nach 20 Minuten", erinnert sich Pochettino gegenüber "joe.co.uk" an die Unterhaltung, "habe ich Jesus (Perez, sein Co-Trainer, d. Red.) gesagt: Ich mag Mason - er braucht unsere Hilfe."

Mason kam aus dem eigenen Nachwuchs, "war aber immer verletzt oder verliehen". Eines Tages habe Pochettino ihn im Fitnessstudio entdeckt, niedergeschlagen und ohne Selbstvertrauen. In Seattle, während der Vorbereitung auf Pochettinos erste Saison als Tottenham-Trainer, arbeiteten sie gemeinsam an seinem Taktikverständnis, "und Mason war der cleverste Spieler". Zurück in London versprach Pochettino, ihn nicht wieder zu verleihen. "Du bekommst die Chance, dich zu zeigen." Er debütierte ausgerechnet im Nord-London-Derby bei Arsenal (1:1) "und war gut".

Mason spielte insgesamt 70-mal für Tottenham, lief sogar einmal für die Nationalmannschaft auf und suchte 2016 eine neue Herausforderung bei Hull City. Ein halbes Jahr später erlitt er einen folgenschweren Schädelbruch im Spiel gegen Chelsea. Mit 25 musste Mason seine Spielerkarriere beenden - Pochettino holte ihn daraufhin nach London zurück, heute arbeitet der mittlerweile 27-Jährige bei den Hotspur an seiner Trainerlizenz.

1985 schaut Bielsa mitten in der Nacht unter Pochettinos Bettdecke

Pochettino ist so, war immer schon so: "Wenn du dich für die Menschen interessierst, findest du so viel über sie heraus. Es ist unglaublich, wie viele Spieler du verpasst oder wegwirfst, nur weil du nicht mal 20 Minuten mit ihnen reden wolltest." Er weiß, wie das ist, wenn der Trainer an einen glaubt. Auch wenn er dafür aus dem Schlaf gerissen wurde.

Die Geschichte des Spielers Pochettino begann so verrückt wie ihr Herausgeber: El Loco, der Verrückte. Marcelo Bielsa fuhr 1985 mitten in der Nacht zwei Stunden von Rosario nach Murphy, klingelte bei Pochettinos Eltern, stampfte vor bis ins Kinderzimmer von Mauricio, hob die Bettdecke an und befand: "Das sind Beine eines Fußballers." Pochettino folgte den charmanten Lockrufen des Verrückten zu Newell's Old Boys, wurde Profi, wechselte nach sechs Jahren zu Espanyol Barcelona und machte insgesamt über 500 Spiele als Innenverteidiger, später noch für PSG, Bordeaux und wieder Espanyol.

Schon damals, mit Ende 20, so beschreiben es alte Weggefährten, habe Pochettino wie ein Trainer agiert, ständig Verantwortung übernommen und sich um alle gekümmert. "Ich spüre die Leidenschaft, Spieler zu trainieren", sagt er heute. "Eine Gruppe von Menschen anzuführen, die für dasselbe Ziel arbeiten."

Trainer statt Präsident: Pochettino kann sogar Peps Überteam ärgern

Pochettino mit Pep Guardiola

Der Kleine gegen den Großen: Espanyol-Trainer Pochettino mit Pep Guardiola. Getty Images

Auch die Geschichte des Trainers Pochettino ist verrückt, diesmal war der Verrückte aber nicht direkt beteiligt. Im Januar 2009 übernahm Pochettino das Traineramt bei Espanyol, wo er zuvor noch mit dem Posten jenes Präsidenten in Verbindung gebracht worden war, der den Spieler Pochettino drei Jahre zuvor noch mehr oder weniger loswerden wollte. Pochettino rief Dani Sanchez Llibre deshalb selbst an, erklärte ihm, er wolle nicht Präsident werden, wurde stattdessen kurz darauf Trainer. Llibre gab später zu, dass er ihn ohne diese Offenheit nie geholt hätte.

Die abstiegsbedrohten Katalanen führte er von Platz 18 auf zehn und in den kommenden vier Spielzeiten stets auf einen Rang im gesicherten Mittelfeld.

Dass Pochettino heute Premier-League-Coach ist, hat er dabei auch einem Zufall zu verdanken. Philippe Coutinho war damals Spieler bei Espanyol, ausgeliehen von Inter Mailand, und sollte von Southampton-Boss Nicola Cortese am letzten Spieltag der Saison 2012/13 beobachtet werden. Dem fiel beim 1:1 gegen Sevilla zwar auch der Brasilianer auf - Coutinho erzielte in der 77. Minute den Ausgleich -, besonders aber die Spielweise des Teams und die Gesten des Trainers hinterließen Eindruck beim Italo-Schweizer.

Southampton holt Pochettino - zum Unmut der Southampton-Fans

Sechs Monate später nahm Pochettino seinen Hut, Espanyol war mit nur zwei Siegen aus 13 Spielen Letzter, doch er hatte mit seiner dominanten Spielphilosophie, dem geordneten Aufbau aus der Abwehr, der Aggressivität ohne den Ball und mit einem Sieg im Camp Nou gegen Pep Guardiolas Übermannschaft auf sich aufmerksam gemacht - und Cortese wurde umgehend aktiv. Er überzeugte Pochettino von Southampton, obwohl der Argentinier überhaupt kein Englisch sprach und sein Assistent Jesus Perez in den Verhandlungen als Übersetzer einspringen musste.

Im Januar 2013 machte Southampton Pochettinos Verpflichtung offiziell - sehr zum Unmut der Fans. Nigel Adkins, sein wegen ihm entlassener Vorgänger, hatte die Saints innerhalb von drei Jahren aus der dritten Liga in die Premier League zurückgebracht, war bei den Anhängern beliebt und lag zum Zeitpunkt seiner Entlassung - Southampton hatte gerade ein 2:2 bei Chelsea geholt - drei Zähler über dem Strich.

"Es war die schwierigste Zeit meines Lebens", erklärte Pochettino "joe". Als 14-Jähriger hatte er sein Elternhaus wegen des verrückten Bielsa verlassen, zog später nach Spanien, nach Frankreich und wieder nach Spanien. "Aber der Schritt nach England war der härteste Test." Die erste Nacht im Hotel in Southampton, vor dem ersten Training, habe er kein Auge zugemacht und "gezittert".

Pochettino mit Adam Lallana

In Southampton: Pochettino mit dem jetzigen Liverpooler Adam Lallana. Getty Images

Seine Frau hatte zu diesem Zeitpunkt schon zwei Unterrichtsstunden bei einer Englischlehrerin vereinbart. Das Problem: "Es war so langweilig." Die Lehrerin probierte es deshalb mit einem anderen Ansatz. "Lass uns mit einem Song lernen", habe sie gesagt. "Skyfall" von Adele lief fortan in Dauerschleife. Es funktionierte. "Immer, wenn ich das Lied jetzt höre, muss ich lachen."

Der Unsicherheit folgte die Zuversicht, nicht nur bei Pochettino, auch bei den Fans. Von seinen ersten zwölf Partien als Saints-Coach verlor Pochettino nur drei, gewann gegen Manchester City, Liverpool und Chelsea. "Ich konnte nichts auf Englisch sagen, aber ich habe sie (die Spieler und Mitarbeiter, d. Red.) an mich glauben lassen." Southampton hielt die Klasse und wurde im Jahr darauf mit einer jungen, spielfreudigen Mannschaft Achter hinter ManUnited.

In Tottenham ging es nur müßig los - auch wegen Bentaleb

Es folgte der große Ausverkauf: Die Spieler gingen (nach Liverpool und Manchester) und Pochettino ging (nach London). Nach nur anderthalb Jahren an der Südküste folgte er bei Tottenham auf Andre Villas-Boas und Tim Sherwood, wieder hielt sich die Euphorie trotz Tabellenplatz fünf in der ersten Saison in Grenzen. Pochettino hatte stur auf sein 4-2-3-1-System beharrt, die Spurs qualifizierten sich nur aufgrund der noch schwächeren Konkurrenz für die Europa League, mit einem Torverhältnis von +5.

Der Argentinier musste bald feststellen, dass Ryan Mason, auch wenn er ihn mochte, und Nabil Bentaleb nicht die Lösung im Mittelfeld waren. Sie kamen nicht zurecht mit dem frühen Pressing in der gegnerischen Hälfte. Lediglich Moussa Dembelé, auf den Pochettino - warum auch immer - lange verzichtet hatte, sorgte für etwas Balance im Zentrum.

Früchte trug Pochettinos Idee vom schnellen, organisierten Spiel erst mit etwas Anlauf, und schon 2015 zeichnete dieses Tottenham etwas Einzigartiges aus: Während die Konkurrenz begann, Containerladungen an Geldscheinen zu verschiffen, verzeichneten die Spurs auf dem Transfermarkt mehr Einnahmen als Ausgaben. Pochettino baute stattdessen auf zwei robuste Sechser, die er schon zur Verfügung hatte (Eric Dier und Dembelé), und schickte Teenager Dele Alli ins kreative Zentrum. Es lief besser: Tottenham zog als Dritter in die Champions League ein, wurde am letzten Spieltag aber noch durch ein desolates 1:5 in Newcastle von Erzrivale Arsenal überholt und hatte nach wie vor keinen wirklichen Plan B.

Andere brauchen vielleicht nur einen Emoji in der Woche.

Pochettino kümmert sich um seine Spieler

"Ich muss meine Entscheidungen nicht rechtfertigen", versichert Pochettino. Er sorgte auch so für ein komplett neues Bild innerhalb des Vereins. "Ich behandle jeden gleich; ob er 17 oder 30 ist, ob er viel spielt oder wenig - meine Tür steht immer offen." Pochettino zeichnet jede Trainingseinheit, jede Sekunde seiner Spieler im Fitnessstudio auf. "Ich muss alles wissen, was einen Einfluss auf sie haben könnte." Dafür sind nicht nur Teammeetings, sondern Einzelgespräche nötig. "Manchmal auch nur eine WhatsApp", sagt er. "Manche Spieler müssen wissen, dass du immer für sie da bist. Andere brauchen vielleicht nur einen Emoji in der Woche."

Jahr drei bedeutete den endgültigen Durchbruch. Aufgrund von massiven Verletzungssorgen stellte der Argentinier im Dezember 2016 erstmals auf eine Dreierkette um und es funktionierte. Die Spurs konnten mit den offensiven Außenverteidigern noch mehr Druck im offensiven Drittel erzeugen, wurden torgefährlicher und defensivstärker zugleich. Alli rückte vermehrt vor zu Torschützenkönig Harry Kane ins Sturmzentrum, erzielte 22 Treffer selbst und bereitete 13 vor.

Tottenham wurde mit überragenden 86 Punkten, 86 Toren und nur 26 Gegentreffern Zweiter. Nach der Umstellung aufs 3-4-3 waren die Spurs flexibel, hatten 15 von 19 Spielen gewonnen, und Pochettino ohne den Transfer-Wahnsinn einen Champions-League-Dauergast geformt. "Mauricio Pochettino", sangen die Fans, "he's Magic, you know?"

Pochettino und sein Team nach dem Drama in Amsterdam

Pochettino und sein Team nach dem Drama in Amsterdam. Getty Images

Auf einen Titel wartet er noch, vielleicht wird es ja was am Samstag gegen Liverpool. Vielleicht auch nicht. "Wir schaffen gerade ein Vermächtnis", versichert Pochettino. "Ich sehe eine Zukunft, in der Tottenham Titel gewinnt."

Es ist ein bisschen wie bei Klopp, schließlich wäre es für beide die erste Silberware als Premier-League-Trainer. Es ist auch ein bisschen wie bei Klopp, weil eh längst jeder an das glaubt, was Pochettino da macht. "Natürlich wollen wir gewinnen", sagt der Argentinier mit den Beinen eines Fußballers. "Aber ich finde, du kannst nichts kreieren, ohne daran zu glauben." Zum ersten Mal überhaupt steht der Verein in einem Europapokal-Finale, nur Manchester City hat seit Pochettinos Ankunft in Nordlondon mehr Punkte in der Premier League geholt.

Verlässt Pochettino Tottenham bei einem Champions-League-Sieg?

Und jetzt ist ja auch noch das neue Stadion fertig, dieses milliardenteure Ding, wegen dem ein Jahr kein Cent in neue Spieler gesteckt wurde. Es soll endgültig dafür sorgen, dass Tottenham, über Jahre nur der "Nah-dran-Klub", den letzten Schritt zur absoluten Elite geht.

Egal, was passiert: Tottenham spielt auch nächstes Jahr in der Champions League; einen Ausschluss wegen Verstößen gegen das Financial-Fairplay haben die Spurs im Gegensatz zum Ligakonkurrenten ManCity ganz sicher nicht zu befürchten. Nur bei Pochettino ist die Situation noch immer nicht ganz klar. Geht er, wenn Tottenham die Champions League gewinnt?

Nach dem Halbfinal-Drama in Amsterdam, als er noch tränenüberströmt auf die Knie gefallen war, hatte er merkwürdige Andeutungen gemacht. "Das war kein Witz. Die Champions League zu gewinnen, unter diesen Umständen, in dieser Saison - das wäre ein Wunder, und das zu wiederholen..."

Mario Krischel