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WM-Star Neymar? Der Superspieler, den kaum einer sieht

Wird Neymar der große Star in Katar?

Der Superspieler, den kaum einer sieht

Im Scheinwerferlicht: Neymar.

Im Scheinwerferlicht: Neymar. IMAGO/PanoramiC

Da, wo Neymar herkommt, ist es gefährlich. "Social Media … ich glaube, dass es mehr schadet als hilft", grübelte Brasiliens Schlüsselspieler vergangenen Sommer in einem Livestream - wer wüsste das besser als er?

Zusammenschnitte seiner Dribbeleinlagen auf der Plattform YouTube hatten den inzwischen 30-Jährigen einst weltberühmt gemacht, "New Ronaldo"- oder "Next Messi"-Kommentare die Kommentarspalten geflutet. Das Phänomen Neymar war irgendwo tatsächlich ein neues Level, zehn bis zwölf Jahre ist das jetzt her.

Während einer ganzen Generation nachwachsender Fußballliebhaber kollektiv die Kinnlade zu Boden fiel, wenn dieser Dribbelwütige mit den dünnen Beinen und den wilden Frisuren seine Show abzog, winkten ältere Semester längst provisorisch ab. Nur brotlose Kunst, nur die brasilianische Liga, nur YouTube. Neymar war der YouTube-Fußballer, damit fing alles an.

Das Sportliche rückt in den Hintergrund

Es war mehr Schaden als Hilfe für ein Ausnahmetalent, das beim Confed-Cup-Sieg 2013 überragte, anschließend zum FC Barcelona wechselte und dort schon in seiner zweiten Saison sowohl Champions-League-Sieger als auch -Torschützenkönig wurde. Bis zu seiner Verletzung im Viertelfinale gegen Kolumbien spielte er 2014 auch eine ziemlich starke Heim-WM. Der konnte doch wirklich was.

Dass sich angebrachte Anerkennung jenseits von Brasilien und Barcelona aber nur die wenigsten abringen konnten, hatte wieder etwas mit den sozialen Medien zu tun - wo inzwischen nicht mehr Neymars fußballerische, sondern seine schauspielerischen Showeinlagen dominierten. Wenn jede deiner Verfehlungen aufgezeichnet und tausendfach verbreitet wird, ist es schwer, so bliebt zu werden wie Ronaldinho.

Schuldlos an einer zweifelhaften Reputation, die sich zu den Vorschusslorbeeren aus den YouTube-Kommentaren gesellt, ist Neymar freilich nicht. So oft er auch getreten wird. Ein eigentlich relativ harmloser Tritt, den er am 27. Juni 2018 bei der Weltmeisterschaft vom Serben Adem Ljajic einstecken musste, brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Eine vielfache Rolle an der Seitenlinie meißelte die Rolle des wohl drittbesten Fußballers seiner Zeit quasi in Stein. Social Media kam kaum noch hinterher.

Nach jenem Gruppenspiel bei der WM in Russland hatten viele mit Neymar abgeschlossen, der sich schon mit seinem 222-Millionen-Euro-Wechsel zu Paris Saint-Germain ein Jahr zuvor kaum neue Freunde gemacht hatte. Für sie war er spätestens von diesem Moment an nur noch der überteuerte Schwalbenkönig, in ihren Augen rollt er noch immer. Ganz egal, was er sonst so tut.

Die vielversprechendsten Youngster der WM 2022

Dass die Leistungen des Angreifers, wenn ihn nicht gerade Verletzungen aus der Bahn warfen, gehobene Weltklasse blieben, blenden große Teile der Fußballwelt erfolgreich aus. Dass er in der laufenden Saison - in 20 Pflichtspielen für PSG - schon wieder bei 15 Toren und zwölf Vorlagen steht; dass er als Teamplayer auch defensiv wertvoll geworden ist; dass es seit Jahren kaum einen besseren Nationalspieler gibt (75 Länderspieltore), der den legendären Pelé (77 Treffer) in diesen Tagen als Brasiliens Rekordtorschütze ablösen dürfte - viele kriegen das gar nicht mehr mit. Sie wollen es gar nicht mitkriegen.

Das ist meine letzte WM.

Neymar im Herbst 2021

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Neymars Vorschusslorbeeren verpflichten. Wenn er so toll ist, warum hat er seit seinem Abgang aus Barcelona dann nicht mehr die Champions League gewinnen können - wegen der er in erster Linie nach Paris geholt worden war? Warum feierte Brasilien die Copa America 2019 ohne ihn, um zwei Jahre später das Finale mit ihm zu verlieren? Der große Titel als Hauptfigur fehlt ihm noch. Und hier kommt die WM in Katar ins Spiel.

Paqueta, Neymar, Raphinha

Die neue Generation um Paqueta (li.) und Raphinha tanzt folgsam nach Neymars Takt. IMAGO/PanoramiC

"Ich würde mein Leben dafür geben", sagt ein mindestens spielerisch gereifter Neymar über eine Weltmeisterschaft, die er vergangenes Jahr schon als "meine letzte" ankündigte. Dabei geht es für ihn gar nicht darum, seinen ramponierten Ruf aufzupolieren - das wäre höchstens ein netter Nebeneffekt. Neymar hat ganz andere Sorgen. Im Land des seit 2002 wartenden Rekordweltmeisters erwartet man von seinem Anführer nichts anderes als den ganz großen Wurf.

Zehner und Leitwolf - Auftakt gegen Serbien

Weil hinter den meisten europäischen Fußballmächten bis zuletzt Fragezeichen standen und Brasilien seinen besten Kader seit langem entsendet, ist die Seleçao im ungewissen Kreis der Titelanwärter ins Zentrum gerückt. Wie auch Neymar im brasilianischen Spiel - als klassischer Zehner, vielleicht besser denn je. Dribbelwütige Showmänner, das sind inzwischen andere. Vinicius Junior und Rodrygo von Real Madrid oder Raphinha vom FC Barcelona, die einst mit offenen Mündern vor seinen YouTube-Videos saßen - Leitwolf Neymar hat sie alle um sich geschart. Aber er muss vorangehen, und das wird er auch.

Wenn die Zauberer vom Zuckerhut am Donnerstag (20 Uhr, LIVE! bei kicker) ins Turnier einsteigen, könnte sich für Neymar ein Kreis schließen. Es geht wieder gegen Serbien. Adem Ljajic ist zwar nicht mehr dabei, und für einige liefert diese WM ohnehin ausreichend Gründe, um weiterhin wegzusehen. Weil sich rund um diesen Superspieler in den vergangenen vier Jahren aber einiges getan hat, gilt diesmal zumindest in seinem Fall: Hinschauen lohnt sich.

Niklas Baumgart

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