Int. Fußball

Unvernunft eines Besessenen: Cristiano Ronaldo am Scheideweg

Platz drei beim Ballon d'Or schmeichelhaft

Unvernunft eines Besessenen: Cristiano Ronaldo am Scheideweg

Warf 2019 Fragen auf: Cristiano Ronaldo.

Warf 2019 Fragen auf: Cristiano Ronaldo. Getty Images

Cristiano Ronaldo war kein Rivale, dieses Jahr nicht. Im Rennen um den nach wie vor prestigeträchtigen Ballon d'Or, den Champions-League-Sieger Virgil van Dijk (679 Stimmen) denkbar knapp Lionel Messi (686) überlassen musste.

Die Lage im CR7-Lager ist angespannt

Doch jene angeblich im Scherz getroffene Äußerung des Niederländers, dass Cristiano Ronaldo 2019 kein Rivale gewesen sei, löste via dessen Schwester Katia ein kleines Social-Media-Beben aus. Das verdeutlichte, wie angespannt die Lage im CR7-Lager aktuell ist.

Nach einem Jahr, in dem der Portugiese für die höchsten Auszeichnungen tatsächlich nicht in Frage kam. Er musste sich parallel zur großen Gala damit begnügen, als bester Spieler der abgelaufenen Serie-A-Saison beklatscht zu werden - freilich nur ein Trostpreis, während Dauergegner Messi im Ballon-d'Or-Rennen wieder auf 6:5 davonzog.

Erzwunges Lächeln: Bei den Serie-A-Awards räumte CR7 ab, beim Ballon d'Or ging er leer aus.

Erzwungenes Lächeln: Bei den Serie-A-Awards räumte CR7 ab, beim Ballon d'Or ging er leer aus. Getty Images

CR7 wurde immerhin Dritter (476 Stimmen), vor Sadio Mané, Kylian Mbappé oder Robert Lewandowski. Selbst die Treppchen-Platzierung wirkte ein kleines bisschen schmeichelhaft. Natürlich hatte er wieder seine großen, auch seine ganz großen Momente. Doch Cristiano Ronaldo konnte 2019 nur überraschend punktuell glänzen. Für Steve Nicol, einst ebenfalls Liverpool-Verteidiger und inzwischen als Experte für ESPN tätig, zählt der 700-Tore-Mann nicht einmal mehr zu den besten fünf Spielern der Welt.

'Alle Bälle zu Cristiano' gilt in Turin nicht

In Turin läuft es noch nicht wie in Madrid, weil es in Turin noch nicht so läuft wie in Madrid. Nicht jeder Ball wird im letzten Drittel sofort zum Portugiesen gespielt, nicht jede Flanke segelt einstudiert in den Laufweg des exzellenten Kopfballspielers. Wie es bei Real war und in der portugiesischen Nationalmannschaft der Fall ist - alle Bälle zu Cristiano.

Cristiano Ronaldo hat sich als Spielertyp längst verändert, angepasst, aber dadurch auch etwas limitiert. Ein Prozess, der bei Real Madrid begonnen hatte, doch dort schlug er dennoch regelmäßig zu, war immer zur Stelle.

Cristiano hat es riskiert, das weltbeste Team zu verlassen und in Italien zu spielen - wo es schwer ist, Tore zu schießen. Dieses Risiko sollte wertgeschätzt werden.

Der portugiesische Trainer André Villas-Boas

Italienischer Torschützenkönig wurde 2018/19 ein anderer: Fabio Quagliarella, der sogar noch zwei Jahre älter ist als CR7. Aber die Liga kennt. "Cristiano hat es riskiert, das weltbeste Team zu verlassen und in Italien zu spielen - wo es schwer ist, Tore zu schießen. Dieses Risiko sollte wertgeschätzt werden", meint Landsmann und Marseille-Trainer André Villas-Boas. Doch der spektakuläre Wechsel ist inzwischen anderthalb Jahre her.

Dem Ausnahmeathleten, der im Februar bereits seinen 35. Geburtstag feiert, sind Agilität und Spritzigkeit abhandengekommen. Sahne-Auftritte werden seltener, selbst seine Siegtreffer erzielt er nicht mehr wöchentlich - und dann meist per Elfmeter. Cristiano Ronaldo ist nicht mehr der Dribbler von Manchester United, nicht mehr die epochale Wucht von Real Madrid. Er ist eine reine Tormaschine geworden in einer Liga, in der es Tormaschinen so schwer haben wie sonst nirgends. Oder steckt etwa mehr dahinter?

Mehrere Monate Pause? Für CR7 wohl undenkbar

Cristiano Ronaldo wurde 2019 auch zum Opfer seiner eigenen Unvernunft. Juves Rekordtransfer laboriert laut diversen Berichten seit geraumer Zeit an einer hartnäckigen Knieverletzung, die ihn spürbar einschränkt - physisch wie psychisch. Die Blessur bedürfte einer intensiven Behandlung, angeblich gar einer Operation, in deren Folge Cristiano Ronaldo mindestens zwei Monate ausfallen würde.

Ein Opfer, das der überehrgeizige Ausnahmekönner nicht bereit ist zu bringen. Der im steten Kräftemessen mit Messi nicht pausieren, und auch generell einfach immer spielen will. Die Unvernunft eines Besessenen. So bleibt CR7 weiterhin hinter den 100 Prozent seines Leistungsvermögens sowie den eigenen Erwartungen zurück. Und 2019 wird für ihn irgendwo zu einem verlorenen Jahr.

Kommen offenbar gut miteinander aus: Juve-Trainer Maurizio Sarri und sein Superstar.

Kommen offenbar gut miteinander aus: Juve-Trainer Maurizio Sarri und sein Superstar. Getty Images

Der problematische Umgang mit der eigenen Schwäche

Die aufsehenerregenden Auswechslungen im Verein, angebliche Unstimmigkeiten mit Trainer Maurizio Sarri - Falschmeldungen, zumindest in der medial häufig präsentierten Form. Das Verhältnis zum Trainer sei gut, vor der ersten Auswechslung gegen Milan hatten Kamerateams eingefangen, wie CR7 sich ans Knie fasste und per Zeichen an die Seitenlinie selbst um den Spielertausch bat. Frust bei dessen Vollzug wurde offenbar falsch interpretiert.

"Ich habe einfach versucht, Juve zu helfen, ich spiele seit Wochen angeschlagen", begründete Cristiano Ronaldo, dem es trotz eigener Einsicht ("Ich verstehe die Auswechslungen, ich war nicht gut") schlicht nicht gefalle, vom Feld genommen zu werden. Da war sie trotz allem Verständnis wieder, diese Besessenheit. Die den Abfall von Leistung und noch mehr von Konstanz vielleicht besser erklärt als alle anderen Faktoren.

Cristiano Ronaldo am Scheideweg

2020, wenn Juve mit Antonio Contes Inter Mailand einen ebenbürtigen Meisterschaftsgegner und auch in der CL kein leichtes Spiel zu haben scheint, wird sich zwangsläufig zeigen, ob Cristiano Ronaldo einmal mehr im großen Stil zurückschlagen wird. Oder ob sein Sonderstatus der letzten Jahre und Jahrzehnte allmählich schwindet.

Niklas Baumgart