Europa League

Wie viel Märchen steckt wirklich in Union Saint-Gilloise?

Ein Pokerspieler und Big Data

Wie viel Märchen steckt wirklich in Union Saint-Gilloise?

Kann er in die Fußstapfen von Deniz Undav treten? Dennis Eckert Ayensa (#9).

Kann er in die Fußstapfen von Deniz Undav treten? Dennis Eckert Ayensa (#9). IMAGO/Panoramic International

In Europa dürfte bis vor einigen Monaten kaum jemand die Royale Union Saint-Gilloise gekannt haben. Das hat sich allerdings in der vergangenen Saison grundlegend geändert - die Story war doch zu gut und erinnert zumindest in Deutschland ein wenig an den 1. FC Kaiserslautern. Der belgische Klub ist zweifellos ein Traditionsverein, doch sportlich erfolgreich war er eben schon ewig nicht mehr - bis in die vierte Liga ging es zeitweise hinunter. In der weit über hundertjährigen Geschichte liegen die insgesamt elf Meisterschaften entsprechend lange zurück, zuletzt ging der Titel 1935 an den Verein aus der Hauptstadt Brüssel. 

Doch in der letzten Saison wurde der Aufsteiger fast Meister. Das Märchen fand nur deswegen kein Happy End, weil die besten vier Teams der Jupiler Pro League dummerweise noch in eine Meisterrunde müssen. Dort kürte sich dann doch Club Brügge zum Meister. 

Das Stadion ist ein marodes Schmuckstück

Stade Joseph Marien

Kaum von den umliegenden Häusern zu unterscheiden: Das Stade Joseph Marien. imago/Belga

Doch wie viel modernes Fußballmärchen steckt im Klub? Allein das Stadion dürfte die Herzen vieler Romantiker höherschlagen lassen. Das Stade Joseph Marien ist seit 1919 die Heimspielstätte des 1897 gegründeten Vereins, und so sieht es auch aus. Über die Chaussee de Bruxelles kommend, fällt es zwischen den Wohnhäusern kaum auf. Der marode Charme bleibt auch im kleinen Rund des knapp 10.000 Zuschauer fassenden Stadions erhalten. Fast schon bedauerlich, dass eine neue und größere Arena geplant ist.

Bemerkenswert ist natürlich auch der kometenhafte Aufstieg von Deniz Undav. Der Ex-Meppener war im Sommer 2020 über die 3. Liga nach Belgien gekommen. In der Saison 2020/21 steuerte er 17 Tore zum Aufstieg bei. Vor seinem Wechsel im Sommer in die Premier League zu Brighton & Hove Albion ließ er letzte Saison noch mal 25 Treffer folgen. 

Undav: "Ich wollte unbedingt Teil des Projekts sein"

"Der Plan des Klubs war, so schnell wie möglich in die 1. Liga aufzusteigen. Das hat meine Lust auf den Wechsel natürlich befeuert - ich wollte unbedingt Teil des Projekts sein", hatte Undav im Januar im kicker-Interview seinen Wechsel nach Belgien erklärt. "Dass wir den Verein dann tatsächlich schon im Sommer 2021 erstmals seit mehr als 50 Jahren zurück in die höchste belgische Liga gebracht haben, war ein überragendes Gefühl."

Aufstiegsparty 2021

Aufstiegsparty: 2021 kehrte Union Saint-Gilloise in die erste belgische Liga zurück.  BELGA MAG/AFP via Getty Images

Ein deutscher Millionär und ein Pokerspieler aus England

Doch wie ist es zu erklären, dass Union Saint-Gilloise überhaupt wieder aus den Tiefen des belgischen Fußballs aufgetaucht ist? Hier beginnt der weniger romantische Teil, der eben auch zur Geschichte gehört und über einen deutschen Millionär zu einem pokernden Engländer führt.

Zunächst stieg der deutsche Multimillionär Jürgen Baatzsch beim belgischen Klub ein und wurde dort 2015 Präsident. Die nächste Entwicklungsstufe folgte 2018, als Tony Bloom die Mehrheit vom Deutschen übernahm. Der Engländer ist als Fußball-Investor kein Unbekannter und mit seinem Geld Vorsitzender beim Premier-League-Klub Brighton, dem er schon als Kind als Fan verbunden war.

Bloom ist studierter Mathematiker und verdiente sein Vermögen unter anderem beim Pokern und mit Sportwetten. Mit den Seagulls ist ihm zwar der Aufstieg in die Premier League gelungen, doch ein Meister-Coup, wie ihn Underdog Leicester 2016 geschafft hatte, ist derzeit unerreichbar.

Belgisches Spielzeug für reiche Millionäre

Im kleinen Belgien lässt sich da durch ein Engagement in einen Traditionsverein womöglich mit weniger Einsatz deutlich mehr erreichen - in der Jupiler Pro League tummeln sich so einige Investoren. Bloom bringt sich selbst auf sportlicher Ebene - wenn überhaupt - nur hinter den Kulissen ein. Dafür installierte er seinen langjährigen Geschäftspartner Alex Muzio.

Muzio, der auch rund zehn Prozent der Anteile am Klub hält, arbeitete in Blooms Unternehmen Starlizard über zwölf Jahre. Die Firma spielt bei alledem wohl keine ganz unbedeutende Rolle. Das Unternehmen sammelt unzählige Daten zu Spielern und Mannschaften und berät damit Sportwetter. Oder wird hier auch bei der Verpflichtung von Spielern auf Big Data zurückgegriffen?

Datenbasierte Transferpolitik ist nun nichts gänzlich Neues und findet sich beispielsweise auch bei den Klubs Brentford (England) und Midtjylland (Dänemark). Hinter Brentford steht mit Matthew Benham ebenfalls ein Multimillionär, der viel Geld mit Sportwetten verdient hat. Das Konzept hinter den Vereinen: Aufgrund von vielen Statistiken und Datenanalysen werden Spieler, die bei anderen Klubs schnell mal durchs Raster fallen, für überschaubare Summen verpflichtet. (Der Ex-Bochumer Vitaly Janelt erklärte im kicker-Interview das Prinzip Brentford.)

Syrianos: "Produkte von der Stange bieten keinen Wettbewerbsvorteil"

Georgios Syrianos, der 2021 vom VfB Stuttgart als Kaderplaner zum englischen Zweitligisten Nottingham Forest gewechselt ist, unterstützt seinen neuen Arbeitgeber mit seinen Datenanalysen und sagt gegenüber dem kicker, dass er Starlizard "sehr interessant" findet: "Es gibt mittlerweile eine Reihe an ähnlichen Firmen und Portalen. Opta, Statsbomb, MPS, Ortec etc."

Dabei gebe es leichte Abweichungen, wie die Daten erhoben werden. "Die meisten Vereine kaufen fertige Portale ein, weil sie intern nicht die Expertise haben, die Rohdaten in statistische Modelle umzuwandeln. Die Datenanbieter bieten dann eigens entwickelte Modelle zur Bewertung von Spielern", erzählt Syrianos und gibt zu bedenken: "Das Problem hierbei ist, dass Produkte von der Stange keinen Wettbewerbsvorteil bieten, wenn vier oder fünf deiner Konkurrenten innerhalb der Liga das gleiche Produkt nutzen." (Lesen Sie hier ein ausführliches Interview mit Syrianos)

Algorithmen und Datenbanken bestimmen die Transfers

Bei Union Saint-Gilloise ist jedenfalls eine bunte Truppe aus aller Herren Länder in den letzten Jahren zusammengekommen. USG dürfte seine Spieler nach ähnlichen Prinzipien rekrutieren, wie Blooms Unternehmen Starlizard den Wert von Sportwetten ermittelt: mit akribischer Datenanalyse.

Freuen sich auf Europa: die Fans von USG.

Freuen sich auf Europa: die Fans von USG. picture alliance / PRO SHOTS

Der ehemalige Erfolgs-Trainer Felipe Mazzu ist nach dem Aufstieg und der Vizemeisterschaft zum Lokalrivalen RSC Anderlecht gewechselt. Den rauen Charme in Saint-Gilles beschrieb er so: "Hier riecht es nach Gras, Hamburgern und Fritten." 

Jetzt hat Karel Geraerts das Sagen und nach dem Abgang von Undav findet sich auch wieder ein deutsches Gesicht im Kader. Dennis Eckert Ayensa (25), zuletzt beim FC Ingolstadt unter Vertrag, traf bereits drei Mal für seinen neuen Klub.  Kann er in die großen Fußstapfen von Undav treten? Dann könnten die Belgier in der Europa League ein neues Fußballmärchen schreiben. Für die jahrelang so leidgeplagten Fans des Vereins aus Brüssel ist die Sache klar.

Dieser Artikel erschien in abgewandelter Form erstmals am 13. Februar 2022.

Tobias Rudolf

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