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"Wenn du jetzt wieder extrem viele neue Elemente reinbringst, stürzt das Haus ein"

Nagelsmanns EM-Kader fußt auf Harmonie und Momentum

"Wenn du jetzt wieder extrem viele neue Elemente reinbringst, stürzt das Haus ein"

Julian Nagelsmann will begeisternden Fußball spielen und peilt den EM-Titel an.

Julian Nagelsmann will begeisternden Fußball spielen und peilt den EM-Titel an. IMAGO/Matthias Koch

Bröckchenweise war in den vergangenen Tagen der deutsche Kader für die Heim-EM zu weiten Teilen bekanntgegeben worden - und damit noch bevor Bundestrainer Julian Nagelsmann am Donnerstag in Berlin das finale Gesamtaufgebot persönlich vorstellte. Die Präsentation auf ungewöhnlichem Wege - in der Tagessschau, durch Handwerker und Privatpersonen, in Podcasts und durch Musiker oder Influencer - war als Idee in der Medienabteilung des DFB gereift und wirkte anfangs ebenso unterhaltsam wie irritierend. Wo steckte der tiefere Sinn, fragten sich manche.

"Super Truppe, könnte von mir sein"

Die Antwort lieferte am Donnerstag ein kurzer Clip, der zu Beginn der Pressekonferenz gezeigt wurde und in dem alle Personen, die in den vergangenen Tagen EM-Teilnehmer verkündet hatten, auftauchten: Die Beteiligten deckten die Vielfalt Deutschlands ab, standen für verschiedene Bevölkerungs-, Berufs- und Altersgruppen. Von der Grundschulklasse bis zu Oma Lotti aus dem Altenheim, von der Dachdeckerin zum 80er-Jahre-Popstar - es war von jedem und für jeden etwas dabei. Die passende verbale Botschaft setzte Nagelsmann schließlich selbst darunter: "Super Truppe, könnte von mir sein", sagte der Bundestrainer am Ende des Clips. "Ist aber euer Kader." Ein Kader für Deutschland.

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Es war ein weiterer cleverer Schachzug des DFB, der bereits im März durch eine frische Werbekampagne für die EM-Trikots positiv aufgefallen war. Dass die sportlichen Leistungen im März deutlich besser waren als zuvor, wirkte wie ein Katalysator für die Stimmung im Gastgeberland. Die inhaltlich wenig überraschende, aber verbindende Art der Kader-Nominierung dürfte dem Vorhaben, mit viel Euphorie ins Turnier zu starten, einen weiteren Schub geben. Auch wenn der Applaus nach der Vorstellung in Berlin erst nach expliziter Ermunterung Nagelsmanns und allenfalls zaghaft erfolgte - was angesichts des Plenums aus Journalisten allerdings auch wenig überraschte.

Nagelsmann: März-Lehrgang "der beste seit vielen Jahren"

Der 36-Jährige präsentierte sich bei der Vorstellung seines ersten Turnierkaders - der von aktuell 27 nominierten noch auf 26 Spieler reduziert werden muss - voller Tatendrang und bester Laune. Seinen Vertrag hatte er bereits vor einigen Wochen bis zur WM 2026 verlängert und damit zum Ausdruck gebracht, wie sehr er sich inzwischen mit der Arbeit als Nationaltrainer angefreundet hat. Jetzt zog auch sein Trainerteam nach - so dass nun die volle Konzentration einem erfolgreichen Turnierabschneiden gelten kann.

Julian Nagelsmann

Julian Nagelsmann bei der Kader-Bekanntgabe. AFP via Getty Images

Bereits nach den enttäuschenden November-Länderspielen gegen die Türkei (2:3) und in Österreich (0:2) hatten sich Nagelsmann und seine Assistenten intensiv darüber ausgetauscht, wie die DFB-Elf sportlich und als Gruppe wieder in die richtigen Bahnen gelenkt werden könne. Das Ergebnis dieser Diskussionen sah man im März, als eine auf vielen Positionen veränderte deutsche Mannschaft überzeugend in Frankreich (2:0) und gegen die Niederlande (2:1) gewann. "Wir hatten schon damals viele mutige Entscheidungen getroffen, die dann angefangen haben zu greifen", sagte Nagelsmann nun in Berlin. "Uns war damals das Feedback wichtig, auch der Menschen aus dem Staff, die anders als ich schon ewig dabei sind. Die haben gesagt: Das war der beste Lehrgang seit vielen Jahren - und das hat auch mit dem Umgang zu tun."

Noch ist das Gebilde fragil

Die Mischung aus erfahrenen Führungsspielern wie dem zurückgekehrten Toni Kroos, Kapitän Ilkay Gündogan, Thomas Müller oder Antonio Rüdiger und formstarken, noch unverbrauchten und vor allem nicht aus der Vergangenheit vorbelasteten Gesichtern wie Maximilian Mittelstädt, Robert Andrich oder Florian Wirtz stimmte in jenen zehn Tagen - und sorgte dafür, dass Nagelsmann nur noch minimale Veränderungen vornahm. Etwa durch die Berufung von Nico Schlotterbeck, der das von Nagelsmann im März betonte Momentum auf seine Seite ziehen konnte.

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"In diesen zehn Tagen ist eine Struktur gewachsen, die immer noch fragil ist. Wenn du jetzt wieder extrem viele neue Elemente reinbringst, stürzt das Haus ein", begründete der Bundestrainer seine finale Personalauswahl, die prominente Opfer hervorbrachte. Allen voran Leon Goretzka und Mats Hummels, der zuletzt den BVB mit starken Leistungen ins Finale der Champions League verholfen hatte. Zu Wochenbeginn hatte Nagelsmann die beiden langjährigen Führungsspieler des DFB-Teams informiert. Die Gespräche bezeichnete er am Donnerstag als "emotional, aber nicht böse".

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Enttäuschung bei Hummels und Goretzka

Beide seien enttäuscht gewesen. "Aber ich muss am Ende Entscheidungen im Sinne der Mannschaft treffen", sagte Nagelsmann, der bei der Zusammenstellung des Kaders viel Wert auf die Rollenverteilung legte - und darauf, Charaktere zu finden, die zueinander passen und es sechs Wochen am Stück miteinander aushalten. Bereits im März hatte er den Kandidaten in 20 bis 25 Minuten langen Einzelgesprächen mitgeteilt, wie er mit ihnen plant. Anschließend hatte er ein klares Bekenntnis verlangt, diese Rolle auch anzunehmen.

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Zu wenig Konkurrenzkampf fürchtet er nicht dadurch, dass seine erste Elf zu weiten Teilen steht und die Achse um Manuel Neuer, Rüdiger, Kroos, Andrich, Ilkay Gündogan, Wirtz und Jamal Musiala weitgehend steht. Eine gute Atmosphäre und sportliche Reibung würden sich nicht ausschließen. "Jeder Spieler weiß, was wir von ihm verlangen. Dazu gehört, immer Vollgas zu geben im Training. Das sorgt für Konkurrenzkampf und für Spannung", sagte Nagelsmann und ergänzte: "Harmonie ist das Fundament für gute Leistung."

Das Ziel ist der EM-Titel

Und die soll am Ende zum Titel führen. Dieses Ziel gab Nagelsmann in Berlin aus, ohne es zum Maß aller Dinge zu erklären. "Wenn wir schon teilnehmen, dann sollten wir auch gewinnen wollen", sagte der Bundestrainer. Der Kader sei "sehr gut", die Stimmung im Land sei positiv. Dann verwies er auf sein Bauchgefühl, das vor Spielen oft zutreffend wäre. "Und ich habe das Gefühl, dass wir das Turnier gewinnen können." Für den Fall, dass am Ende nicht der Titel herausspringt, hat Nagelsmann allerdings ebenfalls einen Wunsch: "Ich will als Trainer unterhalten werden von meiner Mannschaft. Ich will, dass es begeisternd ist. Denn ich verstehe den Fußball auch als Unterhaltungsbranche", sagte er. "Ich will versuchen, den Titel zu gewinnen. Aber wenn ich merke, wir begeistern die Menschen, sie können sich mit der Mannschaft identifizieren - dann ist es vielleicht auch möglich, die EM als gut zu bewerten, wenn es nicht der Titel ist."

Der Start war schon einmal vielversprechend. Nicht allein wegen Oma Lotti.

Matthias Dersch