3. Liga

Leonardo Scienza: Was ein Corona-Test mit dem Höhenflug zu tun hat

Ulmer ist zur Winterpause notenbester Drittliga-Spieler

Was ein Schalke-Scout und ein Corona-Test mit Scienzas Höhenflug zu tun haben

Ein Notenschnitt von 2,41: Leonardo Scienza hat die 3. Liga ordentlich durcheinandergewirbelt.

Ein Notenschnitt von 2,41: Leonardo Scienza hat die 3. Liga ordentlich durcheinandergewirbelt. IMAGO/Nordphoto

Ein Zimmer im Kellergeschoss, etwa viermal fünf Meter groß, keine Fenster, ein Schrank, eine Matratze, eine Tasche. Darin: Das gesamte Leben von Leonardo Weschenfelder Scienza. Nach Enköping, einer schwedischen Gemeinde etwa 80 Kilometer nordwestlich von Stockholm gelegen, war der gebürtige Brasilianer eigentlich gekommen, um Profi zu werden. Fortan lebte er aber in einem Raum unter dem Haus des Vereinsbosses. Dass er den Keller gegen eine Altstadtwohnung und den schwedischen Fünftligisten gegen einen deutschen Drittliga-Topklub eingetauscht hat, verdankt der 25-Jährige einem Scout von Schalke, einem Vermittler aus Hamburg - und einem Corona-Test.

Sechs Tore und sieben Assists

Ein Freitag mitten im Ulmer Winter. Wenn Leonardo Scienza aus dem Fenster der SSV-Geschäftsstelle blickt, sieht er erst einmal viel Grün, Gras bedeckt die Liegefläche des Schwimmbades am Donaustadion, dessen Lichtmäste dahinter meterhoch in die Luft ragen. Wenn der schussgewaltige Linksaußen die Spielstätte sieht, erfülle ihn das mit Stolz, sagt Scienza. Stolz darauf, als Aufsteiger eine formidable Herbstrunde mit 33 Punkten gespielt zu haben. Und selbst mit sechs Toren, sieben Assists und einem Schnitt von 2,41 der notenmäßig beste Akteur der ersten 20 Partien ist.

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In der Kunst gilt das Fenster als Symbol des Übertritts, als Schwelle, als Tor in eine andere Welt. Der Blick aus dem weiß gestrichenen Gebäude am Ufer der Donau hat jedoch nichts Symbolisches, lässt kaum Deutungen zu. Der Blick aus dem Fenster zeigt die Realität - und die heißt 3. Liga, Top-Werte, Top-Platzierung, Top-Team. Auch, wenn Scienza lange brauchte, um diese neue Wirklichkeit greifen zu können. Denn während seiner Anfänge in Brasilien habe er nie gedacht, einmal so weit zu kommen, habe immer nur Bayern, Dortmund und Schalke verfolgt, ansonsten keinen deutschen Klub gekannt.

Damals, in Venancio Aires, einer Gemeinde im Süden Brasiliens, lebte er mit seinem Bruder, der Mutter und dem Vater in einer Wohnung. Die Gegend am Rio Grande erfuhr vor knapp 200 Jahren Zuwachs - aus dem Hunsrück. Etwa eine Million Menschen nutzt noch jene Sprache, die ihre Ahnen per Schiff nach Südbrasilien gebracht haben. Und eine von ihnen ist Scienzas Uroma. Es sind eher die älteren Menschen, die das Deutsche mit dem stimmhaften Sch-Laut und den weichen Konsonanten noch sprechen. Der Fußballer selbst lernte Deutsch erst als Erwachsener.

"Weschenfelder" passt nicht aufs Trikot

Neben seinem Blut erinnert noch etwas anderes an Scienzas Erbe: der Nachname. Doch der "Weschenfelder" steht zwar in seinem Pass, aufs Trikot passt er aber nicht. "Mir ist das aber trotzdem wichtig", sagt Scienza, der auch im kicker der Einfachheit halber nur mit dem Nachnamen der Seite seines Vaters genannt wird. Seine Mutter, so erzählt er es, habe nachgeforscht, woher der Name stamme, habe ihn bis ins 19. Jahrhundert nachverfolgt. Das Ergebnis: Die Weschenfelders kamen damals, um 1880 herum, von Deutschland über Luxemburg nach Brasilien. Das benachbarte Großherzogtum war aber nur eine Zwischenstation. Geblieben ist das luxemburgische Blut - und damit eine europäische Staatsangehörigkeit. Die hat Scienza heute noch. Für das Nationalteam kann er jedoch nicht spielen, zu viele Generationen liegen laut FIFA-Statuten zwischen Scienza und der Uroma.

3. Liga, FC Viktoria Koeln - SV Ulm 1846 Strafraumszene mit Jeremias Lorch (FC Viktoria Köln, 4), Felix Higl (SSV Ulm 1846, 33), Lamar Yarbrough (SSV Ulm 1846, 25) ; Koeln, 02.12.2023, 17. Spieltag der 3. Liga, FC Viktoria Koeln - SV Ulm 1846 im Sportpark Hoehenberg in Koeln. Die DFL-Bestimmungen verbieten die Verwendung von Fotografien als Bildsequenzen und oder Quasi-Videos. *** 3 Liga, FC Viktoria Koeln SV Ulm 1846 penalty area scene with Jeremias Lorch FC Viktoria Köln, 4 , Felix Higl SSV Ulm 1846, 33 , Lamar Yarbrough SSV Ulm 1846, 25 Koeln, 02 12 2023, 17 Matchday of 3 Liga, FC Viktoria Koeln SV Ulm 1846 at Sportpark Hoehenberg in Koeln The DFL regulations prohibit the use of photographs as image sequences and or quasi videos Copyright: xBEAUTIFULxSPORTS AxelxKohringx

2:0 nach 13 Minuten: Scienza-Traumtor bringt Ulm auf die Siegerstraße

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Nach Europa ging’s nach der Grundausbildung an den Stränden und Turnhallen der Heimat trotzdem - auf Anraten eines Vermittlers in Schwedens 5. Liga. Kein Profisport, kein Zuhause, keine Perspektive. "Eine harte Zeit", sagt Scienza, der sein ohnehin niedriges Gehalt nur in den wenigsten Monaten seines Aufenthaltes bekam. Und dann kam Manni. "Ihm und meinem Berater habe ich am meisten zu verdanken", sagt Scienza. Manfred Dubski, heute 69 Jahre alt, breites Gesicht, zurückgekämmte Haare, arbeitet noch immer als Scout für Schalkes U 23 und verschaffte jenem 22-Jährigen, den ihm sein heutiger Berater empfohlen hatte, ein Probespiel auf Schalke. Die Gelsenkirchner warteten auf einen neuen Spieler, Scienza, es war Mitte 2020, auf das Ergebnis seines Corona-Tests, der ihm die Teilnahme an dem Testspiel ermöglichen sollte. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden - bis zum Beginn der zweiten Hälfte. Dann verfärbt sich ein Stück Plastik blau, und die Ampel für Scienza springt von Rot auf Grün. Ein Tor und eine Vorlage später ist das Probespiel schon wieder vorbei, eine Grätsche, ein Schrei - und eine leichte Verletzung. Scienza humpelt vom Platz. Das hält die Schalker aber auch nicht davon ab, ihm einen Vertrag zu geben.

Magdeburg schnappt zu - und dann Ulm

In der Regionalliga zeigt der Anfang 20-Jährige starke Leistungen, für die erste Mannschaft hat es aber offenbar nie gereicht. Und das, obwohl die Schalker während Scienzas Engagement fünf Trainer verschlissen haben und aus der Bundesliga abgestiegen sind. Sei's drum, das Potenzial war da, das registrierte man auch in Magdeburg. Der Zweitligist holte Scienza, der zwischen 2020 und 2022 zum Schalke-Fan geworden war - und es bis heute blieb.

Nach Sachsen-Anhalt nahm der Linksaußen ein gesundes Selbstvertrauen. Und erstmals auch seinen kleinen Bruder. Der war damals 20, begann eine Lehre im Hotel und spielte ebenfalls Fußball. Allerdings nur in der 6. Liga. Das Problem: Die wurde bald auch für Scienza selbst wieder Realität - obwohl er bei einem Zweitligisten unterschrieben hatte. Dem Vernehmen nach gab es interne Differenzen, zu denen er sich nicht äußert. Zur Reserve wurde er trotzdem geschickt. Den Verantwortlichen in Ulm war's egal. Sie vertrauten auf seinen Charakter sowie seine Fähigkeiten auf dem Feld. Und Scienza fühlte sich in Ulm gut aufgenommen. Heimelig. Er geht aus, lädt seine Freunde und Kollegen zum Fußballgucken ein. Im Januar kommt auch sein Bruder, soll wieder arbeiten, Fußball spielen. Gemeinsam wohnen werden sie allerdings nicht.

Vom Fenster seiner Innenstadt-Wohnung sieht Scienza direkt auf das Ulmer Münster, den höchsten Kirchturm der Welt. Hoch hinaus will auch er selbst. Doch sollte man in dieses Symbol vielleicht nicht zu viel hineininterpretieren.

Michael Postl

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