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Volvo Amazon und S60: Mythos trifft auf Moderne

Eine Volvo-Ikone und ihr Erbe - Automobile Zeitreise

Volvo Amazon und S60: Mythos trifft auf Moderne

Volvo S60 und Amazon: Zwischen beiden Modellen liegen 50 Jahre.

Volvo S60 und Amazon: Zwischen beiden Modellen liegen 50 Jahre. Volvo/Christian Bittmann

Die Überheblichkeit rächt sich schnell. Mit dem Selbstbewusstsein derjenigen, die sich souverän durch die Menüführungen moderner Multimediasysteme touchen und sliden, nehmen wir die spartanische Instrumentierung des Amazon P130 in Augenschein. Drei Regler, vier Knöpfe, das kann ja wohl kein Akt sein! Ein herablassendes Lächeln mögen wir uns somit nicht ganz verkneifen, als wir die Hände ums wagenradgroße Lenkrad legen und zum Schalthebel greifen, der gefühlt im Format eines Skistocks aus dem Getriebetunnel ragt.

Und dann - scheitern wir. Verdammt, wie geht das bloß mit dem Rückwärtsgang! Der Amazon macht es uns nicht leicht, der Arroganz des 21. Jahrhunderts stellt er sich kämpferisch entgegen. Überraschen hätte uns das nicht sollen. Benannt wurde die Volvo-Ikone schließlich nach den Kriegerinnen der griechischen Mythologie - lange bevor das gleichnamige Online-Versandhaus einer Corona-geplagten Menschheit das Weihnachts-Shopping rettete.

Die Kriegerinnen standen Pate

Also alles auf Anfang. Gefühl statt Großspurigkeit, und schon klappt es mit dem Rückwärtsgang. Unser Ikea-Schwedisch hilft beim Identifizieren des Lichtschalters - Ljus, das muss es sein. Die Arbeit der Lüftung unterstützen wir durch Öffnen der hinteren Ausstellfenster. Na bitte, geht doch. Nachdem seine erzieherischen Maßnahmen Wirkung gezeigt haben, erlaubt es der Amazon, dass wir uns entspannt auf den roten Ledersitzen einrichten und den Fahrkomfort würdigen, der auch aus 50 Jahren Abstand und trotz des robusten Starrachs-Fahrwerks gar nicht mal so übel erscheint.

Volvo Amazon P130

Volvo Amazon P130: Die zweitürige Limousine datiert aus dem Jahr 1970. Volvo/Christian Bittmann

Die launige Formulierung "alter Schwede" streichen wir schnell aus der schreiberischen Planung. Denn der Volvo-Oldie hat tatsächlich Respekt verdient. Ausflug in die Geschichte: 1956 feierte der Amazon Premiere, damals noch als Prototyp, die Serienfertigung begann 1957. Nur auf dem schwedischen Heimatmarkt hieß die 4,45 Meter lange Limousine "Amazon", die Exportmodelle firmierten als 121/122S, um Kreidler mit seinem Moped "Amazone" nicht in die Quere zu kommen. Der Viertürer bekam 1961 von einer zweitürigen Limousine (P130) Gesellschaft, 1962 folgte der Kombi P220.

Erster mit Dreipunkt-Sicherheitsgurt

Maßstäbe setzte der Amazon durch sein für damalige Verhältnisse hohes Sicherheitsniveau. Der Armaturenträger war im oberen Bereich gepolstert, die Frontscheibe wies eine Sicherheitsverglasung auf, und ab August 1959 bekam der Amazon als weltweit erstes Fahrzeug einen serienmäßigen Dreipunkt-Sicherheitsgurt.

Cockpit Volvo Amazon

So sahen Lenkräder früher aus: Größe statt Servolenkung. Volvo/Christian Bittmann

1966 wurde das viertürige Modell vom Volvo 144 abgelöst. Der Zweitürer durfte bis zum Produktionsende bleiben, am 3. Juli 1970 lief der letzte Amazon vom Band. Insgesamt wurden in dreizehn Jahren 667.000 Einheiten hergestellt, für die Schweden bedeutete das also auch einen wirtschaftlichen Erfolg.

Bis heute gilt der Amazon als eine Ikone der Volvo-Geschichte. Die vom damaligen, erst 26-jährigen Chefdesigner Jan Wilsgaard entworfene Linienführung mit markantem Kühlergrill und langer Motorhaube sollte sich über Jahre hinweg als stilprägend erweisen, mit ihren serienmäßigen Weißwandreifen und der Zweifarblackierung wurden schon die ersten "Amazonen" zu vielbewunderten Hinguckern.

Freigänger aus dem Museum

Unser zweitüriger Amazon P130 aus dem Jahr 1970 entstammt einer der letzten Auflagen. Ein automobiles Gedicht in Creme, das vom Volvo-Museum in Göteborg zu einem kurzen Ausflug in die Freiheit der Straße entlassen wurde, auf dem Tacho stehen nur 2300 Kilometer. Da wiegt die Verantwortung schwer. Bloß keinen Unfall bauen! Mit erhöhter Wachsamkeit behalten wir das Tun der anderen Verkehrsteilnehmer im Auge und verzichten nicht nur wegen der vernehmlich durchs Cockpit rauschenden Fahrgeräusche darauf, dem 66 kW/90 PS starken Zweiliter-Reihenvierzylinder allzu ambitioniert die Sporen zu geben. Dabei hätte die Maschine buchstäblich leichtes Spiel mit dem Hecktriebler und seinen gerade einmal 1090 Kilogramm Lebendgewicht.

Zurück ins Jetzt

Wir beenden unsere Zeitreise, verlassen den Oldtimer, bemerkenswert satt fallen die Türen ins Schloss. Gleich daneben parkt ein S60, den Volvo als "legitimen Nachfolger des Amazon" betrachtet. Auch sein skandinavisch-elegantes Design sieht gut aus. Aber ob es der Stoff ist, aus dem Legenden werden? Wir steigen ein. Ach, wie leicht Autofahren heute doch ist! Im Cockpit spenden Sitz- und Lenkradheizung wohlige Wärme, was schert uns da das spätherbstliche Schmuddelwetter. Das Audiosystem umfängt mit Konzertsaalklängen, das Navi weist dienstbeflissen den Weg, zahllose Sicherheitssysteme wachen über uns, als wir über den Asphalt gleiten und uns dabei über die Absorptionsfähigkeit des aufwendigen Adaptivfahrwerks freuen.

Volvo S60 B4

Arbeitet mit 48-Volt-Mildhybridsystem: Volvo S60 B4. Volvo/Christian Bittmann

Fein arbeitet die Achtgangautomatik, kurzer Joystick-Wahlhebel statt Schaltstock, der 145 kW/197 PS starke Reihenvierzylinder-Benziner erfährt elektrische Unterstützung durch ein 48-Volt-Mildhybridsystem. Und obgleich 1756 Kilogramm schwer, verbraucht der S60 B4 viel weniger als der Amazon - dem Normwert von 6,2 l/100 km stehen 9,0 l gegenüber.

Früher war nicht alles besser

Nein, früher war keineswegs alles besser. Gut, dass die Zeit nicht stehengeblieben ist. Nur eines hat sich gar nicht so sehr geändert: Nominell schafft der Amazon eine Spitze von 160 km/h, die Tachoskala reicht bis 180. Genau jenes Tempo, auf das Volvo auch seine modernen Modelle inzwischen eingebremst hat.

Ulla Ellmer

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